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Anita Busch hatte es sich längst abgewöhnt, abends auf ihren Mann zu warten. Ihr Bitten und Drängen um Angabe eines Zeitrahmens oder um einen kurzen Anruf, wenn abzusehen war, dass er wesentlich später kommen werde, war wieder und wieder mit freundlicher Bestimmtheit von ihm zurückgewiesen worden. Ein Beamter in seiner Position könne diese Bedingung einfach nicht erfüllen. Ihre Erwartung und seine Ablehnung hatten sich jedoch im Laufe der Jahre nicht zu einem jener emotionslosen Rituale entwickelt, die es in langjährigen Ehen gibt. Im Gegenteil: Anita hatte bemerkt, wie sie die unerschütterliche Einstellung ihres Mannes zunehmend in einem Maße als kränkend empfand, das weit über den Anlass hinausging. Als sie sich schließlich eingestand, dass sie die Arbeitsteilung und die herausgebildeten Gewohnheiten in ihrer Ehe nicht mehr als vernünftig, als "der Natur der Sache" gemäß akzeptierte, dass vielmehr ein Gefühl der Beklemmung die Oberhand zu gewinnen drohte, hatte sie mit großer Energie ihren eigenen Tagesablauf weitgehend von dem ihres Mannes abgekoppelt, um sich aus dieser Art von Ehefalle zu befreien, bevor sie endgültig zuschnappte.

Es war ihr gelungen, bei der Bonner Volkshochschule zwei Kurse zu platzieren, die inzwischen seit fünf Jahren in jedem Semester angeboten wurden. Als Dozentin bediente sie sich ihres Geburtsnamens Dreyer ohne Bindestrich-Zusatz. Vielleicht um das Wiedereintauchen in eine durch Ehe und Familie weggedrängte Sphäre auch äußerlich zu demonstrieren, vielleicht um Reibungen mit der Berufssphäre ihres Mannes zu vermeiden. Die Hörerzahl hatte zwar nie ihre hohen Erwartungen erfüllt, aber bisher in jedem Semester ausgereicht, um die Kurse bis zum Ende durchzuführen. Die von ihr vorgeschlagenen nüchternen Kursbezeichnungen - Einführung in die Philosophie I und II - waren genauso wie die kurzen unspektakulären Inhaltsangaben im Programmheft von der für den Fachbereich zuständigen hauptberuflichen VHS-Mitarbeiterin akzeptiert worden und Semester für Semester unverändert geblieben.

Nach Abschluss des zweiten Kurses wurde Anita Dreyer regelmäßig von den Hörerinnen und Hörern bedrängt, zusätzliche Kurse zur Erweiterung und Vertiefung anzubieten. Sie hatte diesem Drängen stets widerstanden. Zum einen wollte sie ihre Freiheit nicht weiter durch regelmäßige Verpflichtungen einschränken. Hinzu kam - oder es war sogar ausschlaggebend für Anita -, dass sich ihre Einstellung zur Philosophie im Laufe ihres Studiums, der langjährigen Arbeit an ihrer Dissertation und an der dann aus familiären Gründen nicht beendeten Habilitationsschrift grundlegend geändert hatte. Beim Beginn des Studiums und in den ersten Semestern hatte sie geglaubt, durch systematisches Hören, Lesen und Nachdenken schließlich einen Wissens- und Bewusstseins stand zu erreichen, der ihr ein gehöriges Maß von Sicherheit garantierte. Sicherheit nicht nur bei der Einordnung von Phänomenen in der Landschaft des Geistes, sondern auch bei der Bewältigung von aktuellen Problemen des Individuums Anita Busch, geborene Dreyer - Problemen in Zeit und Raum mit ihrer konkreten sozialen Umwelt ebenso wie Problemen mit sich selbst. Etwa ab dem fünften Semester hatte sich jedoch ein vages Gefühl von Enttäuschung und Frustration eingeschlichen, das sich auch im Verlauf der weiteren zehn Semester nicht ganz verloren hatte. Obwohl sie andererseits zunehmend die geistige Erfahrung genoss, selbst komplizierteste und aberwitzige Gedankenkonstruktionen nachvollziehen und erklären zu können, ohne sich voll damit zu identifizieren, genügte ihr diese Art der Beschäftigung mit Philosophie nicht ein für allemal. Ihre alten Erwartungen und diffusen Sehnsüchte tauchten immer mal wieder in ihren Gefühlen und Gedanken auf. Schattenhafte Phantome, die wie vertriebene böse Geister nicht abließen, mit List und Tücke zu versuchen, sich wieder in ihrer alten Wohnstätte einzunisten: Totalerkenntnis, Endgültigkeit, Ausschließlichkeit, Ganzheitlichkeit, Wahrheit - Wörter, deren Anspruch sie im Laufe ihres Studiums von Semester zu Semester zunehmend als unerfüllbar und deshalb gefährlich erkannt zu haben glaubte, hatten ihre magische Wirkung nie ganz verloren. Und nun saßen da ihre Hörerinnen und Hörer und brachten ganz unbefangen gerade diese Erwartungen mit in den Hörsaal.

