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Mit der »Elektrische« nach Wien Preßburg – Vorort mit großer Geschichte
ОглавлениеDiese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. Wenn man mich fragte, wo ich geboren wurde, und ich sagte Preßburg, gab es Erstaunen und manchmal auch Unverständnis. So als hätte es zwischen Wien und Preßburg immer schon einen Eisernen Vorhang gegeben. Doch als ich dort geboren wurde und aufwuchs, war Preßburg ein Vorort von Wien. Von Preßburg fuhr man mit der »Elektrische« genannten Straßenbahn in die Wiener Oper, als Kinder besuchten wir mit der »Elektrische« den Prater und den Tiergarten in Schönbrunn. Das Burgtheater und das Theater in der Josefstadt gaben regelmäßig Gastspiele in Preßburg.
Preßburg, ein Vorort von Wien, aber auch eine Stadt mit großer eigener Geschichte. Eine Stadt, die drei Namen hatte: Preßburg auf Deutsch, Pozsony auf Ungarisch, Bratislava auf Slowakisch. Mehr als zwei Jahrhunderte, von 1526 bis 1724, war Preßburg die Hauptstadt des Königlichen Ungarns, als in Budapest die Türken herrschten. Preßburg war die Krönungsstadt für zehn österreichische Kaiser und deren Gemahlinnen, die im Preßburger Martinsdom zu ungarischen Königen und Königinnen gekrönt wurden. Die Prominenteste unter ihnen war Maria Theresia, sie ließ die (heute wiederhergestellte) Preßburger Burg ausbauen, ihre Residenz als Königin von Ungarn. Und in Preßburg wurde die erste deutschsprachige Zeitung Ungarns gegründet, im Jahre 1764, die »Preßburger Zeitung«. Kein Provinzblatt, eine Hauptstadtzeitung, zuletzt erschien sie zweimal täglich als Morgen- und Abendzeitung und sieben Mal in der Woche. Die Weltpolitik, die Geschehnisse in Mitteleuropa standen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Dazu fast täglich ein Leitartikel. Später auch die Tagesprogramme von Radio Preßburg, Wien und Budapest. Die Zeitung wandte sich an die deutschsprachige Bevölkerung, zu der sich damals auch die meisten jüdischen Mitbürger bekannten.
Preßburg und die Slowakei blieben bei Ungarn bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. 1918, als die österreichisch-ungarische Monarchie zerbrach, wurden Preßburg und die Slowakei Teile der tschechoslowakischen Republik.
Die Dreisprachigkeit war der Stadt also mit auf den Weg gegeben. Genau genommen kam noch eine vierte Sprache hinzu. Vor dem Antisemitismus und den Pogromen in Galizien und der Ukraine flohen immer wieder jüdische Bürger nach Preßburg wie nach Wien, wo sie Schutz suchten und unter den Kaisern und Königen der Habsburger auch fanden. Jiddisch wurde also vielfach auch in Preßburg gesprochen. Dieses Neben- und Miteinander von drei, ja vier Ethnien gab der Stadt einen ganz besonderen Charakter. Miteinander auszukommen, sich gegenseitig zu respektieren, war nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Selbstverständlichkeit. Wenn es dennoch zu Spannungen zwischen den Sprachgruppen kam, dann wurden diese von außen hereingetragen: 1918, als man das österreichisch-ungarische Erbe im Sinne der neuen tschechoslowakischen Staatlichkeit verdrängen wollte. Danach durch die Forderungen Ungarns, die neue Grenzziehung rückgängig zu machen. Und 1938, als mit dem Münchner Abkommen das Deutsche Reich an das andere Donauufer vis-à-vis der Stadt rückte. Das waren die Rahmenbedingungen, unter denen bis 1939 die »Preßburger Zeitung« erschien.
Mein Vater Emil, aufgewachsen in St. Pölten, 1918 heimgekehrt aus der russischen Kriegsgefangenschaft, antwortete auf ein Inserat der »Preßburger Zeitung« und nahm dort die Stelle eines Redakteurs an. 1920 heiratete er meine Mutter Hedi. 1924 wurde mein Vater Chefredakteur der Zeitung, 1921 kam mein Bruder Emil, 1927 kam ich zur Welt.
Im Jahr 2012 ließ die ungarische Nationalbibliothek, mit Unterstützung der Preßburger Universitätsbibliothek und unter der Leitung von Jan Schrastetter aus München, die »Preßburger Zeitung« vom ersten Tag ihres Erscheinens 1764 an digitalisieren. Mit einem Festakt an der Universität in Preßburg-Bratislava wurde das große Unterfangen gewürdigt und dabei des ersten und des letzten Chefredakteurs der »Preßburger Zeitung« gedacht. Der letzte war mein Vater. Ich war eingeladen, die Festrede zu halten, und nutzte die Gelegenheit, viele der Leitartikel zu lesen, die mein Vater für diese Zeitung geschrieben hatte. So konnte ich nachvollziehen, welche Linie mein Vater dieser Zeitung vorgegeben hatte und mit welcher Haltung er sich den politischen Stürmen der damaligen Zeit stellte. Und die war eindeutig, aber für ein deutschsprachiges Blatt in der Tschechoslowakei gar nicht so selbstverständlich.
Denn die Mehrzahl der deutschsprachigen Bürger Preßburgs trauerte noch der österreichisch-ungarischen Monarchie nach und hätte es lieber gesehen, wenn Preßburg nicht tschechoslowakisch geworden, sondern ungarisch geblieben wäre. Nicht mein Vater. Das Wichtigste für ihn war die Demokratie und damit die tschechoslowakische Republik – mit Ausnahme der Schweiz bald die einzige Demokratie in Mitteleuropa. Immer wieder forderte er von seiner Leserschaft daher auch dieses Bekenntnis zur Republik. Aber er mahnte gerade deshalb auch die Prager Regierung, nicht die Fehler der Habsburgermonarchie zu wiederholen, nämlich die nationalen Minderheiten zu beherrschen, statt sie mitregieren zu lassen. Dieses Recht auf Gleichberechtigung forderte er für alle Minderheiten in der Republik ein, für die Slowaken, die Deutschen und die Magyaren. In allen drei Volksgruppen gab es zunehmend Auflehnung gegen den Prager Zentralismus.
Den Slowaken war im sogenannten Vertrag von Pittsburgh in Pennsylvania, USA, 1918 vom künftigen Präsidenten der Tschechoslowakei, Tomáš G. Masaryk, die volle Autonomie im tschechoslowakischen Staat zugesichert worden. In Pennsylvania gab es eine große slowakische Volksgruppe, die vielen Slowaken und deren Nachfahren, die aus der ungarischen Unterdrückung nach Amerika ausgewandert waren. Sie hatten politischen Einfluss. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson setzte sich nicht zuletzt deshalb auch für die Gründung der Tschechoslowakei ein. Masaryk wurde der erste Präsident dieser neuen Republik. Am 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages von Pittsburgh, 1938, erhoben die Slowaken die Forderung nach voller Autonomie, die ihnen zugesichert, aber bisher von Prag nicht gewährt worden war. Die in der Slowakei lebenden Ungarn stimmten zur gleichen Zeit in den Chor der Nationalisten in Ungarn ein: »Nein, nein, niemals!« und »Alles zurück«, mit dem sie die ehemals ungarischen Gebiete der Monarchie zurückforderten, zumindest jene Teile, in denen vor allem Ungarn lebten. Also Teile der Slowakei.
