Читать книгу Aufregend war es immer - Hugo Portisch - Страница 10
Wir lesen uns etwas vor Angekommen in der »Tageszeitung«
ОглавлениеAm 2. Januar 1948 betrat ich das Redaktionszimmer der Wiener »Tageszeitung«, das für die nächsten vier Jahre mein berufliches Zuhause sein würde. In diesem einen Zimmer war die gesamte Auslandsredaktion der Zeitung untergebracht. Es war nicht sehr groß, und doch standen hier drei Schreibtische und zwei Schreibmaschinen-Tischerl. Begrüßt wurde ich von zwei Damen und zwei Herren. Die Herren hießen Karl Polly und Hans Dichand, die Damen Prerovski und Smoliner.
Polly war der Chef, ein Herr mittleren Alters. Von dem schweren Schicksal, das er hatte, erfuhr ich erst im Laufe der Zeit. Im Jahre 1938 hatte sich Polly als Legitimist (Monarchist) im Widerstand gegen Hitler und gegen den »Anschluss« betätigt. Von der Gestapo aufgespürt, wurde er vor Gericht gestellt, verurteilt und verbrachte die sechs Jahre bis zum Kriegsende in einem Münchner Gefängnis. Befreit und heimgekehrt, arbeitete er wieder als Redakteur und leitete jetzt in dieser Zeitung das Ressort Auslandspolitik.
Hans Dichand, bedeutend jünger als Polly, kam aus Graz, wo er beim Britischen Nachrichtendienst untergekommen war, dem Pressedienst der britischen Besatzungsmacht in der Steiermark. Er war daher hier schon als ausgebildeter Redakteur anerkannt. Ich nicht. Mir stand nur der im Kollektivvertrag für Journalisten vorgesehene Einstiegstitel zu: »Redaktionseleve im ersten Jahr«. Kein Witz, das hieß so. Die beiden Damen waren Sekretärinnen, jedoch nur mit der Aufgabe betraut, die Schreibarbeiten für die drei Redakteure zu erledigen. Wie sich herausstellte, war das für mein weiteres Journalistenleben von größerer Bedeutung. Denn zu meiner Überraschung schrieb keiner der beiden anderen Herren seine Berichte und Kommentare selbst auf der Schreibmaschine, sie diktierten sie einer der beiden Sekretärinnen. Und das wurde auch von mir so erwartet. Das aber setzte voraus, wie mir schnell bewusst wurde, dass man alle seine Gedanken schon parat haben musste, ehe man zu diktieren begann, sonst musste man lange Gedankenpausen einlegen, was Zeit kostete und ein wenig peinlich war. Aber das war trainierbar, wie mir Herr Polly klarmachte, und – wie ich merkte – tatsächlich erlernbar.
Dichand und ich betrieben auch bald ein Training anderer Art. Wir lehrten uns gegenseitig Journalismus. Denn im Grunde genommen hatten wir ja beide sehr wenig Erfahrung auf diesem Gebiet. Dichand war ein gelernter Buchdrucker. Dieses Handwerk hatte er von der Pike auf gelernt, er war Lehrling, wurde nach der Art der Buchdrucker durch »Gautschen« – bei diesem Brauch wurde man in ein Fass von Wasser getaucht – zum Gesellen befördert. So erzählte er es mir mit Freude und Stolz. Dichand war ein guter Erzähler, seine Geschichten waren spannend und unterhaltsam. Er hatte für sein Alter schon viel erlebt, wurde ganz jung zur deutschen Marine eingezogen, doch aufgrund seiner Italienischkenntnisse als Verbindungsmann auf einem italienischen Zerstörer eingesetzt. Seine historische Tat in dieser Zeit setzte er, als Italien 1943 kapitulierte und er den italienischen Kapitän dazu brachte, sich weder den Briten zu ergeben noch für Mussolini weiterzukämpfen, sondern Mallorca anzulaufen und sich dort von den Spaniern entwaffnen zu lassen. Seine Bildung, so Dichand, erwarb er, indem er in seiner Lehrzeit als Buchdrucker sämtliche die Druckerei passierende Bücher las.