Dass der innere Druck schließlich ein originelles und gleichermaßen heikles Ventil gefunden hatte, war für Anita ein Höhe- und Wendepunkt ihrer Dozententätigkeit gewesen. Und nicht nur das.

Für das Wintersemester 1996/97 hatte sie ihrer Spartenleiterin einen Kurs angeboten, der vollkommen aus dem Rahmen des üblichen fiel. Seit ihrer Pubertätszeit hatte sie gelegentlich eine Neigung gespürt, "etwas ganz anderes" zu machen, zu provozieren, die Ordnung auf den Kopf zu stellen oder aller Welt zu verkünden, auch die modernen Kaiser seien so nackt wie einer nur nackt sein kann. Viele Jahre hatte sie diese Neigung erfolgreich unterdrückt, weil sie wusste, dass die von ihr vorrangig erwünschte Sicherheit in einer bürgerlichen Ehe und Familie radikal in Frage gestellt würde, wenn sie sich auch nur gedanklich dem Reiz zu solchen Provokationen aussetzte. Seitdem alle drei Kinder auswärts studierten und es ihr gelungen war, ihren bis dahin durch die altgewohnte Arbeitsteilung verwöhnten Ehemann auf eine neue Qualität des Familienlebens, wie sie das nannte, einzustellen, hatte die Stärke dieser Neigung jedoch wieder zugenommen. Sie war sich dieses Drängens bewusst, wenigstens einmal in aller Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Folgen alles das auf den Punkt zu bringen, was sie als Ergebnis ihres philosophischen Denkens ansah, gab ihm aber zunächst nicht nach. Dass die Idee ausgerechnet an einem Stammtisch Gestalt angenommen hatte, gab dem Projekt nach ihrem Gefühl noch einen Schuss geistiger Anrüchigkeit.

Während einer langweiligen Phase eines Dozentinnen-Stammtisches hatte Anita ihre Aufmerksamkeit einem Nachbartisch zugewandt, an dem eine Gruppe von Frauen in den mittleren bis gehobenen Jahren in einem beiläufigen, gelegentlich allerdings durch kollektive Heiterkeitsanfälle aufgemischten Tonfall ausschließlich Erfahrungen über den Umgang mit Männern auszutauschen schienen. Dieses wenig originelle Thema hätte Anita normalerweise nicht länger als zwei Minuten interessiert, wenn ihre Witterung nicht irgendeine besondere Qualität der Situation aufgenommen hätte. So hörte sie eine ganze Weile möglichst unauffällig hin. Es war nicht der Inhalt des Gesprächs, sondern die Kombination von Inhalt und Tonfall, die sie faszinierte. Die Witze, Anekdoten und Meinungsäußerungen über Männer wurden vorgetragen wie Mitteilungen über Einkaufserlebnisse auf dem Wochenmarkt. Die plötzlichen Heiterkeitsausbrüche dazu wirkten dann eigenartig dissonant - als ob ein unsichtbarer Dirigent den falschen Instrumenten das Einsatzzeichen gegeben hätte.