Die Deutschen in den Sudetengebieten, in Mährisch-Schlesien und Südmähren, die 1918/19 bei Österreich bleiben wollten, aber nicht durften, stellten zwar im Prager Parlament mehr Abgeordnete als jede der anderen Parteien, wurden jedoch zur Mitwirkung an der Regierung nicht eingeladen. Und schon gab es Lock-rufe der Nationalsozialisten, wie sie auch in Österreich zu hören waren: »Heim ins Reich.«
All das beunruhigte meinen Vater sehr. Leitartikel um Leitartikel schrieb er zur Verteidigung der Republik und der Demokratie. Als Hitler, Mussolini, der britische Premierminister Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier im Herbst 1938 ohne Beiziehung der Tschechoslowakei in München die Abtretung der Sudetengebiete an Hitlerdeutschland beschlossen, schrieb mein Vater in seinem Leitartikel in der »Preßburger Zeitung«: »In dieser finstersten Stunde gibt es keinen ehrlichen Demokraten, der durch die in München besiegelte Regelung des tschechoslowakischen Problems nicht aufs Tiefste erschüttert wäre. Trauer herrscht nicht allein in den Herzen der Demokraten aller Nationen, die in der Tschechoslowakei leben, ehrliches Mitempfinden strömt uns auch von den wahren Demokraten in ganz Europa zu.«
Doch es sollte viel schlimmer kommen. Für Hitler war die Abtretung der deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei nur der erste Schritt. Im März 1939 beorderte Hitler den tschechoslowakischen Präsidenten Emil Hácha nach Berlin und drohte ihm mit Krieg, wenn er sich seinen Forderungen nicht beugen würde. Diese dramatische Unterredung endete mit der Erklärung Háchas, er lege das »Schicksal des tschechischen Volkes in die Hände des Führers und Reichskanzlers des Deutschen Reiches«. Zur gleichen Zeit forderten der Gauleiter von Wien, Baldur von Schirach, und Hitlers Statthalter in Österreich, Seyß-Inquart, den Ministerpräsidenten der slowakischen Regionalregierung, Jozef Tiso, auf, die Selbstständigkeit der Slowakei zu reklamieren und sie als eigenen Staat auszurufen. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei war also eine koordinierte, von Berlin und Wien ausgeführte Aktion. Am 15. März 1939 marschierten Hitlers Truppen in Böhmen und Mähren ein, in Preßburg erklärte Tiso die Slowakei zum selbstständigen Staat.
Zu dieser Katastrophe konnte mein Vater in der »Preßburger Zeitung« nicht mehr Stellung nehmen. Er war zwar deren Chefredakteur, nicht aber ihr Eigentümer. Eigentümer war jene Gruppe von Verlegern, zu denen auch das angesehene »Prager Tagblatt«, das »Brünner Tagblatt« und die Mährisch-Ostrauer »Morgenpost« zählten. Die Verleger waren jüdisch. Diese Zeitungen wurden über Nacht enteignet, mein Vater als Chefredakteur der »Preßburger Zeitung« abgesetzt und das Erscheinen der Zeitung eingestellt.
Ich weiß nicht, ob es noch am gleichen oder erst am nächsten Tag war, jedenfalls erschienen einige Männer in ziviler Kleidung in unserer Wohnung und führten eine Hausdurchsuchung durch. Ich sehe noch die aufgerissenen Schubladen und Kastentüren vor mir und wie die Männer Kleider und Wäsche auf den Boden warfen. Mein Vater war nicht zu Hause, er kam erst Stunden später aus der Redaktion zurück, in der er sich von seinen Mitarbeitern verabschiedet hatte. Drei der zwölf Redakteure waren Juden, zwei von ihnen, Löwy und Bauer, flohen noch am selben Tag und schafften es später nach Palästina – das allerdings erfuhren wir erst nach dem Krieg, als sie uns Briefe aus Israel schickten. Der Dritte, Donath, schaffte es nicht und wurde später in einem der Vernichtungslager ermordet.
Aber die »Preßburger Zeitung« erschien dann doch noch einmal »unter neuer Leitung«. Mit folgender Erklärung: »Unter dem Druck der großen Umwälzung, die in den letzten Tagen vor sich gegangen ist, musste aus technischen Gründen vorübergehend das Erscheinen der ›Preßburger Zeitung‹ eingestellt werden. Nun hat der Verlag unter der neuen Leitung beschlossen, dieselbe wieder erscheinen zu lassen. Allerdings nicht mehr wie bisher wird die jüdische ›Intelligenz‹ das Blatt gestalten und Gift in das Volk träufeln, sondern nationalsozialistischer Gestaltungswille und nationalsozialistisches Gedankengut wird die Zeitung zum Instrument des Großdeutschen Reiches machen … Preßburger! Freiheit und Friede ist angebrochen, die neue Leitung grüßt Euch mit dem Gruß, der dem deutschen Volke heilig ist: ›Heil Hitler!‹ K.L.«
Trotz »neuer Leitung« und »Heil Hitler« erschien die »Preßburger Zeitung« nur noch wenige Wochen, dann wurde sie zugunsten des nationalsozialistischen »Grenzboten« eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt besuchte ich die zweite Klasse des einzigen deutschsprachigen Gymnasiums in Preßburg. Die Aufregung unter den Schülerinnen und Schülern war groß. Als staatliches Gymnasium der gestern noch existierenden tschechoslowakischen Republik war es eine liberale und demokratisch geführte Schule. Mädchen und Buben in derselben Klasse, katholische, protestantische und jüdische Kinder. Daheim hatten sich wohl die Eltern schon die Frage gestellt, wie lange das noch so bleiben werde. Es blieb noch bis zum Schulschluss im Juni dieses Jahres 1939. Als ich im Herbst in die nächste Klasse kam, gab es keine jüdischen Mitschüler mehr. Dies wurde uns vom Direktor der Schule, der den Namen Meznik trug, persönlich mitgeteilt. Mit »tiefem Bedauern«, wie er ausdrücklich betonte. Die jüdischen Mitschüler würden von nun an in »andere Schulen« gehen. Was sie zunächst auch tun konnten. Zumindest ein slowakisches oder ungarisches Gymnasium konnte, durfte sie noch aufnehmen. Von unseren Lehrern, die, wie es österreichisch Brauch war, von uns als Herr und Frau Professor angesprochen wurden, gaben sich nur zwei als Nationalsozialisten zu erkennen, obwohl es diese Partei als solche in Preßburg nicht gab. Die »national Gesinnten« sammelten sich in der sogenannten »Karpatendeutschen Partei«, einer Schwesterpartei der »Sudetendeutschen Partei«, die schon längere Zeit unter der Führung Konrad Henleins auf den Anschluss an Deutschland hinarbeitete. Es gab drei deutsche Jugendvereine in Preßburg, den »Deutschen Turnverein«, die »St. Georgs Pfadfinder« und den »Wandervogel«. Ich ging zum Schwimmunterricht in den »Turnverein«. Jetzt wurden die Pfadfinder aufgelöst, der »Wandervogel« und der »Turnverein« der neu gegründeten »Deutschen Jugend« eingegliedert, die dann immer mehr der Hitlerjugend angeglichen wurde.