Das verband uns: Wir lasen und bewunderten die Texte großer Schriftsteller. Da hatten wir viel nachzuholen. Denn an einige kamen wir erst jetzt heran: Ernest Hemingway, John Steinbeck, Jack London, aber auch Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky und – für uns der größte – Stefan Zweig sowie noch viele andere. Wir lasen sie daheim und meist in der Nacht. Am nächsten Vormittag zitierten wir die Textstellen, die uns besonders imponiert hatten, und lernten daraus.
Auch waren wir das Redaktionszimmer, in dem am lautesten diskutiert wurde, was die Kollegen in den Nachbarräumen immer wieder so störte, dass sie bei uns die Tür aufrissen und »Ruhe« riefen. Was uns so aufregte, waren die Ereignisse der Tagespolitik. Wir nahmen nichts gelassen hin. Zu allem hatten wir unsere Meinung und die tauschten wir lebhaft aus. Natürlich ging es immer wieder um die Haltung und die Taten der Besatzungsmächte, die ja nicht nur den österreichischen Alltag beeinflussten, sondern auch die Weltpolitik gestalteten. Und was Dichand und mich sehr beschäftigte, war die Frage, wie es mit Europa weitergehen werde.
Winston Churchill, der Premierminister, der Großbritannien durch den Krieg geführt hatte, hielt in Zürich eine Rede, die uns den Atem anhalten ließ: Europa werde nur dann eine große Zukunft haben, wenn es zur Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland komme. Diese Aussöhnung sei die Voraussetzung für die Errichtung der »Vereinigten Staaten von Europa«. Welch eine Vision! Und wie unglaublich sie doch klang, so kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in Anbetracht des gegenwärtigen Zustands Europas. Aber wie sie uns gerade deshalb begeisterte! Ja, das war der Weg, der Ausweg aus dem Zustand, in dem sich Europa und wir uns alle noch befanden, darin waren Polly, Dichand und ich uns einig. In diesem Redaktionszimmer der Wiener »Tageszeitung«.
Hier gab es auch andere Gespräche, eines, an das ich mich auch gut erinnere. Es wurde zwischen Dichand und Frau Prerovski geführt. Frau Prerovski war vor dem Krieg die Sekretärin des letzten Chefredakteurs der »Kronen Zeitung« gewesen. Sie schwärmte von dieser Zeit und schilderte die großen Erfolge dieser Zeitung in hellen Farben. Dichand war ein aufmerksamer Zuhörer und erklärte einige Male: »Die ›Kronen Zeitung‹, die müsste man neu gründen!« Und ich glaube, dass das damals schon sein Vorsatz war.
Ich werde noch schildern, wie es dann tatsächlich zur Gründung der »Kronen Zeitung« durch Hans Dichand kam. Aber wenn ich mich jetzt an unsere Diskussionen und unsere Europaträume erinnere, dann denke ich auch an das letzte Gespräch, das ich mit Hans Dichand hatte, bevor er starb. Wie war das zu vereinbaren, jenes Europa, das wir uns so wünschten, und der scharfe Kurs gegen die Europäische Union, den Dichand in der »Kronen Zeitung« eingeschlagen hatte? Seine Begeisterung für Europa, sagte Dichand, habe nie nachgelassen, sei heute so lebendig wie damals, doch mit der Union sei man, seiner Meinung nach, den falschen Weg gegangen.
Meine etwas heftig vorgetragene gegenteilige Meinung ertrug Dichand mit einem milden Lächeln. Da erinnerte ich mich: Dich and hatte die Gabe, für das, was ihn sein untrügliches »G’spür« für das Populäre vertreten ließ, jeweils eine Erklärung zu entwickeln, warum das auch richtig und rechtens sei. Und das vertrat er dann hartnäckig.
