Читать книгу Der tadellose Herr Taft - Husch Josten - Страница 13
Theorie.
ОглавлениеEr hatte es nicht für möglich gehalten, dass sich derart viele Menschen für das schlichte Geschäftskonzept interessieren würden, das ihm zufällig eingefallen war und das er ohne besondere Passion umgesetzt hatte. Beim Packen hatte er die Zettel wahrgenommen, die er seit Veronikas Auszug beschmiert hatte. Grüngraue Zettel von ihrem umweltfreundlichen Abreißblock neben dem Telefon. Überall in der Wohnung lagen sie herum: Gedächtnisstützen. Theorien. Zornige Kritzeleien. Und wenn man solche Zettel nun verkaufen würde? Den Gedanken teilen würde? Taft fühlte sich keineswegs berufen, Händler zu sein. Eine Mission hatte er schon gar nicht. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen läutete an manchen Tagen unablässig die Türglocke – vom Vormieter, dem Schuster, mit einem verbogenen Messingstab angeschraubt. Gleichgültig ließen Taft die Theorie-Besucher, die seinen Laden lobten und anerkennend über die Ideenkarten nickten. Ah, ‚Augenscheinwelt‘! Oh, ‚Skrupel‘! Oder: ‚Schwurkraft‘, wie interessant! Bedauern empfand er mit jenen, die gar nichts suchten, die sich glücklich erklärten und zu verstehen gaben, zu ihrer Erfüllung nichts zu benötigen – schon gar kein Thema. Zufrieden stimmten ihn die, die sich leise durch die Karten arbeiteten, irgendwann eine von Wand oder Decke pflückten und kopfüber auf den Tresen legten. Er sah nie nach, welche sie gewählt hatten, drehte die Karten nie um. Da alle Ideenkarten denselben Preis hatten, bestand auch keine Veranlassung zur Indiskretion. Taft musste nicht einmal befürchten, sich zu wiederholen. Er wusste, welche Begriffe er verbraucht hatte. Die Liste bewahrte er in der Schublade des Schustertresens auf. Neue Wörter fand er ohne Mühe in den Gedankenfetzen, die durch seinen Kopf flirrten, hier auftauchten, dort länger verweilten, ab und zu zurückschossen. Ihn trafen.
Das Gros der Theorie-Kunden sah sich gezwungen zu reden. Ein kurzer Blick – erwartungsvoll – auf Taft. In sein von Natur aus freundliches, aufgeschlossenes Gesicht. Sie beobachteten, wie er ihnen einen Kaffee zubereitete und die Tasse, mit Keks, Löffel und Zucker auf der Untertasse, für sie auf den Tresen schob. Dann plapperten die Menschen eilfertig, als müssten sie ihr Kommen rechtfertigen, darlegen, wonach sie suchten oder wer sie geschickt hatte. Sie sprachen mit Taft wie mit einem Freund, den sie nicht kannten, weil sie meinten, Theorie zu verstehen. Als verrate die Idee des Ladens alles über ihn. Als kennten sie ihn, weil er dieses Geschäft eröffnet hatte, einen Laden, der „die Individualität zum Maßstab erhob“ (er verabscheute die Formulierung, die ein Hochglanz-Magazin für Theorie gewählt hatte). Als läge ihm daran! Doch wenn jemand einen solchen Laden erfand, glaubten die Leute, dann verriet es ihn und seine Vorstellungen vom Leben, den Ursprung seiner Ideen. Es schien ihnen, als offenbare das Geschäft Tafts eigene Suche. Von der aber hatten seine Kunden und Besucher keine Ahnung. Daniel Taft suchte nicht nach seinem Thema. Schon lange nicht mehr. Er drehte sich nicht um seine Achse, rang auch nicht mehr um die verlorene Orientierung. Er hatte sich der Fahrigkeit seiner Gedanken ergeben und wollte darin nur eines finden: ihr Thema. Veronikas.