Um zunächst bei der Schule zu bleiben. Der Lehrplan und die Schulbücher dieser deutschsprachigen Schule folgten noch viele Jahre nach dem Ersten Weltkrieg den österreichisch-ungarischen Schulplänen. Das blieb auch jetzt noch eine Weile so, bis dann die Lehrbücher durch solche aus Deutschland ersetzt wurden. Auch der liberale Direktor Meznik wurde von einem Österreicher namens Olbricht abgelöst, einem Verwandten des Erbauers der Wiener Secession. Unter dieser Direktion mussten die Professoren mit »Heil Hitler« grüßen und am Anfang und am Ende des Schuljahrs hatten die Schüler aller Klassen auf dem großen Sportplatz der Schule zu einer Art Appell anzutreten, bei dem der Direktor eine Rede hielt.
Im Unterricht jedoch war vom Nazismus nur wenig zu spüren. Lediglich der Biologieprofessor verwandelte die Mendelsche Erbfolgelehre in eine Rassenlehre. Seine Frau, die Musikprofessorin, brachte uns keine Nazilieder bei. Olbricht hingegen, der Kunst unterrichtete, ließ uns deutsche Flugzeuge zeichnen, die Bomben auf England warfen.
Daheim hörten wir regelmäßig die Nachrichten des Schweizer Senders Beromünster und die deutschen Nachrichten der BBC. Interessanterweise wurde da in der Familie nicht getan, als wäre das verboten und müsste geheim gehalten werden. Ich nehme an, dass es ein solches Verbot auch in der Slowakei gab, andererseits hörte man englische BBC-Nachrichten im Sommer auch manchmal aus offenen Fenstern in den Straßen. Zuhause waren diese Nachrichten immer Gegenstand der Diskussion und des Vergleichs mit den Nachrichten des Reichssenders Wien. Der Unterschied war meist groß. Recht engagiert erzählte ich davon immer wieder den Mitschülern. Auch einmal im Umkleideraum des Turnsaals. Olbricht hörte da offenbar mit und stellte mich nach der Turnstunde zur Rede: Ich möge das künftig nicht mehr tun, das sei nicht in Ordnung und in der Schule verboten. Mehr aber nicht. Er fragte nicht, woher ich diese Nachrichten hatte.
Es wurde schwerer, sich dem Druck der »Deutschen Jugend« zu entziehen. Zwei meiner Freunde entfremdeten sich mir, weil sie Führer in dieser DJ geworden waren, was ihre Interessen und Ansichten prägte und ihnen kaum noch Zeit für freundschaftliche Begegnungen ließ. So suchte ich mir neue Freunde. Die waren leidenschaftliche Tarockspieler und hatten mit der DJ nichts am Hut. Wir hatten es bald heraus, wie man das Tarockspielen auch den eigenen Eltern gegenüber vertreten konnte. Wir nahmen uns vor und hielten das auch ein, täglich nach Unterrichtsschluss gemeinsam unsere Hausaufgaben zu erledigen und in der Schule problemlos weiterzukommen. So durften wir auch am Abend abwechselnd bei dem einen oder anderen Freund daheim Karten spielen, auch wenn es dabei etwas später wurde. Auch ins Kino gingen wir oft, und in Preßburg wurden nicht nur die deutschen, sondern auch italienische und französische Filme mit Untertiteln gezeigt. Danielle Darrieux und Maurice Chevalier waren uns so bekannt wie Magda Schneider und Paul Hörbiger.
Mein Vater war nun arbeitslos, aber nicht ohne Freunde. Einige von diesen behielten ihre Posten, auch in der neuen Tiso-Slowakei. Wie sich überhaupt ein Netzwerk bildete von Menschen, die die Zerschlagung der Tschechoslowakei betrauerten und die die immer stärker werdende Einflussnahme der von Deutschland in die Slowakei entsandten »Berater« und Aufpasser empörte. Es war eine merkwürdige Mischung von Zusammenhalt und Überlebenskunst.
Und so geschlossen, wie das nach außen hin schien, war auch das politische Lager rund um den Staatspräsidenten Tiso nicht. Dieser war der Führer der slowakischen »Volkspartei«. Ihn und seine Partei kann man nur erklären, wenn man sich kurz mit der Geschichte der Slowaken vertraut macht. 800 Jahre lang gehörte die Slowakei zu Ungarn, Oberungarn genannt. Und die königlichen Ungarn gingen nicht sanft um mit den Völkern, die sie beherrschten. So war es den Slowaken nicht erlaubt, eine Mittelschule zu besuchen, ohne ihren slowakischen Familiennamen abzulegen, einen ungarischen anzunehmen und sich zum Magyarentum zu bekennen. Ein höheres Studium für Slowaken gab es nur im Rahmen einer Ausbildung zum Priester. Ganz im Gegensatz zu den österreichisch regierten Tschechen, denen alle Schulen und auch die Prager Universität offen standen. Aber das erklärt auch, warum die nationalistischen Führer der Slowaken Priester waren – Andrej Hlinka und Jozef Tiso, beide waren Prälaten.
Innerhalb dieses nationalen Lagers bestanden zwei ideologische Richtungen, die anti-ungarische und die sich langsam herausbildende anti-tschechische. Tiso war noch von der tschechoslowakischen Regierung zum Ministerpräsidenten der Teilrepublik Slowakei ernannt worden. Das war noch nicht der eigene Staat. Zu diesem wurde er erst gedrängt durch Baldur von Schirach und Seyß-Inquart im Auftrag Hitlers und letztlich in Form eines Ultimatums: Entweder bereit zu sein, mit der Unabhängigkeitserklärung der Slowakei Hitler den Vorwand zur Zerschlagung der Tschechoslowakei zu liefern oder Hitler würde den von Horthy geführten Ungarn freie Hand zum Einmarsch in die Slowakei geben. Die Vorstellung, wieder unter ungarische Herrschaft zu geraten, gab der Entscheidung, einen eigenen slowakischen Staat auszurufen, vermutlich auch einen starken Impuls.
Dass das jetzt auf Befehl Hitlers geschah und mithilfe des Deutschen Reichs, bestärkte die faschistischen Kräfte innerhalb des Tiso-Lagers, die sich zurzeit noch am Vorbild des italienischen Faschismus Mussolinis orientierten. Wie Mussolinis Schwarzhemden in Italien stellten auch sie eine Parteiarmee, die »Hlinka-Garde«, benannt nach dem ersten Führer der »Volkspartei«, Andrej Hlinka. Im Laufe der nächsten Jahre sollte sie sich immer mehr am Nationalsozialismus orientieren und an Einfluss gewinnen. Aber noch gab es Spielraum im politischen Rahmen dieser Slowakei.
Zur Versorgung der Zeitungen und des Rundfunks mit Nachrichten wurde eine eigene Presseagentur eingerichtet. Ihre Aufgabe war es auch, Verträge mit ausländischen Nachrichtenagenturen abzuschließen und deren Nachrichten ins Slowakische und Deutsche zu übersetzen und an die Zeitungen und Radiostationen weiterzuleiten. Unter anderen gehörte zu diesen Vertragspartnern nicht nur das Deutsche Nachrichtenbüro, DNB, in Berlin, sondern – zunächst direkt aus London, danach auf dem Umweg über die Schweiz – auch die britische Nachrichtenagentur Reuters und die Schweizerische Depeschenagentur – und das bis zum Ende des Krieges. Trotz des Einspruchs der sogenannten deutschen Volksgruppenführung erhielt mein Vater eine Stelle in dieser slowakischen Presseagentur.
