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3 Geschichte gegenwärtiger menschlicher Populationen

3.1 Innerartliche Diversität

In der Vergangenheit gab es keine Zweifel darüber, dass der Mensch eine ausdrücklich polytypische Art ist (vergleiche Box 1.2) – und in dieser Hinsicht vergleichbar mit z.B. dem Tiger oder Braunbär. Die unterschiedlichen lokalen Populationen wurden routinegemäß als „Unterarten“ oder „Rassen“ bezeichnet (Box 3.1). Mit dem Konzept der menschlichen Rassen wurde oft auch der „Polygenismus“ verbunden: Die Vorstellung, dass die menschlichen Rassen in einer Isolation auf den einzelnen Kontinenten aus unterschiedlichen lokalen Vorfahren entstanden sind („mongoloide Rasse“ aus Orang-Utan, „negroide Rasse“ aus Gorilla und „europoide Rasse“ aus Schimpansen), überlebte in unterschiedlichen Formen (unterschiedliche Taxonomien der menschlichen „Rassen“) bis in die 1930er-Jahre, obwohl diejenigen Persönlichkeiten, die stellvertretend für die Geburt der Evolutionsanthropologie bereits im 19. Jahrhundert stehen (Darwin, Huxley und Haeckel), den Menschen richtigerweise für eine monophyletische Art gehalten haben.

Box 3.1

Der Rassenbegriff in der Biologie, Anthropologie und Politik

Mit dem Rassenbegriff hängen folgende Fragen zusammen: Kann man die Menschheit in einige wenige Gruppen (Typen) einteilen? Wie groß sind die Unterschiede zwischen diesen Gruppen? Wie sollte man diese Gruppen (falls es sie gibt) nennen? Kann man aus der Existenz der Einteilung in die Gruppen etwas über ihre Wertigkeit ableiten?

Die letzte Frage wurde durch rassistische Ideologien aufgegriffen, die aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse politische Folgen ableiteten, im Sinne, dass einige Rassen wertvoller sind als andere und das Recht oder die Pflicht haben, die „minderwertigen“ zu beherrschen oder sogar zu liquidieren. Der Rassismus kulminierte mit dem deutschen Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da deren Ideologien die menschlichen Gruppen als Rassen bezeichneten, haben sie den Begriff der Rasse diskreditiert. Man sollte also stets daran denken, dass Rassismus eine Ideologie und keine Wissenschaft ist, auch wenn oft pseudowissenschaftlich argumentiert wird.

Der Begriff Rasse wurde durch den französischen Naturforscher, Georges-Louis Leclerc de Buffon (1701–1788) in die Biologie eingeführt. Er nutzte diesen Begriff nicht im taxonomischen Sinne, sondern bezeichnete damit ganz allgemein eine Gruppe von Organismen, die beliebig festgelegte Eigenschaften miteinander teilten. Buffons Zeitgenosse und Rivale, Carl von Linné (1707–1778) teilte die Menschen in vier unterschiedliche geografische Unterarten ein – er hat sie aber nicht als Rassen bezeichnet. Sein Konzept beruhte auf einer Idealisierung und Verallgemeinerung, nicht auf der Realität. So definierte Linné in seiner Historia naturae (1758) Homo sapiens europaeus albus (also den weißen europäischen H.sapiens) unter anderem mit folgenden Merkmalen: blaue Augen und langes blondes Haar. Auch in seiner Heimat, Schweden, entsprachen jedoch bestimmt nicht alle Menschen dieser Beschreibung – Linné hat hier also einen metaphysischen Archetyp beschrieben und nicht die real existierende Vielfalt.

Erst die nachfolgenden Generationen haben das Konzept von Linné mit dem Buffonschen Begriff fusioniert und so den Begriff „Rasse“ kreiert, der bis in das 20. Jahrhundert regulär in der Anthropologie und Humanbiologie gebräuchlich war. Der Begriff Rasse war – im Sinne von Buffon – nicht begrenzt auf einzelne Kontinente, wurde aber auf eine beliebige Sprach-, Volks- oder Religionsgruppe angewandt („deutsche Rasse“, „jüdische Rasse“). Anfang der 1930er-Jahre wurde der Begriff zunehmend im populationsgenetischen Sinne verwendet. Letztlich fatal für den Begriff war schließlich der politische Missbrauch durch die nationalsozialistische Ideologie, wie aber auch andere rassistische Ideologien (ob in den USA, Südafrika oder anderswo). Da eine Politik den Begriff missverstanden und für ihre Zwecke instrumentalisiert hat, hat ihn die nachfolgende Politik auch missverstanden, in der Wissenschaft tabuisiert und an den Pranger gestellt. (Diese Entwicklung ist nicht überraschend und es ging besonders von Deutschland, den USA und den Ländern mit ehemaliger Kolonialherrschaft aus.)