Als eine etwa Sechzigjährige, die mit ihrem markanten Gesicht zurückhaltend aber eindrucksvoll zu spielen verstand, in die Ruhe nach dem Verebben eines dieser sporadischen Kollektivgelächter mit angenehmer Altstimme bemerkte, "ja, ja, die schlechtesten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen", begann Anita Dreyer mit dem Gedanken zu spielen, auf irgendeine Weise Kontakt zu der benachbarten Frauengruppe aufzunehmen. Zufällig oder geplant - wer will das entscheiden! - traf sie die Bürger-Kennerin danach im Waschraum und sprach sie kurzentschlossen an. Das weitere lief wie lange vorprogrammiert. Mühelos wechselte sie von dem einen zum anderen Stammtisch, ohne ihre Kolleginnen zu verprellen. Herrlich locker beteiligte sie sich an dem Spontanspiel. In dieser Stimmung hatte sie plötzlich die Idee des ganz besonderen VHS-Kurses im Kopf. Und sie war noch nicht Zuhause angekommen, als sie bereits die Grundstrukturen entworfen hatte. Bei der Realisierung ihrer Idee erlebte Anita Dreyer ein neues Hochgefühl der Mühelosigkeit, obwohl es einige Klippen zu umschiffen galt. Die gefährlichste Klippe war die Kursbeschreibung im Programm der VHS. Es galt die heikle Balance zwischen dem an der VHS Üblichen und einer hintergründigen Attraktivität zu halten. Anita kalkulierte dabei die Intelligenz und den Toleranzrahmen ihrer Spartenleiterin genau richtig ein. Der von ihr vorgeschlagene Text ging trotz seiner ungewöhnlichen Länge unverändert in Druck.

Dr. Anita Dreyer

Vielfalt der Philosophie - Vielfalt des Lebens - Vielfalt der Liebe

(Wider den Wahn der Ganzheitlichkeit oder: der Flickenteppich als Lebensmuster)

Mehr als dreitausend Jahre haben die Philosophen nach "der Wahrheit" gesucht. - Sie haben sie nicht gefunden. Jeder noch so großartige philosophische Versuch, alle Phänomene des Seins, des Fühlens und des Denkens in einen sinnhaften Zusammenhang einzuordnen, ist schließlich gescheitert. Die "Wahrheit" des einen wurde durch die "Wahrheit" des anderen verdrängt. Oder verschiedene "Wahrheiten" blieben unvermittelt nebeneinander stehen. Die zeitgenössische Philosophie ist bescheiden geworden. Sie hat die Suche nach der Wahrheit im Sinne eines ganzheitlichen Gedankengebäudes (fast) aufgegeben. Indem sie aber das Wissen über all die kühnen oder schwerfälligen Konstruktionsversuche bewahrt, kritisch vergleicht und vorurteilsfrei vermittelt, erbringt sie eine zivilisatorische Leistung: Sie bietet jedem einzelnen die Möglichkeit an, sich aus der großartigen Vielfalt von Konstruktionen des spekulativen menschlichen Geistes Teile zu entnehmen und damit sein eigenes Erklärungsmuster - seine individuelle Wahrheit also - zusammenzusetzen.

Im ersten Teil des Kurses soll den Hörerinnen und Hörern deutlich gemacht werden, dass der Verlust des Glaubens an d i e W a h r h e i t notwendig ist, um die unendliche Freiheit des Geistes zurückzugewinnen. In das Alltagsleben übertragen, fördert die konsequente Aufgabe des objektiven Wahrheitsanspruchs nicht nur die Toleranz, sondern führt auch zu größerer Gelassenheit. Und das Leben wird auf eine neue Weise spannend, wenn der einzelne Mensch sein individuelles Erklärungsmodell mit Versuch, Irrtum und immer wieder neuen Versuchen gestaltet.