Noch in Paris, in den schlimmsten Tagen, hatte er sich vorgenommen, ihre Gesichtszüge und den Klang ihrer Stimme nicht zu vergessen. Er wollte auf keinen Fall, dass ihm seine Frau bei einem Wiedersehen fremder erscheinen würde als bei ihrer letzten Begegnung in der gemeinsamen Wohnung in Paris. Kurz vor seiner dreitägigen Reise nach Deutschland war das gewesen. Unter anderem hatte er in Potsdam nach der Sieben-Millionen-Villa eines amerikanischen Filmproduzenten am Griebnitzsee sehen müssen. Der Mann, dessen Eltern den Nationalsozialisten nur knapp entkommen waren, hatte das Anwesen Anfang der 2000er-Jahre aus Sentimentalität gekauft und aufwendig saniert, sehr zum Ärger der vorher dort einquartierten DDR-, dann bundesrepublikanischen Kindertagesstätte, deren kleine Kunden das prachtvolle Gebäude gründlich verwohnt hatten. Nur vier Mal war der neue Eigentümer seither dort gewesen, vermieten wollte er den Palast nicht. Sogar das hatte Taft erwogen: dass Veronikas Weggang mit dieser Reise zu tun hatte. Dass sie genug hatte von seinen Diensten für gedankenlose Reiche, von seiner Arbeit, die sie für wenig sinnstiftend hielt, wenn sie auch wusste, dass sie für Taft lediglich das Sprungbrett in die Führungsetage des Mutterkonzerns Sandhurst Trust darstellte. War sie anders gewesen an jenem Morgen? Hätte er an ihrem Verhalten erkennen können, dass sie den Hausstand in Kartons packen würde, sobald er im Taxi saß? Er sah sie vor sich in ihrem weißen Frottee-Bademantel, die mahagoniroten Haare nass über den Schultern, die Augen noch ohne Lidstrich, den sie jeden Morgen vor einem Vergrößerungsspiegel exakt zog, noch ohne schwarze Tusche, die sie mit hastigen Schwüngen auf die Wimpern auftrug. Alles nackt, unverfälscht, wohlriechend. Sex zum Abschied in der Diele, an die Wohnungstür gelehnt. Ihre Gänsehaut unter seinen Händen. Sein Mund auf ihrem Rücken, ihrem Nacken, ihre Arme fest gegen die Tür gestemmt. Alles unverbraucht, sorglos, aufregend.
Du wirst doch nicht etwa alt?, hatte sie ihn gefragt, als er sich wieder anzog.
Ich werde das Flugzeug verpassen.
Es gibt viele Flüge nach Berlin, Daniel, komm schon. Sie küsste ihn, knöpfte sein Hemd wieder auf, fuhr mit ihrem Zeigefinger von seinem Hals hinunter zu seinem Gürtel, öffnete die Schnalle und schob ihre Hand in seine Hose. Nur einmal? Sei nicht albern!