Die Wiener »Tageszeitung« gab es erst kurze Zeit. Sie wurde auf Wunsch Julius Raabs gegründet, der Präsident der Bundeswirtschaftskammer war. Ihm schwebte eine Zeitung vor wie die in der Schweiz erscheinende »Die Tat«, ein modern gestaltetes Blatt, liberal und international ausgerichtet, vor allem aber den schweizerischen Wirtschaftsinteressen dienend. Wie in der »Tat« gab es auch in der »Tageszeitung« nicht nur den Leitartikel, sondern auf Seite drei eine Spalte, in der drei bis vier Stellungnahmen zu aktuellen Tagesthemen erschienen – Polly nannte sie »Glossen«. Viele von ihnen galten Weltereignissen und der Politik der Besatzungsmächte, und diese Glossen wurden von der außenpolitischen Redaktion erstellt, hauptsächlich von Dichand und mir. Eine journalistische Spielwiese, wie sie nur wenigen Anfängern in diesem Beruf damals und bis heute geboten wurde und wird.
Ereignisse, über die zu berichten war, gab es genug. Europa und mit ihm Österreich steuerten auf den ersten Höhepunkt des Kalten Krieges zu. Der Marshallplan war angelaufen und sah, wie berichtet, eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit aller am Plan teilnehmenden europäischen Staaten vor. Diese war jedoch nur möglich, wenn die Volkswirtschaften der einzelnen Länder aufeinander abgestimmt werden, die Voraussetzung dafür waren gesunde Währungen.
Der österreichische Schilling aber ist krank. Ein Drittel des Staatsbudgets muss den Besatzungsmächten – mit Ausnahme der Amerikaner – für den Unterhalt ihrer Truppen in Österreich zur Verfügung gestellt werden, das heißt, die österreichischen Steuerzahler haben für die Besetzung ihres Landes aufzukommen. Jede der alliierten Mächte hat außerdem große Beträge von sogenannten Militärschillingen nach Österreich gebracht, Banknoten, die am Ende des Krieges in Großbritannien gedruckt und an alle vier künftigen Besatzungsmächte verteilt worden sind. Das Volumen dieses Besatzungsgeldes ist der österreichischen Regierung nicht bekannt, aber überall in Österreich muss der Militärschilling so wie der Zivilschilling als Zahlungsmittel akzeptiert werden. Da in Österreich die Produktion noch daniederliegt und nur wenige Güter erzeugt werden, gibt es daher eine starke inflationäre Entwicklung. Viel zu viel Geld bei viel zu wenigen Waren.
Die Regierung entschließt sich zu einer Abwertung des Schillings. Ein neuer Schilling wird geschaffen. Pro Person werden 150 alte gegen 100 neue Schilling eingetauscht. Alle Beträge darüber werden um zwei Drittel abgewertet, für drei alte Schillinge gibt es nur noch einen neuen. Hatten die Sowjets den Beitritt Österreichs zum Marshallplan gerade noch geduldet, so scheinen sie jetzt entschlossen, in Österreich wie in Deutschland den Währungsreformen entgegenzutreten. Der einzige kommunistische Minister in der österreichischen Regierung, Karl Altmann, stimmt – im Gegensatz zu früher beim Marshallplan – dem Abwertungsgesetz nicht zu und tritt zurück. Im Zentralorgan der österreichischen Kommunisten »Volksstimme« erscheint in großen Lettern die Schlagzeile »Erregung, Erbitterung, Empörung«, und drohend veröffentlicht die Zeitung eine Namensliste: »Die Männer, die das ausgepackelt haben – Namen, die man sich merken muss«. Das ist zu jener Zeit unter Umständen keine leere Drohung, denn wie wir es bald erleben, werden Menschen in führenden Wirtschaftspositionen dem Druck der Straße und auch dem der Besatzungsmacht ausgesetzt.