Im zweiten Teil des Kurses soll eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen versucht werden, das in unserer Zeit mit dem Schlagwort Esoterik umschrieben zu werden pflegt. Wo die Philosophie in weiser Selbstbeschränkung zurückgewichen ist, versucht die Esoterik Raum zu gewinnen. Zwar können auch in diesem Kurs die zahllosen Methoden der Sinnsuche nichtphilosophischer Art und die mit dem Anspruch der Ganzheitlichkeit angebotenen angeblichen Lebenshilfen nicht einmal ansatzweise behandelt werden. Jedoch soll dargestellt werden, worin die Faszination und die Problematik dieser "Angebote" besteht. Wo die philosophische Erkenntnis, dass das Leben gerade nicht "ganz" ist, sondern ein bunter Flickenteppich, den Menschen hilft, die unauflösliche Spannung zwischen dem Individuum und der Welt auszuhalten, bietet die Esoterik angeblich eine Auflösung der Spannung an. Kann die Spannung zwischen Individuum und Welt durch irrationale Vorgänge in der Art einer "Verschmelzung" aufgelöst werden oder muss jeder einzelne Mensch sie auf seine Weise bewusst aushalten und möglichst als Antrieb zu einer konstruktiven Lebensgestaltung benutzen?

Im dritten Teil des Kurses sollen diese miteinander unvereinbaren Lebenshaltungen anhand konkreter Situationen beispielhaft dargestellt werden, wobei der Schwerpunkt auf dem Gebiete der intensivsten zwischenmenschlichen Beziehungen (Freundschaft, Liebe, Sexualität) liegen wird. Die Interessenten an dem Kurs sind aufgefordert, im dritten Teil in gesteigertem Maße durch vorbehaltslose Meinungsäußerungen und möglichst auch Mitteilung von Erfahrungen den Kurs mitzugestalten.

Zum Abschluß soll versucht werden, mit einem in jeder Hinsicht unlimitierten öffentlichen Streitgespräch zwischen den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern einerseits und interessierten Außenstehenden andererseits in Bonn über den Bereich der Volkshochschule hinaus einen dauerhaften Diskurs über zentrale Fragen des Menschseins in der heutigen Zeit zu eröffnen.

Die Anmeldungen zu diesem Kurs überschritten bei weitem die höchstzulässige Teilnehmerzahl von dreißig, so dass zahlreiche Interessenten auf ein späteres Semester vertröstet werden mussten. Die sechs Teilnehmerinnen vom Stammtisch "die Konsequenten", zu deren siebten Mitglied Anita noch an jenem Abend ernannt worden war, nahmen geschlossen an dem Kurs teil und verschafften Anita von Anfang an das Echo, das jeder Dozent braucht wie das Baby die Muttermilch. Dabei beschränkte sich die Rolle der Stammtischschwestern im ersten Teil des Kurses hauptsächlich darauf, hartnäckig Fragen zu stellen. Die Mitglieder des Stammtisches zwangen Anita durch ihre Art des unbefangenen Fragens, ihre Fachkenntnisse in einem ihr ungewohnten Maße populär zu formulieren. Andere Kursteilnehmer erwiesen sich als philosophisch vorgebildet und forderten Anita ernsthaft fachlich heraus. So entstand von Anfang an ein Kursklima, das Anita als aufregend, anregend und gelegentlich sensationell empfand.

Im zweiten Teil gab es - gerade mit Mitgliedern des Stammtisches - teilweise heftige Diskussionen. Nicht jede war bereit, ihre individuelle Methode des Mitschwimmens im Gegenwartsstrom radikal der Vernunft auszusetzen. Und doch gelang es Anita zu ihrer eigenen Verwunderung, jeden beginnenden Glaubensstreit so rechtzeitig in Einzelbestandteile aufzulösen, dass niemand sich verbittert in den Winkel der Unverstandenen zurückzog.

