Читать книгу Der tadellose Herr Taft - Husch Josten - Страница 12
Flucht.
ОглавлениеVeronikas Eltern hatten Taft lange angesehen. Ihr Vater Walter, Chirurg. Ein stiller, gehetzter Charakter, oft kühl, wobei eine latente Erbarmungslosigkeit seinem Beruf sicher zuträglich war. Und ihre Mutter Agnes, Gartenarchitektin. Selbstvergessen. Eine unzugängliche Dame mit fest umrissenen Vorstellungen von allen Dingen ihres Lebens und übrigens dem gleichen roten Haar wie Veronika. Beide hatten nicht gefragt. Sie hatten Taft lange angesehen und, so wenigstens war es ihm vorgekommen, sämtliche Begegnungen mit ihm Revue passieren lassen, als liege darin die Antwort auf die Frage, wovor ihre Tochter geflohen war. Sie waren besorgt, nicht ängstlich, vor allem aber wirkten sie nicht schockiert, was Taft kränkte. Wie er zu einem Privatdetektiv stehe, fragte sein Schwiegervater knapp.
Darüber muss ich nachdenken.
Ich verstehe. Aber wenn es ihre Entscheidung war – wozu ein Detektiv?
Dem war nichts entgegenzusetzen. Überdies: Die Vorstellung, einen Detektiv zu beschäftigen, gehörte in eine irreale Welt, den Poirot-, Marlowe-, Rockford-Kosmos, das war Kino. Taft rief immerhin Veronikas Steuerberaterin an, wenngleich er im Voraus wusste, wie unsinnig es war. Natürlich würde seine Frau keine nennenswerten Steuerschulden angesammelt oder sich sonst eines Delikts schuldig gemacht haben, das einer Flucht würdig wäre. Aber der Begriff – Flucht – beunruhigte Taft zutiefst. Bedrohung. Verfolgung, Geheimnis, Schuld. Möglicherweise hatte Veronika Feinde, von denen er nichts ahnte. Und wenn sie imstande war, so plötzlich zu verschwinden – warum sollte sie nicht ebenso fähig gewesen sein, neben dem Leben mit ihm ein anderes zu führen, nicht nur die Frau zu sein, die er zu kennen geglaubt hatte, sondern eine Betrügerin, Spielerin, Süchtige mit Schulden bei den falschen Leuten? Eine Prostituierte, der es gefiel, wenn jemand ihr Geld zusteckte, bevor sie sich auszog und vor ihm auf die Knie ging – irgendwo in einem verkommenen oder auch gar nicht verkommenen Hotelzimmer. Möglicherweise fürchtete sie die Eifersucht eines Freiers, eines Perversen, der sich nicht mehr an die Spielregeln hielt. Vielleicht arbeitete sie auch für den Geheimdienst, irgendjemand musste das ja machen. Und die Zahnklinik nur bürgerliche Tarnung? Taft überlegte und recherchierte in alle Richtungen, in Zeitungen, im Internet: Hatte es einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben, einen Überfall irgendwo? Unzählige waren schon in Situationen geraten, die sie unschuldig zur Flucht getrieben hatten. Er fand nichts. Und glaubte es auch nicht. Welche Möglichkeiten er auch durchdachte: Veronika hatte kein abgeschmacktes Zweitleben geführt. Sie hatte einen Grund gehabt, ihn zu verlassen. Einen sehr guten Grund, den er erfahren würde. Eines Tages.
Niemand hörte von ihr. Der mit Veronikas Fall betraute Beamte meldete, dass eine Ausreise aus Frankreich nicht bekannt sei, aber das hieße natürlich nichts: Wir leben in Europa. Ihre Frau kann sich, wenn sie will, in Luft auflösen. Solange sie keine Straftat begangen hat, die sie auf die Fahndungslisten von Europol setzt, ist es die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Sie könnte unbemerkt überall hingereist und von dort aus weitergeflogen sein. Sie könnte auch ein Privatflugzeug genommen haben. Es gibt zu viele Möglichkeiten, Monsieur Taft. Einfach zu viele Möglichkeiten. Denken Sie nach: Wirkte sie verändert? Hat sie jemanden kennengelernt, von neuen Bekannten gesprochen? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Taft grübelte über diese Möglichkeiten und auch über die Würde der Flucht. Immer wieder ließ er das Telefonat Revue passieren, seinen Inhalt, den Klang ihrer Stimme, den plötzlichen Stimmungswandel, sofern es ihn gegeben hatte … Wieder und wieder kam er zum selben Ergebnis: Sie musste vorher gepackt haben. Während der kurzen Zeit seiner Reise von Berlin nach Paris konnte das derart gründlich kaum erledigt worden sein. Doch welcher Umstand war, abgesehen von denen, die er verworfen hatte, in diesen Tagen im demokratischen, meinungsfreien, rechtsstaatlichen Teil Europas eine Flucht wert? War Bleiben oder Flüchten tapferer? Und in Veronikas Fall: Ging es um Tapferkeit oder Mut? Was genau hätte Tapferkeit oder Mut im Zusammenleben mit ihm erfordert? Denn davon musste er ja wohl ausgehen: dass ihre Flucht wesentlich, wenn nicht allein mit ihm zu tun hatte. Von ihm war sie fortgegangen. Vor ihm war sie geflüchtet.