Auch in den drei westlichen Zonen Deutschlands, die ebenfalls am Marshallplan teilnehmen und als Trizone Mitglied der OEEC sind, wird die Reichsmark abgeschafft und an ihrer Stelle die Deutsche Mark eingeführt. In Deutschland allerdings zum Wechselkurs von 10:1 – was die D-Mark von Anfang an sehr stark macht. Nun harrt man in Österreich und in Deutschland der Dinge, die da noch kommen dürften, die Reaktion der Sowjetunion und deren Auswirkungen. In Österreich fällt sie überraschend milde aus: Die Sowjets würden im Alliierten Rat keinen Einspruch erheben, wenn sie, anders als die anderen Besatzungsmächte, ihre großen Vorräte an Reichsmark – nicht wenige vermutlich aus der Sowjetzone in Deutschland – nicht im Verhältnis 3:1, sondern 1,75:1 tauschen dürfen. Die Sowjets lassen sich ihre Zustimmung also abkaufen! Das wird auch für die Staatsvertragsverhandlungen noch sehr interessant sein.
In Deutschland warnen die Sowjets davor, die drei westlichen Sektoren in Berlin in die Währungsreform einzubeziehen. Doch das bestimmen nicht die Deutschen, die noch keine Regierung haben, sondern die drei Westmächte. Die erkennen die Gefahr: Geben sie in der Währungsfrage in Berlin nach, ist Westberlin vermutlich bald verloren. So bleiben sie hart – auch in Westberlin gilt nun die D-Mark.
Doch hier denken auch die Sowjets nicht daran nachzugeben. Denn auch sie wissen, wird Westberlin einbezogen in die Wirtschaftsgemeinschaft des Westens und Teil der im Marshallplan vorgesehenen europäischen Integration, so schwindet die Hoffnung Moskaus auf eine gesamtdeutsche Lösung nach sowjetischen Vorstellungen, wie sie Moskau immer wieder bei den Verhandlungen mit den Westmächten zum Ausdruck gebracht hat: ein Gesamtdeutschland, dessen Schicksal von der Sowjetunion mitbestimmt werden müsse. So reagieren die Sowjets auf die Einführung der D-Mark in Westberlin mit einer Blockade aller Zufahrtsstraßen und Eisenbahnstrecken, die von Westdeutschland nach Westberlin führen. Ab sofort können weder Menschen noch Waren die Sowjetzone nach Westberlin durchqueren, ausgenommen die Militärfahrzeuge der Alliierten.
Ein Moment, in dem die Welt den Atem anhält. Wie wird der Westen reagieren? Werden die Westmächte versuchen, die Blockade zu brechen? Mit militärischen Mitteln? Gibt es dann Krieg? Oder muss der Westen nachgeben, was wohl hieße, Westberlin aufzugeben?
Die Blockade wird am 24. Juni 1948 verhängt. Einen Tag später befiehlt der amerikanische Oberbefehlshaber in Deutschland, General Lucius D. Clay, die Errichtung einer Luftbrücke, zunächst von Frankfurt am Main nach dem im amerikanischen Sektor Berlins gelegenen Flughafen Tempelhof. Wir fragen uns: Das wollen die Amerikaner wirklich versuchen? Über zwei Millionen Berliner mit Flugzeugen aus der Luft zu versorgen? Mit Lebensmitteln, mit Kohle für die E-Werke, mit Treibstoff und allen Gebrauchsgütern?
Das kaum für möglich Gehaltene aber geschieht. Amerikanische Versorgungsflugzeuge starten nun bald im Fünfzehnminutentakt, landen in Tempelhof, werden blitzschnell entladen und rollen zurück auf die Startbahn. Großbritannien und Frankreich helfen mit. Die Briten landen auf dem Berliner Flughafen Gatow, der sich in ihrem Sektor befindet, die Franzosen in Tegel im französischen Sektor. Was kaum jemand für möglich gehalten hätte, der Westen hält diese gewaltige Versorgungsoperation fast ein ganzes Jahr – bis zum 12. Mai 1949 – aufrecht. Insgesamt sind das 280.000 Versorgungsflüge. Dabei gibt es mehrere tödliche Unfälle. 39 Briten, 31 Amerikaner und 13 Deutsche kommen ums Leben.