Eine besondere Wendung erfuhr der Kurs durch die Taxifahrerin und - wie sie selbst sich zu bezeichnen pflegte - Lebensgestaltungskünstlerin Liesel Schmitz. Die Mitdreißigerin, deren Lebensmaxime und besonderes Temperament Anita vom Stammtisch her inzwischen zu kennen glaubte, hatte sich in den ersten acht von zwölf vorgesehenen Doppelstunden nicht mit Fragen oder Diskussionsbeiträgen beteiligt. Am vorletzten Kursabend gab sie plötzlich ihre Zurückhaltung auf und überrumpelte Anita und den ganzen Kurs mit dem Vorschlag, ein von ihr ausgewählter Kursteilnehmer möge sich zu Beginn ihren Fragen, dann den Fragen der anderen zweiundzwanzig Kursteilnehmerinnen und schließlich auch den Fragen der sechs anderen männlichen Kursteilnehmer stellen. Da niemand sofort widersprach, griff sie sich einen etwa fünfzigjährigen hageren Vollbartträger, der nicht nur durch seine sanften Augen und die versonnene Zärtlichkeit, mit der er immer wieder seine dicken Brillengläser zu putzen pflegte, aufgefallen war, sondern auch durch seine wohltemperierten und wohlformulierten Sätze, mit denen er die Diskussion gelegentlich in die ihm wichtige Richtung zu lenken verstanden hatte. Überraschenderweise sträubte er sich nicht im Geringsten, sondern schien sogar begierig, an dem Experiment aktiv teilzunehmen.

Liesel Schmitz attackierte ihn mit ihrer ersten Frage frontal: "Liebe ist wie Arbeit. Arbeit ist wie Liebe. Was hältst du davon?"

"Nichts - oder meinst du Sex statt Liebe?"

"Aha, Sex ist dir also wie Arbeit. Oder Arbeit wie Sex?"

"Mal so - mal so."

"Aha!"

"Was meinst du mit aha?"

"Mit aha meine ich aha."

"Aha!"

"Ist das hier ein Kabarett? Komm schon, erzähl uns von deinem Intimleben im Ministerium. Wann befriedigt dich deine Arbeit restlos?"

"Wenn die Lösung der Aufgabe nach meiner Einschätzung von großer Bedeutung ist, ich möglichst viele meiner Kenntnisse und Erfahrungen verwerten kann und ein tadelloses Ergebnis nach meinem immer im Hinterkopf mitlaufenden Zeitrechner in angemessener Zeit vorliegt."

"So etwas gibt es in deinem Ministerium?"

"Ja, hin und wieder."

"Und wie hältst du es mit dem Vorspiel?"

"Vorspiel? - Gut, meinetwegen: ich streiche eine Weile um die Arbeit herum, taste mich langsam heran, lasse mich immer wieder ablenken, mache zwischendurch unwichtige Sachen, finde vermeintliche Grundsatzfragen und vertiefe mich in Fachliteratur. Mein Vorspiel dauert meistens viel länger als das eigentliche Spiel."

"Und hinterher? Wie lässt du deine Befriedigung ausklingen? Machst du ein Nickerchen auf dem Bürostuhl? Klopfst du dir selbst auf die Schulter? Trinkst du ein Glas Sekt oder einen Kognak? Beglückst du Kolleginnen und Kollegen mit deiner euphorischen Stimmung? Stürzt du dich gleich auf die nächste Aufgabe?"

"Wenn ich Zeit habe, klopfe ich mir eine Weile symbolisch auf die Schulter, lese mein Produkt und male mir aus, welche Wirkungen es auf die verschiedenen Empfänger haben wird und träume womöglich von größeren Herausforderungen. Über kurz oder lang holt mich das graue Einerlei auf Normalgröße zurück."

"Du bist verdammt ehrlich! - Wo siehst du den Unterschied zum Sex?"

"Da fühle ich mich nicht so kompetent. Eher unteres Mittelmaß. Es bleibt meistens mehr Rest."

"Rest?"

"Du weißt schon, die Differenz zwischen Erwartung und Erfüllung."

"Klingt schon schön philosophisch. Du hast dich also damit abgefunden - warum?"

"Erstens hab ich das nicht und zweitens geht mir das jetzt zu weit."

Liesel Schmitz schien nicht verblüfft über diesen Verstoß gegen die Spielregeln. Nach kurzem souverän wirkendem Schweigen eröffnete sie die Fragerunde für die übrigen Teilnehmerinnen.