In den ersten Tagen nach der Rückkehr aus der deutschen Hauptstadt hatte sich Taft seine Frau so gut eingeprägt, wie man sich einen Menschen außer Sichtweite einprägen kann. Diesen Abschied an der Wohnungstür im dritten Stock der Rue de la Tour 123. Ihre Perlmutthaut mit den Sommersprossen. Ihr gleichmäßiges Atmen und ihren leicht herben Tonfall. Ihr rundes Gesicht mit dem grundskeptischen Ausdruck, ihre grüngrauen Augen mit dem betörenden Lidschlag, ihren Mund, Ober- und Unterlippe gleich voluminös, gleich weich, ihren Duft, Jasmin und Rose in der Herznote. Sich auf sie zu konzentrieren nahm ihn vollauf in Anspruch. Nur deswegen hatte er zunächst so wenig Ablenkung wie möglich gewollt. Höchstens den Laden in ihrer Heimatstadt. Sonst nichts. Jede Minute für Veronika. Jeder Atemzug für sie. Jedoch musste Taft bald schon feststellen, dass ihn die vielen Stunden veränderten, in denen er kein Wort an jemanden richtete. Seine mit weißen Sperrholzmöbeln wenig behaglich eingerichtete Behausung betäubte ihn zusätzlich. Zunehmend schwer von Begriff, starrte er Menschen an. Hörte, was sie sprachen. Verstand durchaus, was sie meinten. Doch er war nicht in der Lage, ihnen zu antworten oder überhaupt sein jeweiliges Gegenüber und dessen Worte in Zusammenhang zu bringen. Er verwarf Gesichter, vergaß sie, sobald sie aus seinem Blickfeld vor der Kasse verschwunden waren. Dies aber war nicht im Interesse seiner Sache: dass Veronika eines Tages zurückkam und in ihm einen anderen Mann, einen verblödeten Ignoranten vorfinden würde.
--- I WAS DOING ALL RIGHT. Anfang April, der Frühling meinte es gut, und immerhin: Taft hatte den Winter überstanden. Einen Monat nach ihrem ersten Besuch stand Olivia Schattseit wieder im Laden: Erinnern Sie sich an mich? – Er sah auf. Die blonden Haare kürzer als bei ihrem ersten Besuch, genauso zerzaust. Ihr Gesicht darunter so auffallend offen und zarthäutig, wie er es beim ersten Mal gefunden hatte, unvoreingenommenes Lächeln, tiefe Grübchen in den Wangen. Olivia Schattseit, nannte sie ihren Namen. Nur für den Fall, dass Sie es vergessen haben … – Er hatte es nicht vergessen. Sie erwartete keine Antwort, arbeitete sich sogleich durch seine Karten, ohne ihn weiter zu beachten. Diesmal nicht in Armeehosen, sondern in einem hübschen blaugrünen Kleid mit Taillengürtel. An ihrem linken Handgelenk eine schwere, stabile Herrenuhr, in ihrer Rechten eine hellbraune Ledertasche mit goldenem Verschluss, an ihren Füßen sandfarbene Turnschuhe. Sie registrierte jede neue Ideenkarte, er beobachtete ihr Lesen und Prüfen. Musik in seinem Kopf. Musik, die Olivia auflegte. I was doing all right. Warum dachte er einen Song, in dem es w-a-s doing all right hieß? Jim Hall. Dexter Gordon. Stan Getz. Olivia veränderte den Raum, als gebe sie ihm eine andere Farbe. Zwei Kartenwände seines Geschäfts hatte sie studiert, als sie sich zu ihm drehte: Theorie ist immer noch erfolgreich, stellte sie fest, das freut mich! Und es gibt viele neue, interessante Begriffe. Ich vermisse trotzdem ein paar wichtige. Zum Beispiel ‚Europa‘. Wie wäre es damit? Was halten Sie davon? – Taft zog eine Augenbraue hoch: Nicht viel, entgegnete er. Europa ist alles und nichts. Es klingt, verzeihen Sie, irgendwie naiv. – Ach, Taft, antwortete sie und zog ein Gesicht, dass er ihre Grübchen sehen konnte. Sie reagieren wie die meisten: leben mittendrin in Europa, haben aber keinen Bezug dazu. Finden