Die Sowjets aber müssen erkennen, dass der Westen nicht nachgeben wird. Ihr Vorhaben, die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, ist gescheitert. Das von den Westdeutschen erhoffte und von den Westmächten angestrebte Ziel, die drei Westzonen Deutschlands zu vereinen und eine eigene Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, ist durch die Sowjetblockade gegen Berlin nur beschleunigt worden – gerade das, was Moskau verhindern wollte.
In Österreich nimmt die Auseinandersetzung zwischen Ost und West, der Kalte Krieg, zunächst andere Formen an und wir in der »Tageszeitung« haben das fast jeden Tag zu kommentieren. Die Währungsreform haben sich die Sowjets für einen günstigeren Umtauschkurs abkaufen lassen. Aber die von den Sowjets gleich nach ihrem Einmarsch in Österreich als sogenanntes »Deutsches Eigentum« beschlagnahmten Industrien und Betriebe, darunter auch die Erdölfelder rund um Zistersdorf und die Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, werden mit einem einzigen Befehl des Oberkommandierenden Sowjet-Marschalls Iwan Konjew zum Eigentum der Sowjetunion erklärt und der direkten Verwaltung in Moskau unterstellt. Diese zentrale Verwaltung des sowjetisch gewordenen »Deutschen Eigentums« wird mit den Anfangsbuchstaben ihres russischen Namens »USIA« genannt.
Was die neue österreichische Währung wert ist, haben die Sowjets schnell begriffen. So gründet die USIA in Ostösterreich eine eigene Kaufhauskette und beginnt zu verkaufen, was in den USIA-Betrieben hergestellt wird. Bis jetzt sind diese Produkte nach dem Osten geliefert worden. Nun aber ist es für die Sowjets lukrativer, viele dieser Produkte in Österreich selbst anzubieten und sie für neue harte Schillinge zu verkaufen. Es dauert nicht lange, da verkauft die USIA auch Waren aus den benachbarten kommunistischen »Volksdemokratien« in ihren österreichischen Läden – unter dem normalen Preis, denn die USIA als Unternehmen der Besatzungsmacht zahlt keine Zölle und keine Steuern. Aus Bulgarien werden Zigaretten und aus Ungarn Lebensmittel angeboten. Schließlich beginnt die USIA sogar Waren aus dem Westen einzuführen, ebenfalls zoll- und steuerfrei, um sie zu reduzierten Preisen auf den Markt zu werfen.
Für die österreichische Wirtschaft hat das schlimme Auswirkungen. Denn die USIA-Läden werden von vielen Österreichern der Preise wegen gerne besucht. Die »Tageszeitung«, der Wirtschaft verbunden, nimmt den Kampf gegen die Schmutzkonkurrenz der USIA auf. Ich habe damals einen Kommentar nach dem anderen gegen die USIA geschrieben. Wir betrachteten das Vorgehen der Sowjets nicht nur in Berlin, sondern auch bei uns in Österreich als Teil des Kalten Krieges.
Just in dieser Zeit kam Hans Dichand in die Redaktion mit der Nachricht, dass er die Zeitung nun bald, wenn es geht sogar gleich, verlassen werde. Er habe das Angebot erhalten, in der Steiermark die Chefredaktion des »Murtaler Boten« zu übernehmen. Zunächst wusste keiner von uns, was der »Murtaler Bote« war. Aber Dichand fand dieses Angebot verlockend. Wie sich später herausstellte, war es für Dichand und in einem gewissen Sinn auch für mich sogar schicksalhaft. Denn den »Murtaler Boten«, ein Wochenblatt, so klein es auch war, brachte Dichand zu einer erstaunlichen Auflage, und dieser Erfolg führte zum nächsten Angebot an ihn, nämlich die »Kleine Zeitung« in Graz, damals auch noch ein Wochenblatt, als Chefredakteur zu übernehmen. Dichand machte die »Kleine Zeitung« zu einer erfolgreichen Tageszeitung, und dieser Erfolg brachte ihm die Berufung zum »Neuen Kurier« ein. Was wieder zum Angebot Dichands an mich führte, mit ihm den »Kurier« zu gestalten.