Das war nicht selbstverständlich. Mein Vater hatte sich als Chefredakteur der »Preßburger Zeitung« nicht nur für die tschechoslowakische Republik und die Demokratie eingesetzt, er verfasste auch eine zweibändige »Geschichte der Stadt Bratislava-Preßburg«. Die Geschichte der bedeutenden jüdischen Gemeinde Preßburgs wurde in diesen Büchern von dem angesehenen Schriftsteller Samuel Bettelheim abgehandelt. Bis zum heutigen Tag gelten die beiden Bücher meines Vaters als Schlüsselwerke zur Geschichte von Preßburg-Bratislava. Aber im Jahre 1939 wurde ihr Verkauf verboten und sie mussten aus allen Bibliotheken in der Slowakei entfernt werden, weil in ihnen die großen Verdienste jüdischer Bürger an der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt gewürdigt wurden.
In der Schule hatte die Haltung meines Vaters keine Auswirkungen auf mich, keiner der Professoren ließ mich das spüren. Fast das Gegenteil. Denn dann und wann kam es sogar zu offen vor den Schülern ausgetragenen politischen Diskussionen. Der Tiso-Staat war ein Vasallenstaat des Dritten Reichs, kein Zweifel. Aber der Staatspräsident war ein römisch-katholischer Priester und der Religionsunterricht in den staatlichen Schulen ein Pflichtfach. Unser Religionslehrer war Pater Klecka (ausgesprochen Kletzka), ursprünglich Theologe an der Universität von Breslau und Gegner des Hitler-Regimes. Noch in den Dreißigerjahren floh er nach Polen und wirkte an der Universität von Krakau. Nach dem Überfall Hitlers auf Polen floh er in die Slowakei. An die Universität ließen sie ihn zwar nicht, aber am deutschsprachigen Gymnasium durfte er Religionsprofessor sein.
Natürlich war seine Lebensgeschichte bald bekannt. Einige DJ-Führer in der Schule, vielleicht aus eigenem Antrieb, aber – wie ich vermute – eher angestiftet, versuchten Pater Klecka zu provozieren, mit allem, was die Nazis der Kirche vorwerfen konnten: Inquisition und Hexenverbrennung. Da riss Klecka einmal die Geduld und er rief aufgeregt: »Die Kirche hat ihre Fehler längst einbekannt, bei euch aber müssen erst die Bolschewiken kommen, um eure Morde aufzudecken!« Danach herrschte Stille. Wohl die meisten, und auch ich, konnten sich keinen Reim auf diese Aussage machen. Mein Vater, dem ich das erzählte, verstand sofort.
Die deutsche Propaganda gab damals die Entdeckung von Massengräbern in der Nähe der russischen Stadt Katyn bekannt, Tausende polnische Offiziere seien dort von den Sowjets erschossen worden. Das entsprach zwar, wie sich später herausstellte, der Wahrheit, doch die Sowjetunion bestritt das und behauptete, dass dieser Massenmord selbstverständlich von den Nazis begangen worden sei. Pater Klecka glaubte offenbar den russischen Erklärungen mehr als denen der Nazis. Und das tat auch mein Vater. Erst lange nach dem Ende des Krieges wurde bestätigt, dass der Massenmord vom sowjetischen KGB verübt worden ist.
Klecka war nicht der einzige Professor, der sich vor den Schülern gegen die Nazis stellte. An seinen Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber unser Geschichtsprofessor hieß Gratzer. Im Juni 1944 hielt Gratzer seine letzte Unterrichtsstunde in diesem Schuljahr. Wie vorgeschrieben, hätte er sich mit einem »Heil Hitler« von den Schülern zu verabschieden gehabt. Aber da stand Professor Gratzer vor dem Katheder und rief in die Klasse: »Wer bei der Matura nicht weiß, was eine Koalition und was eine Opposition ist, wird bei mir nicht durchkommen!« Und dann aus voller Kehle: »Liberté, Égalité, Fraternité!« Verließ das Klassenzimmer und ließ uns frappiert zurück. Wir lernten Englisch und konnten nicht Französisch, aber was das bedeutete, verstanden die meisten oder lernten es jetzt: Das war der Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und seither die Basis für jede Demokratie.
Dass wir zu dieser Zeit noch in die Schule gehen konnten, war auch keine Selbstverständlichkeit. Schon ein Jahr früher sollten wir in ein sogenanntes Wehrerziehungslager nach Kärnten eingezogen werden. Die Schüler aus der Klasse vor uns hatten das schon hinter sich und was die uns darüber berichteten, erfüllte uns mit Schrecken. Man hatte sie körperlich bis zur Erschöpfung geschunden und einige von ihnen auch psychisch gebrochen. Wie konnte man dem entgehen? Manche Eltern versuchten es mit ärztlichen Bescheinigungen, ohne Erfolg. Aber zwei Mitschüler von uns fanden einen Weg: Sie meldeten sich zur Freiwilligen Feuerwehr. Und die war kriegswichtig. Preßburg lag wie Wien in Reichweite amerikanischer Fliegerverbände. In Preßburg stand die damals wahrscheinlich größte Erdölraffinerie Mitteleuropas. Sie trug den Namen »Apollo« und verarbeitete das auf Donautankern herangebrachte rumänische Erdöl zu Benzin und Diesel, auch für die Deutsche Wehrmacht. Schon beim ersten Bombenangriff standen viele der großen Öltanks der Raffinerie in Flammen, die schwarze Rauchsäule stieg so hoch in den Himmel, dass man sie vom Kahlenberg in Wien aus deutlich sehen konnte.
So war die Feuerwehr tatsächlich kriegswichtig. Fast die Hälfte der Schüler unserer Klasse, darunter auch ich, meldete sich bei der Feuerwehr und wurde von der Wehrerziehung befreit. Dafür mussten wir lernen, mit Schläuchen, Wasser, Pumpen und Leitern umzugehen, vor allem auch brennendes Öl mit Schaum zu löschen. Aber wir konnten weiter in die Schule gehen, nur bei Fliegeralarm mussten wir zu den Löschgeräten laufen.
Dass ich das berichte, soll nicht davon ablenken, was in dieser Tiso-Slowakei sonst geschehen ist. Zwar von den Nazis dazu gedrängt, aber wohl auch aus freien Stücken, führte die Tiso-Regierung eine Judengesetzgebung nach dem Muster der Nürnberger Gesetze des Dritten Reichs ein. Juden hatten einen gelben Stern zu tragen, wurden aus allen öffentlichen Dienststellen entlassen, ihre Geschäfte und Betriebe »arisiert«, also geraubt. Allerdings hatte sich Tiso in der Gesetzgebung ein Schlupfloch gelassen: Der Präsident, also er, konnte Ausnahmen von der Gesetzgebung verfügen. Die gewährte er an die tausend jüdischen Familien, schätzungsweise 5000 Personen.
Doch dann kamen Adolf Eichmann und seine Helfer ins Spiel. Sie forderten die Tiso-Regierung auf, slowakische Juden »zur Umsiedlung« nach Polen auszuliefern. Und bedienten sich eines Täuschungsmanövers: Sie verlangten für diese »Ansiedlung« der Juden in Polen pro Person einen Betrag von 500 Reichsmark und erweckten damit den Anschein, dass es sich tatsächlich um eine Ansiedlung handle.