Europa irgendwie gut, reisen umher, haben aber keine Lust, sich auch nur ein bisschen mit den historischen Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten zu beschäftigen … Olivia holte kaum Luft und arbeitete sich für ihn ab: Die Referenden in Frankreich und den Niederlanden damals, vor Jahren, waren eine Katastrophe. Die Planlosigkeit jetzt … Oder sagen wir: Die Fehlgewichtung der Themen jetzt könnte zur Bankrotterklärung werden. Ich finde, das ist eine wichtige Angelegenheit, zu der man die eine oder andere Idee gebrauchen könnte … Aber wenn ich Ihre Karten so ansehe … Jetzt atmete sie tief: Sie interessieren sich nicht für Politik, richtig? – Überhaupt nicht. – Dann wären Sie kein Mann für mich. – Ich hatte nicht vor zu kandidieren. – Und ich bin nicht auf der Suche. Olivias Blick belustigt. Nach einer kurzen Pause bekannte sie: Aber wie können Sie sich nicht für Politik interessieren, wenn Sie einen Laden haben, der Ideen verkauft? Das ist geradezu, na ja, fast unanständig! – Sie, Olivia, könnten jedenfalls nie in einem Staat leben, in dem es Probleme mit der Meinungsfreiheit gibt, das steht fest. Taft musste lachen. – Olivia Schattseit wurde ein bisschen rot: Ich werde nicht schlau aus Ihnen, Taft, das ist es. Das war bei meinem ersten Besuch nicht anders, darum rede ich so viel. Sehen Sie, mir erscheint es folgendermaßen: Sie machen einen Laden auf, der interessant ist, aber Sie selbst haben überhaupt kein Interesse daran. Sie begegnen den ganzen Tag Menschen mit unterschiedlichsten Leidenschaften und Begehren, aber Sie selbst bringen nicht einmal Leidenschaft für Ihr eigenes Projekt auf. Sie offerieren Themen, möchten aber über nichts und schon gar kein Thema sprechen. – Ach, Schattseit, imitierte er sie. Seufzte, wie sie zuvor ihn beseufzt hatte. Sie reagieren wie die meisten Leute: Fast alle meine Kunden wissen besser als ich, wer ich bin und was ich will, wissen ganz genau, warum ich diesen Laden eröffnet habe und was ich damit bezwecke. – Mein Vater möchte Sie kennenlernen, war ihre Antwort. – Das brachte Taft aus dem Takt, mehr, als er es ohnehin schon war. Das Gespräch mit ihr sein erster vernünftiger Dialog seit Monaten, wobei er gedanklich gleichermaßen anwesend und abwesend war, immerhin: Das war ein Fortschritt. Allerdings schweifte seine Vorstellung immer wieder ab zu ihrem Hintergrund. Wie sie wohnte, was sie machte, wo sie herkam. Olivia Schattseits Anwesenheit irritierte ihn, ohne dass er eine Erklärung dafür fand: Er war nicht interessiert, so wenig auf der Suche wie sie, zu angeschlagen für Ablenkung dieser Art. Aber Olivia machte ihn aufmerksam. Die Nachdrücklichkeit ihres Wesens war schwer zu deuten. – Mein Vater, fuhr sie fort, würde gern wissen, also von Ihnen persönlich hören, warum Sie diesen Laden eröffnet haben und was Sie damit bezwecken. – Außerordentlich freundlich, dieses Interesse. – Wie kommt es eigentlich, dass Sie heute derart gesprächig sind, Taft? Bei meinem letzten Besuch haben Sie kaum mit der Wimper gezuckt. – Ich habe mich davon erholt, gab er zurück, denn das war nichts als die Wahrheit. – Sie sind ein Brite mit einer deutschen Mutter, der in Frankreich studiert und gearbeitet hat, für ein internationales Unternehmen, für das Sie quer durch Europa gereist sind. Das stand zumindest in dem Artikel im Handelsmagazin, den ich über Sie gelesen habe. Es lag im Flugzeug aus. Bei einer solchen Biographie: Wie können