Zur Mitgestaltung hatte mich Dichand auch schon eingeladen, als er zum »Murtaler Boten« ging. Er bat mich, jede Woche für den »Murtaler Boten« einen Bericht zu schreiben, genau genommen einen Leitartikel zur Weltpolitik. Und das tat ich auch. Nebenbei und ohne es meinem Chefredakteur zu sagen, nahm ich doch nicht an, dass Dichand diese Berichte unter meinem Namen erscheinen lassen würde.
Als die Sowjetblockade gegen Berlin begann, gab es in Wien große Sorge, die Sowjets könnten auch Wien blockieren. Wie ernst die Regierung und die Westmächte das nahmen und wie sehr sie sich für diesen Fall vorzubereiten suchten, das wurde mir erst bewusst, als wir diese Vorgänge für die Fernsehdokumentation »Österreich II« recherchierten. Amerikaner und Briten legten in Wien große Vorräte an und planten, zwei Flugplätze innerhalb der Stadt zu bauen, um auch Wien über eine Luftbrücke versorgen zu können.
Aber damals glaubte ich, es noch besser zu wissen. Ich hatte Lenin gelesen und mir einen von ihm genannten Grundsatz gemerkt: Die Sowjetmacht (zu seiner Zeit noch ganz jung) dürfe in keinen Krieg gehen, dessen Ausgang ungewiss sei, denn einen verlorenen Krieg würde sie nicht überleben. Jetzt dachte ich, ein Krieg wegen Berlin wäre zumindest ein Krieg mit ungewissem Ausgang, wenn nicht von vornherein für die Sowjetunion schon verloren bei der atomaren Übermacht der USA. Und so schrieb ich für den »Murtaler Boten« einen Kommentar, in dem ich auf die Befürchtungen Bezug nahm, auch Wien könnte wie Berlin von den Sowjets blockiert werden. Aber in Wien, so meinte ich, wäre es für die Westmächte nicht möglich, ihre Sektoren aus der Luft zu versorgen. Der Flughafen der Amerikaner befand sich in Langenlebarn bei Tulln, also mitten in der Sowjetzone, und der Flughafen für die Briten und Franzosen war Schwechat, ebenfalls umgeben von der Sowjetzone. Würden die Sowjets Wien blockieren, so hätten die Westmächte nur die Wahl, den Rückzug anzutreten oder den militärischen Durchbruch zu versuchen. Dann berief ich mich auf Lenin: Die Sowjetmacht dürfe keinen Krieg riskieren, dessen Ausgang ungewiss sei – also werde es keine Blockade gegen Wien geben, hier sei das Kriegsrisiko viel größer, weil es die Alternative einer Luftbrücke nicht gebe. Der gewagte Gedanke eines jungen Journalisten. Trotz allem aber sehr beruhigend, keine Angst, es werde keine Blockade geben.
Einige Tage später erhielt ich einen eingeschriebenen Brief. Die Staatsanwaltschaft habe gegen mich Klage eingebracht – wegen Volksverhetzung, und auch schon den ersten Verhandlungstag vor Gericht festgelegt. Jetzt musste ich zu meinem Chefredakteur gehen, um ihm zu beichten. Der Chefredakteur hieß Hans Kronhuber, war ein großartiger Mensch und Chef. Er verstand mein Motiv der Kollegenhilfe für Dichand und trug mir die Berichte für den »Murtaler Boten« nicht nach. Mehr noch, er sagte mir zu, den offensichtlichen Irrtum der Justizbehörde, ich hätte mit diesem Artikel Volksverhetzung betrieben, aufzuklären. Für mich, so meinte ich, war damit die Sache erledigt.