Was rund um diese Forderung in der Regierung und in der »Volkspartei« vor sich ging, darüber kenne ich keine historisch gesicherten Erkenntnisse. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass der Antisemitismus ein Bestandteil des Tiso-Nationalismus war und das »Umsiedlungsangebot« der Eichmann-Gruppe daher Zustimmung fand. Tausenden jüdischen Familien wurde angeordnet, die Koffer zu packen und sich für den Abtransport nach Polen bereitzumachen. 60.000 Personen sollen es gewesen sein. Und der geforderte Betrag für ihre »Ansiedlung« wurde auch gezahlt. Aber von den angeblich Angesiedelten hörte man bald nichts mehr.
Hingegen meldete sich eines Tages der Päpstliche Nuntius in Preßburg, Giuseppe Burzio, bei Tiso: Der Kirche lägen eindeutige Beweise vor, dass die Juden in Vernichtungslagern ermordet würden. Er appellierte an Tiso, »weitere Tragödien zu verhindern«. Der Nuntius traf sich auch mit dem Stellvertreter Tisos, Vojtech Tuka, und händigte ihm eine Demarche des Heiligen Stuhls aus. Tuka versprach, eine Kommission einzuberufen, die die Situation der slowakischen Juden in Polen überprüfen würde. Der deutsche Autor Rolf Hochhuth zitiert diese Intervention des Päpstlichen Nuntius in Preßburg in seinem Theaterstück »Der Stellvertreter« als Beweis dafür, dass die Kirche und der Papst über die Ermordung der Juden in Vernichtungslagern informiert waren. Tuka hielt Wort und bestellte diese Kommission, auf deren Zusammensetzung allerdings die deutschen Behörden Einfluss nahmen. Dennoch wurde der Kommission die Reise nach Polen verweigert. Zu diesem Zeitpunkt war die Mehrzahl der slowakischen Juden, die nach Polen deportiert worden waren, bereits ermordet, erklärt die angesehene slowakische Holocaust-Forscherin Katarína Hradská. Man zeigte der Kommission das Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen. Dort ließen die Nazis sogar Kommissionen des Internationalen Roten Kreuzes zu. Und einen Film des deutschen Propagandaministeriums, gedreht mit dem Titel »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt«. Darin sah man Lagerinsassen beim Musizieren, beim Theaterspielen, beim Fußballmatch, bei der Gartenarbeit und beim Essen. Mit solchen gestellten Szenen wurden die Kommissionen getäuscht – auch die Kommission aus Preßburg sollte so getäuscht werden. Tatsächlich gingen von Theresienstadt regelmäßig Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz ab. Zwar gab es auch in Theresienstadt vereinzelt slowakische Juden, aber keine, von denen behauptet worden war, sie würden in Polen angesiedelt. Den noch in der Slowakei befindlichen Juden wurden jetzt Erleichterungen gewährt. Der gelbe Stern wurde durch einen kleineren, violetten Keramikstern ersetzt, der wie ein Abzeichen getragen und leicht verdeckt werden konnte. Die tödliche Gefahr für Juden schien abgewendet zu sein. Doch nur für den Moment.
In der Slowakei bahnte sich eine große Wende an. Die Slowakei hatte als Verbündete des Dritten Reichs am Krieg gegen die Sowjetunion teilgenommen, mit zwei Divisionen. Es sei Pflicht, den atheistischen Bolschewismus zu bekämpfen, erklärte der Monsignore Tiso. Aber nicht wenige der slowakischen Offiziere waren anderer Meinung. Sterben für Hitler? War das Pflicht? Über die Front hinweg gab es bald Kontakte zwischen solchen Offizieren und den Verbindungsleuten der auch von Moskau aus operierenden tschechoslowakischen Exilregierung, die unter der Führung des früheren Präsidenten der ČSR, Edvard Beneš, stand.
In der Slowakei wurde der Aufstand vorbereitet. Sowjetische Partisanenführer aus der Ukraine wurden in der Mittelslowakei abgesetzt, organisierten mithilfe von Teilen der slowakischen Armee eine eigene slowakische Partisanentruppe. Sobald die Rote Armee den Gebirgszug der Karpaten erreichte, sollten diese Partisanen die Deutsche Wehrmacht daran hindern, ihre Front über die Karpatenpässe mit Nachschub zu versorgen.
Aber einige Offiziere der slowakischen Armee wollten mehr: Die Tiso-Regierung sollte gestürzt werden – mithilfe der slowakischen Armee, noch bevor die Sowjets kamen. So brach der Aufstand in der Slowakei los, lange bevor die Rote Armee eintraf. Das gab der deutschen Heeresleitung Zeit, mit ihren Truppen in die Slowakei einzumarschieren und den Aufstand zu bekämpfen. Es dauerte fast drei Monate, ehe der letzte Widerstand der Slowaken gebrochen war. Doch das war trotzdem schon das Ende der von Jozef Tiso geschaffenen Slowakei. Tiso durfte zwar noch in seinem Palais in Preßburg residieren, aber was jetzt im Land geschah, bestimmten die deutschen Besatzer. Und mit ihnen waren auch die Häscher Eichmanns wiedergekommen. Den noch in Preßburg lebenden Juden wurde befohlen, sich reisefertig vor dem Rathaus einzufinden, was aber nur wenige taten.
Nun wiederholte sich hier, was in Wien schon Jahre zuvor stattgefunden hatte: Die Juden wurden aus ihren Häusern und Wohnungen abgeführt. Es gab, so hieß es, keinen Widerstand. Das lag wahrscheinlich auch daran, dass die Familien beisammenbleiben konnten und man ihnen erlaubte, pro Person einen Koffer mitzunehmen. So gehe man doch nicht in den Tod, sollte man daraus schließen.
Um diese Zeit aber hatten vermutlich schon alle Juden von Auschwitz gehört. So beruhigte man sie: Nein, sie würden nach Sered gebracht, kein deutsches, ein slowakisches Lager in der Mittelslowakei. Auch sei die Internierung nur für kurze Zeit gedacht – bis die Sowjetarmee »zurückgeschlagen« sei.
In meiner Familie herrschte Entsetzen. Mein Vater glaubte nicht daran, dass Sered die Endstation der Transporte sei, sondern nur ein Umleitungsplatz. Meine Familie hatte mehrere jüdische Freunde, einige von ihnen hatten es geschafft, das Land rechtzeitig zu verlassen, obwohl wir zurzeit nicht wussten, ob ihre Flucht auch geglückt war. Zu den besten Freunden zählte die Familie Kellermann, Vater, Mutter, Sohn. Die waren nicht geflohen, sondern wurden von gemeinsamen Bekannten versteckt. Wo, das wussten nur mein Vater und die Slowakin Kathi. Kathi war einige Jahre als sogenannte »Kinderfrau« bei uns und half meiner Mutter, mich zu betreuen. Kathi heiratete dann, blieb uns aber immer gewogen, und auch unseren Freunden. Sie half mit, die Familie Kellermann zu verstecken und mitzuversorgen. Die Kellermanns überlebten den Krieg und blieben danach noch einige Zeit in Preßburg.
Zurück in das nun deutsch besetzte Preßburg. Jetzt, da alles zusammenzubrechen schien, gab es für mich und meine Mitschüler eine unerwartete Wende. Die Ereignisse hatten uns ziemlich verstreut: Mehrere aus unserer Klasse waren bei der Feuerwehr, andere hatte man über Nacht so eingezogen wie in Deutschland den »Volkssturm«. Unausgebildet wurden sie in das Partisanengebiet geschickt. Zwei unserer Mitschüler waren von dort schon zurückgekommen, sie lagen verwundet im Krankenhaus.