Er fragte jeden: Kollegen. Bekannte und Freunde. Ärzte. Zu verlieren hatte er nichts mehr. Ihre Freundin Julie, die derart überrascht war, Taft vor ihrer Wohnungstür zu sehen, dass kein Zweifel an ihrer Unwissenheit bestand. Veronikas Chef, Gabriel Montard, der die internationale Zahnklinik an der Rue Chernoviz leitete: ratlos. Ihre Hausärztin Nathalie Mercier. Monsieur César vom arabischen Supermarkt an der Straßenecke zur Rue Mignard: erschrocken. Madame Chappe von der Reinigung, die ihm ein Cocktailkleid in die Hand drückte und sechs Euro verlangte: gelassen. Sie reichte ihm Veronikas puderfarbenes Seidenkleid mit dem gerafften Ausschnitt in einer durchsichtigen Plastikfolie. Der Geruch des Stoffes darin neutral. Bereinigt. Taft konnte sich nicht erinnern, wann sie es zuletzt getragen hatte. Niemand, selbstredend auch nicht Madame Chappe oder Monsieur César, wäre auf die Idee gekommen, dass Veronika nicht mit ihrem Ehemann Ferien machte oder arbeitete und ihr Leben lebte wie immer. Die fragenden Gesichter seiner Gesprächspartner eine demütigende Angelegenheit. Taft entblößt, beäugt, bemitleidet. Was (pour l’amour de Dieu!) hatte er mit Veronika angestellt, dass sich diese liebenswerte, höfliche, selbstbewusste Frau zu diesem Schritt gezwungen sah? Erst nach und nach wurde ihm bewusst, dass es weitaus schlimmer hätte kommen können. Er verdankte es seiner Geschäftsreise, den Aussagen sämtlicher Nachbarn und Freunde sowie der Loyalität seiner Schwiegereltern, dass er nicht ins Zwielicht geriet und auf einer Polizeiwache Rede und Antwort stehen musste. Einem einzigen Anruf von Veronika bei ihrer Mutter verdankte er schließlich, dass er das Vertrauen seiner Schwiegereltern auch behielt: Es geht mir gut, versicherte Veronika. Ihr müsst das verstehen … Alles hat sich geändert. Daniel kann nichts dafür, wirklich nicht, Daniel kann nichts dafür. –
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Daniel, fügte seine Schwiegermutter Agnes hinzu. Das hat sie gesagt. Mehr nicht. Ich konnte auch nichts fragen, sie hat das Gespräch sofort beendet, nachdem sie mir mitgeteilt hat, was sie mitteilen wollte. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.
Taft legte auf und schrie. Er schrie ins Sofakissen, dass es heiß und nass wurde von seinem Atem. Er schrie und schlug darauf ein, dass es sich lächerlich krümmte. Wie lange, wusste er später nicht mehr. Nur, dass er es letztlich aus dem Fenster warf und glaubte, danach nie wieder etwas tun zu können.
Erst Wochen nach diesem Anruf brachte Taft die Kraft auf, seine Situation zu verändern. Er beantragte ein freies Jahr bei Sandhurst Real Estate und ließ sich darauf ein, nicht wieder in derselben Position einsteigen zu können. Seine mangelhafte Konzentration ließ anderes auch nicht mehr zu: Der Schmerz machte ihn paranoid. Er fühlte sich beobachtet, bildete sich ein, Veronikas Anwesenheit zu spüren, dann stürzte er zum Fenster, aus der Tür, suchte nach ihr wie ein Getriebener, ein halluzinierender Geisteskranker, um festzustellen, dass er einer ahnungslosen Passantin hinterhergejagt war. In manchen Nächten löschte er alle Lichter in seinem Appartement, setzte sich ans Fenster und suchte mit einem Fernglas die gegenüberliegenden Wohnungen ab, als ob Veronika in einer davon wohnte. In seinem Zustand konnte er nicht mehr gewissenhaft arbeiten. Die Wohnung in Paris vermietete er möbliert an ein frisch vermähltes Paar und wünschte ihnen Glück; offenbar brauchte man weit mehr davon, als er ohnehin schon angenommen hatte. Und dann zog Taft an einem nasskalten, grauen Novembertag in Veronikas deutsche Heimatstadt. Eine einstige Römersiedlung am Rhein mit gewaltiger Kathedrale und von Schlaglöchern invaliden Straßen. Vom Krieg zerstört und ohne Ambitionen wieder errichtet, hier und da Zeugnisse alten Glanzes, oft lieblos zugebaut. Eine Stadt, der man auch in den prosperierenden Jahren des Landes architektonische Nackenschläge nicht erspart hatte und in der über die Jahrzehnte etliche bauliche Experimente gewagt wurden, sodass das Ensemble dem graubraunen Klumpen einer missglückten Töpferarbeit glich. Wenn Veronika zurückkehrte, dann würde sie zunächst an diesen eigensinnigen Ort zurückkehren, dessen war sich Daniel Taft sicher. Sie würde ihre Heimatstadt wählen, die sie, jeweils aus denselben Gründen, verabscheute und liebte. Und so mietete Taft die Wohnung und das Ladenlokal in der Alten Straße. Wartete. Machte von sich reden.