Das Frage- und Antwortspiel gewann sehr bald an Fahrt. Die Teilnehmerinnen nahmen zunächst Rücksicht auf die Empfindlichkeit des männlichen Fragesubjekts, tasteten sich aber allmählich wieder an das heikle Thema heran. Er schien während der Befragung in einem Nebengelass seines Gehirns über seine unelegante Replik nachgesonnen zu haben und ging schließlich zur Wiedergutmachung selbst in die Offensive: "Einen kurzen Augenblick untrennbarer Teil des Urschleims sein oder meinetwegen des Urlichts. Dann wieder ein separater Körper in einer Welt der Gegenstände. Wer diesen Wechsel nur toll findet ... na ja, ich enthalte mich eines Urteils!"

Liesel Schmitz fand dies eine typisch männliche Betrachtungsweise und entschied sich, die Diskussion jetzt auch für die Minorität der männlichen Teilnehmer zu eröffnen. Während sie einen Blick in die Runde warf, merkte sie plötzlich, wie sie von einem unbehaglichen Gefühl angefallen wurde. Wieder einmal konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der jüngste Teilnehmer des Kurses, nach seinen eigenen Angaben ein dreiundzwanzigjähriger Student der Zahnmedizin mit Nebentätigkeit bei einer der in den letzten Jahren gegründeten privaten Rundfunkanstalten, sie anscheinend eindeutig lüstern betrachtete. Als sie dann feststellte, dass seine linke Hand nicht zu sehen war, besann sie sich auf ihre poetischen Fähigkeiten und deklamierte wütend - für die übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer völlig zusammenhanglos - während sie ihn fixierte: "Wer jetzt nicht spricht und lieber glotzt und fummelt, der ist im Kopf nicht dicht und hat den Kurs verbummelt."

Sie sah noch, wie er über und über rot wurde und seine Hand wie ein braves Kind auf den Tisch legte. Dann erteilte sie dem Teilnehmer, dessen Wortmeldung sie als erste registriert hatte, das Wort. Es entwickelte sich sofort eine lebhafte Diskussion zwischen den Männern, ob eher das Bild vom Urschleim oder das vom Urlicht - wozu einer die Zuspitzung Urblitz vorschlug - passend sei.

Anita versuchte die Diskussion der Männer mit ihrem philosophisch geschulten Verstand zu analysieren, beobachtete gleichzeitig die wachsende Verblüffung und Unruhe der weiblichen Teilnehmer und spürte wie bei sich selbst ein aus tiefen Schichten aufsteigendes Unbehagen mit einer aus noch tieferen Schichten nachdrängenden Faszination in Streit geriet. - Die typische Flucht der Männer in die Abstraktion - nur nicht Farbe bekenne - idiotische Überhöhung eines der schlichtesten Naturvorgänge - Urschleim, Urlicht, Urblitz: absurde Unangemessenheit - kleines Flackerlicht sieht sich als Bestandteil eines unendlich weiten Lichts - Wahnsinn? Hybris? Dummheit? - sollte mein Kurs das bringen? - meine eigenen tiefen Sehnsüchte - nicht leugnen, dass es nicht glücklich macht, sich als Einzelwesen zu sehen, dessen Existenz für niemanden und nichts lebenswichtig und nur für ganz wenige bedeutsam ist - aber wenn man davon überzeugt ist, sollte man auch danach leben - der Zusammenhang mit dem Sex? - dein eigener Köder in der Kursbeschreibung - die Suche nach immer mehr Intensität, nach dem totalen Erlebnis - aber der Kosmos muss nicht mitschwingen - die Erwartungen korrigieren - das mir gemäße Maß finden - den Mythos in Schranken weisen - unnötige Dramatik vermeiden - jetzt auf die Diskussion konzentrieren - die Frauen wieder einbeziehen.

Bevor Anita eine angemessene Methode gefunden hatte, die Diskussion der Alleinherrschaft der männlichen Teilnehmer zu entreißen, fuhr Petula Schillingsteg dazwischen und brachte auf ihre von Anita bereits am Stammtisch bewunderte schnörkellose Art die Männer zum Schweigen. Für Anita war sie nicht nur diejenige Frau, deren Ausstrahlung sie damals von Stammtisch zu Stammtisch gespürt und mit der sie sich im Waschraum der Damentoilette so unkonventionell schnell verständigt hatte, sondern immer noch oder immer wieder ein Forschungsobjekt. Sie hatte etwas Außergewöhnliches in ihrer Erscheinung und ihrem Verhalten, das sich einer schnellen Analyse entzog. Anita hatte sich auch bald mit der ihr eigenen Offenheit eingestanden, dass sie diese Frau gerne über die herzliche Stammtischatmosphäre hinaus als Freundin im besten Sinne gewinnen würde.