Doch jetzt zur »Wende«. Plötzlich hieß es: Im Gebäude des Gymnasiums werde ein Maturalehrgang eingerichtet (nein, nicht Matura, Abitur hieß es jetzt). Aus der Feuerwehr würden wir entlassen, aber nach dem Abitur nicht mehr zurückkehren, sondern zum Wehrdienst einberufen, zur Waffen-SS. Das war das Schicksal jener Deutschen, die keine Staatsbürger des Deutschen Reichs waren. Die Ungarn hatten das erfunden, sie wollten ihre Deutschen – die »Schwaben« – nicht in den Reihen ihrer Armee haben, die sollte rein ungarisch sein. So boten sie an, die Deutschen nach Deutschland einrücken zu lassen. Aber weil sie keine Reichsbürger waren, durften sie nicht in der Wehrmacht dienen. Heinrich Himmler griff zu, in die Waffen-SS mit ihnen. Dort hatten sie auch einen Namen – sie wurden »Beutegermanen« genannt. Die Slowaken folgten dem Beispiel der Ungarn.
Für meine Mitschüler und mich zählte im Moment, dass wir jetzt weiter in die Schule gehen konnten. Trotz all dem, was in den letzten Monaten geschehen war, Partisanen und Aufstand der Armee, Einmarsch der deutschen Truppen, schwere Kämpfe in der Mittelslowakei, Judenverfolgung – das slowakische »Parlament« funktionierte noch, die Abgeordneten traten zusammen, darunter auch die Abgeordneten der Deutschen Partei. Sie brachten einen Antrag ein: Die Schüler der Abiturklassen des deutschen Gymnasiums und der Handelsakademie seien von allen Kriegsverpflichtungen freizustellen, um ihr Abitur abzuschließen, unter der Bedingung, danach den Wehrdienst anzutreten. Die Formel auf dem Abiturzeugnis hatte man von dem in Deutschland um diese Zeit üblichen »Kriegsabitur« abgeschaut: »Dem Schüler wird die Reife zuerkannt« bei Eintritt in den Wehrdienst.
Wir gingen in die Schule. Auch einige unserer bisherigen Professoren hatten sich eingefunden. Und versuchten, so gut es ging, uns doch noch etwas beizubringen, von der höheren Mathematik, der Chemie, der Physik und auch der Geschichte. Der Geschichtsprofessor hieß diesmal Homann und bestand darauf, dass wir uns dem Studium der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie zu widmen hätten. Einige Schüler murrten, fanden offensichtlich gerade Österreich-Ungarn nicht zeitgemäß. Aber Homann hatte sich das wohl genau überlegt, setzte sich in Pose und sagte mit Nachdruck: »Ihr werdet noch alle der österreichisch-ungarischen Monarchie nachweinen.« Was er damit meinte, verstanden wir, so glaube ich, im Moment alle nicht. Aber ich musste seither oft daran denken.
Trotz der verkürzten Schulzeit nahmen wir das Abitur sehr ernst. Und folgten auch den Traditionen, die in Preßburg anlässlich der Matura immer schon wahrgenommen wurden. Die Schüler wurden mit ihrem Klassenvorstand fotografiert und das Foto als großes Tableau im Schaufenster eines der Geschäfte auf der sogenannten Promenade der Stadt ausgestellt. Das Publikum war also eingeladen, die Maturanten zu bewundern und ihre Leistung zu würdigen. Dazu gehörte noch etwas: Die Maturanten trugen im letzten Monat ihrer Schulzeit ein dünnes, grünes Band im Knopfloch als stolzes Zeichen ihres geglückten Studiums. Auch das grüne Bändchen trugen wir jetzt.
Meine Freunde, Fritz Pospiech, Egon Korinek, Viktor Lacko, und ich beschlossen, zur Feier dieser Matura zum ersten Mal in unserem Leben in eine Bar, einen Nachtclub zu gehen. Den gab es und er befand sich in einem Keller. Auf dem Weg hinunter legten wir unsere Mäntel in der Garderobe ab. Der Oberkellner schätzte uns richtig als nicht sehr zahlungskräftige Gäste ein und setzte uns hinter eine Säule in die letzte Ecke des Lokals.
Die Bühne konnten wir nur mit Mühe sehen. Aber zu hören war alles und eine Sängerin begann gerade einen damals populären Schlager zu singen: »Stern von Rio, du könntest mein Schicksal sein …« Sie kam nicht sehr weit, plötzlich krachte es, der Plafond des Lokals stürzte teilweise ein, danach prasselte durch das Loch eine Ladung Kohle, die im Keller darüber gelagert war. In das Haus hatte eine Bombe eingeschlagen. Eine sowjetische Bombe, wie wir später erfuhren. Das Lokal lag in unmittelbarer Nähe einer von deutschen Truppen besetzten Kaserne, die das Ziel des nächtlichen sowjetischen Luftangriffs war. Es gab in diesem Lokal viele Verletzte. Uns hatte die Säule geschützt, hinter die uns der Kellner gesetzt hatte.
Der Maturalehrgang sollte Ende April beendet sein, aber am 4. April 1945 erreichte die Rote Armee bereits die Vororte von Preßburg. Wir liefen in die Schule. Hier saß unser Klassenvorstand Benno Smekal. Er hatte uns einmal erzählt, wie tapfer er war als k. u. k. Soldat im Ersten Weltkrieg. Jetzt bewunderten wir ihn. Das Donnern der Kanonen war gut zu hören, aber Smekal blieb ruhig und stellte unsere Zeugnisse aus. Dann entließ er jeden von uns mit Händedruck und sagte: »Viel Glück.«
Mit dem letzten Zug, der den Preßburger Hauptbahnhof verließ, fuhren meine Mitschüler und ich nach Wien, eskortiert von einem Unteroffizier, der uns aus dem in Trümmern liegenden Ostbahnhof in das Arsenal führte. Im Arsenal hätten wir rekrutiert werden sollen. Aber die Mühe machte man sich nicht mehr. Die Rote Armee hatte auch schon den Stadtrand von Wien erreicht. Man drückte uns Marschbefehle in die Hand – nach Prag, mit dem Namen der Kaserne, in der wir uns zu melden hätten. Es fuhren noch Züge nach Prag. Und unsere Mitschüler machten sich auf den Weg zum Franz-Josephs-Bahnhof.
Ich hatte eine andere Idee und besprach sie mit meinen Freunden: Wir könnten über St. Pölten, Linz und Böhmisch Budweis nach Prag fahren. Die Fahrtroute war im Marschbefehl nicht vorgeschrieben, nur das Ziel. In St. Pölten, Oberwagram befand sich der Bauernhof meiner Großeltern. Und meine Eltern hatten schon vor einigen Tagen die Fahrt dorthin angetreten. Die könnten wir noch einmal sehen. So fuhren wir mit der Straßenbahn zum Westbahnhof. Da ging heute kein Zug mehr nach St. Pölten. Erst am nächsten Morgen um sieben Uhr.
Vor dem Westbahnhof befand sich eine Unterkunft für Reisende: Es war ein Tunnelsystem und sollte wohl auch als Splittergraben bei Bombenangriffen dienen. Geleitet wurde die unterirdische Unterkunft von einer Oberschwester. Es gab noch einige freie Betten. Wir wurden aufgenommen, aber merkwürdigerweise aufgefordert, unsere Schuhe auszuziehen und zur Aufbewahrung abzugeben. Ich hielt das für eine hygienische Maßnahme. Die Schwester versprach, uns um sechs Uhr früh zu wecken. Wir suchten die uns mit Nummern zugewiesenen Betten auf.