Sie sich da nicht für Europa interessieren? – Ich habe nie gesagt, dass ich mich nicht für Europa interessiere, das waren Sie. Ich habe nur bejaht, dass ich mich nicht für Politik interessiere. Das ist ein Unterschied. – Das ist kein Unterschied, Unsinn! Sie können sich nicht für Europa interessieren und dabei desinteressiert sein an der Politik dieser ganzen wilden Horde von Ländern und Menschen und Ideen und Lebensentwürfen und Verfassungen, an dieser inhomogenen Truppe, die ein Verein sein will. – Will sie das denn tatsächlich?, fragte Taft. Erklären Menschen allen Ernstes: Ich will Europäer sein, Mitglied dieser – wie haben Sie es genannt – ganzen wilden, inhomogenen Horde? Ich nehme an, die meisten freuen sich, dass in weiten Teilen Frieden herrscht, dass sie problemlos reisen können, aber das war’s dann auch. Es will sich doch im Ernst keiner damit beschäftigen, ob der Präsident des Europäischen Parlaments vierzehn Stellvertreter braucht oder achtundzwanzig Volkskommissare über die Leuchtmittel in europäischen Lampenkörpern oder die medizinisch vernünftige Kaudauer von Kaugummis befinden. – So!, packte sie die Gelegenheit beim Schopf. Wieder ihr Lächeln: Sie interessieren sich also nicht für Politik? Erstaunlich! – Ziehen Sie keine falschen Schlüsse aus den Zahlen, Schattseit. Sie stehen in etlichen Zeitungsartikeln zum Bürokratiewahnsinn Europas. – Die Bürokratie ist beim Meckern über die EU das, was beim Meckern über die Kirche die Kondome sind: ein wunder Punkt, auf den sich alle stürzen, der aber mit der Sache selbst eigentlich wenig zu tun hat. Ich glaube im Übrigen nicht, dass die Leute tatsächlich so desinteressiert sind. – Taft musste lachen. Das mit den Kondomen gefällt mir, sagte er. Man stelle sich vor: das Kondom als Rettungsschirm … Jedenfalls halte ich das Volk nicht für desinteressiert oder zu dumm. Im Gegenteil glaube ich, dass das Volk, was Europa angeht, viel besser weiß, was möglich, was realisierbar, was wirklich wichtig ist als die Politiker. Und um bei Ihrem Bild zu bleiben: Am Ende sind es die Kondome, um die es geht, die Leuchtmittel und Kaugummis in Europa. Die Lebenswirklichkeit, mit der sich die Bürger besser auskennen als die Politiker – und ja, ich unterscheide zwischen beiden gerade bewusst. Also: Wieso genau möchte Ihr Vater mich kennenlernen? – Ich habe ihm von Ihrem Laden erzählt und er hält Sie für einen komischen Kauz. Er geht nicht viel unter Leute, er wird nicht gern gelangweilt. Möglicherweise verspricht er sich von Ihnen einen Moment der Unterhaltung … Taft sah Olivia eine Weile an. Sie blickte zurück, ihre Augen azurblau jetzt, bestechend, der Blick sympathisch, ruhig, konzentriert. Ich sag Ihnen was, Olivia: Sie schreiben ‚Europa‘ auf eine Karte. Ich wette, sie bleibt mindestens zwei Wochen hängen und kein Mensch interessiert sich dafür. Was sagen Sie? – Ich gehe davon aus, dass sie nach einer Woche verkauft ist, antwortete Olivia ohne Zögern. Um was wetten wir? – Um den Besuch bei Ihrem Vater. – Einverstanden! Dazu lächelte Olivia Schattseit überrascht und schön und fast ein wenig geheimnisvoll. Sie reichten sich die Hände, ihre war stärker, als er gedacht hatte. Taft gab ihr Stift und Karte. Sie schrieb. Elegante, geradlinige Majuskeln. Und damit war seine Ruhe dahin. Er wusste es. Stan Getz hatte recht. He was doing all right. ---