Dann standen eines Morgens zwei Kriminalbeamte vor der Tür der Wohnung, in der ich zur Untermiete wohnte. Sie seien gekommen, um mich vorzuführen, denn ich hätte den für heute vorgesehenen Gerichtstermin nicht eingehalten. Sie nahmen mich mit und wir fuhren mit der Straßenbahn Nr. 13 zum Wiener Landesgericht. Vorher ließen mich die beiden Beamten noch telefonieren. Ich verständigte Kronhuber und auch meine künftige Frau Gertraude, hatte ich doch keine Ahnung, wie das nun weitergehen würde.
In den Gerichtssaal geführt, stand ich gleich vor dem Staatsanwalt und dem Richter, die den Prozess schon eröffnet und auf mich gewartet hatten. Ehe ich mich versah, rief der Staatsanwalt dem Richter zu: »Herr Rat!« Der rief zurück: »Herr Staatsanwalt«, und der: »Ich beantrage eine Haftstrafe von 48 Stunden.« Der Richter: »Angeklagter, wollen Sie sich nicht entschuldigen?« Darauf ich: »Wofür, Herr Rat?« – »Für die Beleidigung des Gerichts.« Ja, ich hätte das Gericht beleidigt, weil ich so dastünde, wie ich dastand, nämlich, so begründete es der Richter, mit beiden Händen in den Taschen meines Mantels. Das wertete das Gericht als Beleidigung.
Meine künftige Frau hatte inzwischen den Gerichtssaal betreten und im Zuschauerraum Platz genommen, in dem niemand anderer saß. Jetzt hörte ich ihre Stimme: »Das ist ja wie im Kindergarten!« Darauf der Richter: »Ruhe oder ich lasse den Gerichtssaal räumen!« Ich kam nun der Aufforderung des Richters nach und entschuldigte mich in aller Form. Der Staatsanwalt zog daraufhin den Antrag auf 48 Stunden Arrest zurück.
Jetzt kam es zur eigentlichen Verhandlung. Dichand hatte meinem Kommentar den Titel gegeben: »Wird Wien Berlin?« Diesen Titel wertete die Staatsanwaltschaft als Volksverhetzung, denn er wäre ein Aufruf zu Angst und Panik. Das Fragezeichen nütze da gar nichts. Ich versuchte nun klarzumachen, dass ja der Inhalt dieses Artikels genau das Gegenteil aussage und zu dem Schluss führe, dass es in Wien keine Blockade geben werde. Widerspruch des Staatsanwalts: »Was vorn steht, zählt, nicht was hinten steht.«
Ich versuchte nun, in einer Beweiskette darzulegen, dass ich recht hätte, was einige Zeit in Anspruch nahm. Währenddessen wurde dem Staatsanwalt ein Blatt Papier überbracht. Als ich am Ende meiner Ausführungen war und bei dieser Stimmung mit keinerlei Verständnis des Gerichts rechnete, wandte sich der Richter an den Staatsanwalt: »Herr Staatsanwalt, Ihr Antrag?« Der Staatsanwalt erhob sich: »Freispruch.« Der Richter war sichtlich erstaunt. Aber dann wird er sich wohl den richtigen Reim gemacht haben, den ich mir erst später machen konnte: Kronhubers Verbindungen hatten es geschafft, den Justizminister Josef Gerö davon zu überzeugen, dass er sich im Irrtum befand. Denn es war der Justizminister selbst, wie Kronhuber erfuhr, den irgendein Zensor (die Zeitungen wurden damals noch auf Gesetzesverletzungen überprüft) auf den Titel des Artikels »Wird Wien Berlin?« aufmerksam gemacht hatte. Darauf hätte der Minister ausgerufen: »Den Journalisten muss man’s endlich einmal zeigen, immer diese Spekulationen!« So kam es jetzt auf den Minister an, den Staatsanwalt zurückzurufen. Das hatte er getan.
Weshalb diese Geschichte? Das Weisungsrecht des Ministers an den Staatsanwalt gibt es heute noch immer. Gegen den Willen der Richter und Staatsanwälte. Dem Justizminister wurde lediglich ein Beirat zur Seite gestellt, der ihn bei der Ausübung des Weisungsrechts beraten soll. Das letzte Wort aber hat der Minister, also doch die Politik.