Ich erwachte, sah auf die Uhr, es war 15 Minuten nach sechs. Wir waren nicht geweckt worden. Ich lief zur Oberschwester. Nein, teilte sie mir mit, Tagwache gäbe es erst um sieben Uhr, niemand werde früher geweckt, da alle hier anwesenden Soldaten zu einer Volkssturmeinheit zusammengefasst würden. Aber wir waren noch keine Soldaten, wir waren in Zivil und hatten einen Marschbefehl nach Prag. Ich wartete keine Antwort mehr ab, lief durch das Tunnelsystem und rief laut die Namen meiner Freunde, denn wo sie schliefen, wusste ich nicht. Sie hörten mich und kamen, wir holten unsere Schuhe ab, verließen die Unterkunft und gingen zum Bahnhof. Dort drängte sich eine Menschenmenge durch einen schmalen Zugang zum Bahnsteig. Alle wurden kontrolliert, mit unseren Marschbefehlen konnten wir ungehindert passieren.
Für die Fahrt nach St. Pölten benötigte der Zug mit vielen Aufenthalten nahezu drei Stunden. Er kam auch nur bis zur Bahnbrücke über die Traisen, der Bahnhof selbst lag in Trümmern, er war von amerikanischen Fliegern bombardiert worden. Wir liefen die Bahnböschung hinunter und durch den Stadtpark auf den Weg nach Oberwagram, wo sich der Bauernhof meiner Großeltern befand. Meine Großeltern lebten nicht mehr, aber der Bruder meines Vaters, seine Frau und seine Tochter bewirtschafteten das Anwesen. Einer der Söhne war im Krieg gefallen, ein zweiter noch bei der Wehrmacht. Meine Eltern waren schon da und auch wir wurden freundlich aufgenommen.
Hier hätten wir das Ende des Krieges abwarten können. Um Wien wurde bereits gekämpft, es konnte also nur noch wenige Tage dauern, bis die sowjetischen Truppen auch hier eintrafen. Und einen Entschluss hatten wir bereits gefasst: Wenn nur irgend möglich, nicht in die Waffen-SS! Doch hierbleiben konnten wir auch nicht. Das Haus lag an einem Hügel – und diesen wollten die deutschen Truppen offenbar verteidigen. Jedenfalls erschienen sie in unserem Haus und nahmen den von uns eben erst verlassenen Heustadel als Unterkunft in Anspruch. So zogen wir weiter – nicht vom bombardierten St. Pöltener Bahnhof, aber vom Mariazeller Bahnhof ging noch ein Zug nach Linz. Er war voll mit Flüchtlingen aus den Balkanstaaten. Bei Kleinmünchen wurde unser Zug angehalten, alle männlichen Reisenden mussten zur Kontrolle aussteigen. Einige Passagiere verfügten offenbar nicht über die richtigen Papiere, sie wurden von den Kontrolloren abgeführt. Wir aber blieben mit unseren Marschbefehlen unbeanstandet. Bevor wir wieder einsteigen konnten, warf ich noch einen Blick zurück und traute meinen Augen nicht: Nicht weit von der Kontrollstelle stand ein Baum, an dem zwei Menschen aufgehängt waren. Hätte uns das auch passieren können, fragten wir uns. Konnte uns das noch passieren? Andererseits: Wie viel Zeit blieb uns noch, um von Wien nach Prag zu gelangen, ohne als Wehrdienstverweigerer zu gelten? Von jetzt an nahmen wir dieses Risiko bewusst auf uns. Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern.
In Linz mussten wir in einen Zug nach Böhmisch Budweis umsteigen. Der aber fuhr erst am nächsten Tag – und er war dann so voll besetzt, dass wir nur noch zwischen den Waggons auf den Stoßdämpfern stehend mitfahren konnten. In Budweis mussten wir zwei weitere Tage auf einen Zug nach Prag warten.
In Prag, das hatten uns Mitreisende erzählt, da gäbe es auf dem Wenzelsplatz ein populäres Büffet namens »Koruna«, ein Zentrum des Schwarzmarkts. Dort könne man Zigaretten gegen Lebensmittelmarken eintauschen. Ich hatte viele Zigaretten im Koffer, denn – das war mir schon in Preßburg geraten worden – mit Zigaretten und Schnaps komme man überall weiter. In Prag angekommen, führte uns der erste Weg prompt ins »Koruna«. Das war wirklich überraschend: Für sechs Zigaretten erhielt ich tatsächlich einen Laib Brot! Überhaupt sah hier alles so aus, als lebe die Stadt in tiefstem Frieden. Wir kamen rasch ins Gespräch mit den Leuten.
Nein, Prag hatte noch keine Luftangriffe erlebt. Das sei wohl der tschechoslowakischen Exilregierung in London zu danken, hieß es. Alle Häuser der Stadt waren unbeschädigt. In den Kinos wurden die letzten deutschen Filme gezeigt – mit Marika Rökk und Johannes Heesters, Hans Moser, Theo Lingen und Kristina Söderbaum. Ab und zu sah man auf den Straßen auch Soldaten, deutsche Soldaten in SS-Uniform. Ihr Anblick brachte uns sehr schnell auf den Boden unserer Realität zurück – nämlich zu unserem Marschbefehl mit dem Namen jener Kaserne, in der wir uns melden sollten. Eine SS-Kaserne. Ich hörte die Stimme meines Vaters: »Wenn es irgendwie geht, nicht in die Waffen-SS!«
Wir waren uns einig: Wir wollten versuchen, so lange wie möglich nicht in diese Kaserne zu gehen. Obwohl wir auf den Plakatwänden in Prag die Kundmachungen lasen, wer gerade wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet worden sei. Auf den Straßen gab es Patrouillen, denen galt es auszuweichen. Naheliegend war, ins Kino zu gehen, so oft wie möglich. Und schlafen? Auch das bot sich an: In den großen Hallen des Prager Hauptbahnhofs lagerten jede Nacht viele Flüchtlinge. Das taten wir nun auch. Aber nicht lange. Eines frühen Morgens tauchte überraschend eine SS-Patrouille auf und kontrollierte alle Anwesenden, auch uns. Ob wir denn wüssten, wie man zu der in unserem Marschbefehl angeführten Kaserne käme? Nein, sagten wir. Das treffe sich ja gut, hieß es, die Patrouille werde jetzt in genau diese Kaserne zurückkehren, wir könnten uns ihr gleich anschließen.