Taft hatte nicht erwartet, dass ihm die Welt derart schnell fremd würde, dass die Entscheidung, ihr fernzubleiben, nicht nur Distanz schuf, sondern gleichsam Unsicherheit in den Schrittfolgen des Alltags nach sich zog. Er funktionierte kaum mehr, hatte sich selbst verlernt. Doch einmal entschlossen, kein verblödeter Ignorant zu werden, begann er behutsam, sich wieder einzufädeln. Gegen Ostern. Mit kleinen Notwendigkeiten. Besuchen der Gaststätte am Ende der Alten Straße etwa, die Tütensuppe hieß und von hausgemachtem Erbsen- über Linsen- bis hin zu Kartoffeleintopf alles Dickflüssige servierte. Die Wirtin, Rosalinde, war alterslos, recht korpulent und trug Röcke und Kleider im Stil der 1970er-Jahre, was an ihr eigenartigerweise schick und zeitlos aussah. Sie war ein warmherziges, unbefangenes Geschöpf mit einer Nase für gute Weine, sodass sich Taft bald auf ihre Empfehlungen verließ. Im Tessin hatte sie einen weißen Merlot aufgetan, der ihm besonders gefiel, und nach seinem dritten Besuch stellte Rosalinde, wann immer er kam, zur Begrüßung ungefragt ein Glas davon auf seinen Tisch. In diesen Augenblicken fühlte er sich beinahe beheimatet in der Alten Straße. Es war nicht die Vertraulichkeit der Geste, dem wiederkehrenden Gast sein Getränk zu kredenzen, es war auch nicht der Anblick Rosalindes, die er insgeheim seine Teutonin nannte. Es war das Zusammenspiel des fruchtigen Weinaromas mit dem salzigen Eintopf und die Anschmiegsamkeit der Lärchenholztischplatte unter seinen Fingern, die allabendlich mit Schmierseifenlauge blankgescheuert wurde. All das eine wunderliche, einzigartige Kombination, ungekannt, tröstlich; ein Kontrapunkt in seinem Leben, der nichts mit den Restaurants zu tun hatte, die Veronika zu Hause in Paris oder auf ihren Reisen ausgewählt hatte.
Mitte April, auf Verkehrsinseln und Grünstreifen erste Maiglöckchen, Iris und Azaleen, wagte sich Taft dann auch in einige Museen. Er zwang sich, die Dinge nicht mit Veronikas Augen zu sehen, verfluchte sich, wenn er, was immer wieder vorkam, ihre Anwesenheit zu wittern, ihre Augen auf sich glaubte, wenn er dann reflexartig den Kopf herumwarf und nach ihr suchte. Erfolglos natürlich. Entwürdigend. Er ging am Fluss spazieren, der vielmehr ein Strom war, ein breiter, stattlicher Metropolenstrom von beeindruckender Schnelligkeit und Gefahr, eine braune Schneise durch die Stadthälften, die mit sieben Brücken zusammengenäht waren. Er durchwanderte Parkanlagen, die wie ein Gürtel um die Stadt lagen. Beachtlich. Weit. Er beobachtete Fahrradfahrer, Jogger, Hundebesitzer, die, eine Karikatur ihrer selbst, mit ihren Tieren sprachen, als erwarteten sie Antwort. Er saß auf Parkbänken, atmete ein und aus, schloss die Augen und hörte der Stadt zu – Autos, Straßenbahnen, Vogelgezwitscher, Stimmen, Wind und Schritte –, freute sich über den Duft von Grün und erstem Flieder und rechtfertigte seine Ausflüge wie zuvor die Restaurantbesuche damit, dass es um Veronikas willen wichtig war, bei Kräften und bei der Sache zu bleiben, dass er nicht ewig Konserven essen konnte, seinen Kopf trainieren, ab und zu an die frische Luft musste. Es ließ sich nicht vermeiden, bei diesen Unternehmungen mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Trotzdem hatte er den Eindruck, Verrat an Veronika zu begehen, wenn er anderen Dingen seine Zeit schenkte, etwa in einem Lokal von einer Speisekarte auswählte, mit einer Gastwirtin über Weine plauderte oder das Wetter schön fand, aufs Rad stieg und zum Museum fuhr.