Petula Schillingsteg hatte eine Sprechtechnik, die es ihr erlaubte, ohne erkennbare Anstrengung von allen im Raum gehört zu werden. "Wenn ich gleichzeitig Lust, Zeit und Geld habe, was nicht zu häufig vorkommt, genehmige ich mir eine ganze Nacht mit einem first-class-callboy. An dem ist alles, aber auch wirklich alles Gardemaß, und er ist ein Profi im besten Sinne. Ich fordere alles was geschäftsüblich ist von ihm - nichts weniger und nichts mehr. Er bringt immer hundert Prozent Leistung. - Na ja, fast immer. - Da gibt es nichts ernsthaft zu reklamieren. Er erhält sein Spitzenhonorar und ein freundliches Dankeschön, wie jeder Dienstleistende, der seiner Profession entsprechend ordentlich für mich arbeitet. Und damit hat es sich. Ich verzehre mich so wenig nach ihm wie nach meiner Friseuse oder meinem Zahnarzt."

Sie machte eine kurze rhetorische Pause und fuhr dann in einem ganz leicht forcierten Tonfall fort: "Ich weiß nicht, warum man das Eckige rund haben will und das Befristete ewig. Wir sind doch keine Kinder mehr, die ständig ihre Lieblingsspeise essen wollen. - Urschleim und Urblitz - Männerblödsinn der siebten Art. Lasst euch lieber etwas einfallen, ihr wortgewaltigen Männer, wie ihr die Sache mit eurer jeweiligen Partnerin - meinetwegen auch mit eurem Partner - heiter angeht, betreibt und durchzieht. Was wir hier diskutieren sollten, ist nicht, wie man seine kindlichen Träume nach immer mehr, immer schöner, immer besser, immer länger erfüllt bekommt, sondern, wie man als kultivierte Frau - Entschuldigung, als kultivierter Mensch - mit Ecken und Kanten in einer eckigen und kantigen Welt sein Vergnügen findet. Guckt euch eure Kinder oder Enkelkinder an, die von angeblich klugen Greisen als Hedonisten beschimpft werden. Lernt von ihnen den Augenblick zu genießen und macht von eurer größeren Lebenserfahrung so Gebrauch, dass der Genuss nicht fad und langweilig wird."

Wieder legte sie eine rhetorische Pause ein und fuhr dann in ihrer ruhigen Tonlage fort: "Ich will nicht unendlichen, vollkommenen Genuss, sondern stelle den Anspruch, dass alle Beteiligten auf der Höhe der Zeit sind. Ich verlange von meinen Mitmenschen eine unserer Intelligenz und unserem Entwicklungsstand gemäße Fortentwicklung aller schönen Spiele, aber auch eine Fortentwicklung des Bewusstseins, dass von diesen Spielen nicht Tod und Leben abhängen und dass es auch hier nicht nur eine einzige Spielklasse gibt, sondern unüberschaubar viele. Man kann sein Leben lang in derselben Klasse spielen, kann absteigen und aufsteigen und wieder absteigen. Alles bleibt ein Spiel, das in jeder Klasse seine Reize hat."

Ehe eine andere Teilnehmerin das Wort ergreifen konnte, schien sich Petula neu zu besinnen und ergänzte: "Und noch eine letzte Bemerkung zu diesem schönen Thema: Nichts ist für die Spiellust so verheerend, wie es die Missverständnisse über die Spielklasse sind. Wenn der eine in der Kreisklasse spielt und der andere glaubt, in der Bundesliga zu spielen, kann das nicht lange gutgehen. So, ich, Petula Schillingsteg, habe gesprochen. Nun lasst hören, was ihr zu sagen habt."

Verrückt in Bonn

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