Vor dem großen Tor der Kaserne stand ein SS-Posten. Als wir an ihm vorbeigingen, fragte ich mich, ob wir hier noch lebend herauskämen. Denn mitten im Hof standen schon einige uniformierte Männer, die ebenfalls von Patrouillen aufgegriffen worden waren und offensichtlich als Deserteure galten. Wir mussten neben ihnen Aufstellung nehmen, den Marschbefehl aus Wien hatte man uns abgenommen. Namen wurden aufgerufen, die Männer neben uns verschwanden, einer nach dem anderen. Dann waren auch wir an der Reihe. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Zu viert brachte man uns in die Schreibstube. Das sah nun nicht nach Standgericht aus. Der Mann dort in SS-Uniform hielt ein Schreiben in der Hand. Ein Fernschreiben aus dem Wiener Arsenal, wie sich herausstellte. Es enthielt unsere Namen und eine Korrektur: Wir seien irrtümlich nach Prag in Marsch gesetzt worden – und sollten jetzt unverzüglich zu einer SS-Panzergrenadier-Division in Nienburg an der Weser weitergeleitet werden. »Wo ist Nienburg an der Weser?«, fragten wir. »Bei Paderborn«, sagte der Schreiber. Das aber wussten wir schon aus den aktuellen Wehrmachtsberichten in der Zeitung: Paderborn war am Tag zuvor »in die Hand des Feindes gefallen«. Auch der Schreiber wusste das. Er musterte uns und sagte dann ganz ungeniert: »Da lauft ihr halt gleich in Zivil über.«
In diesem Moment war ich nur verblüfft, konnte meinen Ohren kaum glauben. Aber im Nachhinein klang es mir so, als hätte uns der Mann das im Ton des Sich-selbst-Bedauerns gesagt, weil er selbst diese Chance nicht hatte. Er stellte uns einen neuen Marschbefehl aus – nach Nienburg an der Weser. Und niemand hatte danach gefragt, wieso wir für den Weg von Wien nach Prag drei Wochen gebraucht hatten.
Noch einmal zurück zum Hauptbahnhof. Dort schien alles in Auflösung begriffen zu sein. Wir fragten nach Nienburg an der Weser, dem Ziel unseres Marschbefehls. Geht nicht, in dieser Richtung bestenfalls noch bis Aussig an der Elbe. »Auch bis Brüx?«, fragte ich. »Ja, das können Sie versuchen.« Die Schwester meiner Mutter hatte dort ein Haus. So fuhren wir nach Brüx in das Haus meiner Tante. Dort hörten wir Radio, das deutschsprachige Radio Prag. Das klang aufgeregt. Die amerikanischen Truppen hatten Pilsen erreicht. Offenbar erwartete man, dass sie nun rasch nach Prag vorrücken würden. Aber dann hieß es, die Amerikaner hätten den Vormarsch eingestellt. Und – die Tschechen in Prag hätten sich bewaffnet und würden auf »die Deutschen« schießen – auf die Wehrmacht, die Waffen-SS? Doch bald darauf unterbrach Radio Prag seine Sendung. Tags darauf wussten wir weshalb: Vor unseren Fenstern sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten. Sie waren dabei, in Brüx einzumarschieren. Den Soldaten folgte ein langer Zug von Panjewagen, von Pferden gezogene Leiterwagen, der Nachschub.
Wie in Prag, so trat auch in Brüx jetzt eine tschechische bewaffnete Truppe auf. Aber hier wurde nicht geschossen. Einige Tage später war der Krieg zu Ende. Deutschland hatte kapituliert. Welch ein Moment! Die Diktatur ist zu Ende, und hoffentlich kommt keine neue! Sehr schnell bildete sich in Brüx ein tschechischer sogenannter »Nationalausschuss«, auf dessen Anordnung offenbar nun alle Wohnungen und Häuser von den Milizionären durchsucht wurden. Wir meldeten uns bei diesem Nationalausschuss und ersuchten um eine Reisebewilligung nach St. Pölten. Sie wurde uns ausgestellt. Auch der Zugsverkehr nach Prag wurde rasch wieder aufgenommen. Wir nahmen Abschied von meiner Tante, hatten aber keine Ahnung, dass ihr und der Familie ihres Mannes in Kürze die Enteignung und Vertreibung aufgrund der seither berüchtigten Beneš-Dekrete bevorstand. Wir fuhren über Prag nach Böhmisch Budweis und von dort – immer noch mit der Bahn – bis an die österreichische Grenze bei Gmünd, Niederösterreich. Von dort allerdings ging es zu Fuß weiter.
Bei Pöchlarn trennten sich unsere Wege. Unsere Odyssee war zu Ende. Meine Freunde wollten versuchen, nach Oberösterreich durchzukommen, ihre Eltern vermuteten sie in Traunkirchen im Salzkammergut. Wir nahmen uns vor, sobald wir wussten, wo wir landen würden, einander Briefe zu schreiben – hauptpostlagernd Wien. Und das funktionierte sogar. Ein Jahr später besuchte ich sie in Traunkirchen.
Meine Eltern und ich wollten von St. Pölten zurück nach Preßburg. Mein Vater hatte sich uneingeschränkt zur Demokratie und der tschechoslowakischen Republik bekannt. Das wurde zwar anerkannt, aber für einen »Deutschen«, und als solche galten auch die Österreicher, sei nun kein Platz mehr in der neuen Beneš-Republik. Für meinen Vater war St. Pölten ja eigentlich eine Heimkehr und für mich auch keine Fremde, denn ich war als Kind oft in den Ferien auf dem Bauernhof meiner Großeltern.
Mit Eifer machte sich mein Vater daran, die Zeitungen des niederösterreichischen Pressvereins aufzubauen, die Zeitungen für St. Pölten, Krems, Amstetten und Wiener Neustadt. Niemand beneidete ihn um diese Aufgabe, niemand anderer wollte sie auch übernehmen. Denn das war Pressearbeit in der sowjetischen Besatzungszone. Die Regierungsmitglieder taten sich leicht, sie waren unangreifbar. Sie fuhren an den Wochenenden durch Niederösterreich und hielten wichtige Reden – gegen die Übergriffe der Sowjetsoldaten, gegen die USIA-Läden, gegen die sowjetische Ausbeutungspolitik. Darüber hatten die niederösterreichischen Zeitungen zu berichten und taten das auch. Aber jeden Freitag musste mein Vater vor dem Zensur-Offizier der Sowjets in St. Pölten erscheinen, um sich für den Inhalt seiner Zeitungen zu verantworten. Da kam es fast immer zu Auseinandersetzungen und Abmahnungen, und man konnte nicht sicher sein, wie das letztlich ausgeht.
Ich war einige Male dabei, wenn mein Vater am Freitagmorgen aufbrach. Er zog sich zwei Paar Socken und winterfeste Schuhe an, und er steckte sich eine Handvoll Würfelzucker in die Taschen. Das, so meinte er, hatte er in der russischen Kriegsgefangenschaft gelernt. Sollten die Sowjets ihn verhaften und verschleppen, musste er gutes Schuhwerk und zumindest die ersten Tage Nahrung dabeihaben. Was immer es auch genutzt hätte, er glaubte daran, ein Komplex aus der Kriegsgefangenschaft.
Jahrelang mussten meine Eltern ihre kleine Wohnung mit einer sowjetischen Offizierin im Rang eines Majors teilen, Küche und Bad inbegriffen. Sie wurde zwangseinquartiert. Im Jahr 1955 musste die Frau Major ihr Quartier räumen. Ich sah das Zimmer. Sie hatte es mit einer langen Schleife aus Klopapier dekoriert und auch ein Bild hinterlassen, offenbar das Einzige, das sie hatte: Josef Stalin. In den Wänden sah ich einige Einschusslöcher. Meine Eltern berichteten davon, die Majorin hatte oft Gäste und manchmal ging es sehr laut zu, einschließlich einiger Revolverschüsse. Offenbar nach Lust und Laune.
So hielt mein Vater den Posten als Chefredakteur der niederösterreichischen Zeitungen während der gesamten Besatzungszeit. Jahre später erhielt er dafür einen niederösterreichischen Orden und danach einen blaugelben Blumenkranz auf sein Grab.
Doch zurück zum Jahr 1945.