Da der Begriff Rasse nun tabu, doch es weiterhin offensichtlich war, dass man die Menschheit in bestimmte Gruppen einteilen kann, wurde nach einem Ersatzbegriff gesucht. Erfolgreich hat sich letztendlich der Begriff Ethnie (Volk) durchgesetzt. Als Ethnie wird eine Gruppe von Menschen bezeichnet, denen eine kollektive Identität zugesprochen wird. Zuschreibungskriterien können Herkunftssagen, Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium sowie ein Gefühl der Solidarität sein. Die zugehörige Wissenschaft ist die Ethnologie (Völkerkunde). In diesem (eher Buffonschen als Linnéschen) Konzept liegt der Schwerpunkt der Differenzierung eher auf den kulturellen als auf somatophänetischen oder genetischen Unterschieden. Ethnologie wie auch physische Anthropologie der Nachkriegszeit konzentriert sich auch auf die lokalen bzw. regionalen Adaptationen, nicht auf die kontinentale Differenzierung.

Allerdings kann man die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass selbst jedes Kind, unabhängig auf welchem Kontinent oder in welchem Land, schnell erkennt, dass sich Menschen nach morphologischen Kriterien (anhand von Hautfarbe, Haartyp, Gesichtsform etc.) unterschiedlichen Typen zuordnen lassen. Dies ist natürlich auch Anthropologen und Populationsgenetikern bewusst. So hat der berühmte Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza die Rassen als natürliche Kategorien weiter benutzt. Er hat 1974 eine fließende Unterteilung in sieben Großgruppen vorgeschlagen: Afrikaner, Europäer, Nordostasiaten, Südostasiaten, Pazifikbewohner, Australier und Bewohner Neuguineas. Dies steht nicht im Widerspruch mit der Behauptung, dass L.Cavalli-Sforzas Werk stark antirassistisch geprägt ist (Box 4.7). Der nicht weniger renommierte Evolutions- und Populationsgenetiker Masatoshi Nei hat 1993 zusammen mit A.K. Roychoudhury die Einteilung der menschlichen Populationen in fünf Hauptgruppen vorgenommen: Negroide (Afrikaner), Kaukasoide (Europäer von Herkunft), Mongoloide (Ostasiaten und Pazifikbewohner), Amerinde (Indianer und Inuit) und Australoide (Australier und Papuaner).

Eine Rasse im populationsgenetischen und physisch-anthropologischen Sinne wird heute als eine Gruppe von Menschen verstanden, die durch langfristige gemeinsame Evolution verbunden ist, in deren Verlauf gemeinsame morphologische und physiologische Merkmale gebildet wurden. Diese Rassenklassifikation hat eine breite Anwendung in der Biomedizin, Archäologie, forensischen Anthropologie und Kriminologie. Allerdings sind die Übergänge zwischen den Populationen fließend, kontinuierlich und es gibt keine phänotypischen oder genotypischen Merkmale, die die einzelnen Typen eindeutig und zweifellos definieren würden. Daher gibt es auch keine eindeutige Definition menschlicher Rassen. Der berühmte US-amerikanische Evolutionsgenetiker Richard Charles Lewontin (geb. 1929) sprach sich 1972 gegen die Möglichkeit einer natürlichen Einteilung der Art H.sapiens in einige wenige Gruppen aus, in dem er gezeigt hat, dass die genetische Variabilität innerhalb einer, den traditionellen Rassen entsprechenden Gruppe sechsmal größer ist als zwischen den Gruppen.

Eine klassische Rassentheorie mit fest definierten und klar abgegrenzten Gruppen von Menschen wird durch die gegenwärtige Wissenschaft abgelehnt. Man kann jedoch wissenschaftlich von menschlichen Typen sprechen, die nachweislich mit ihrer Herkunftsregion koinzidieren, statt von empirisch festgestellten Konfigurationen von genetischen und physischen Eigenschaften von Individuen. Die Clusteranalyse hat z.B. nachgewiesen, dass sich die genetische Information (DNA) von Menschen, die in derselben geografischen Region leben, sehr ähnelt, wobei es an den Grenzen der Kontinente fließende Übergänge gibt. Zur Differenzierung von regionalen Populationsclustern reichen dabei nur ca. 40 geeignete genetische Merkmale. Die genetischen Daten sind im Einklang mit der Hypothese der afrikanischen Herkunft der Menschheit.

Ob wir diese Cluster als Rassen oder einfach nur als Gruppen bezeichnen (dürfen), ist eine andere Frage. Klar ist jedoch, dass die Bezeichnung „Ethnie“, die eher kulturzentrisch ist, nicht voll zutreffend ist.

Erst die verhängnisvollen Erfahrungen mit dem Rassismus des 20. Jahrhunderts führten dazu, dass das Konzept der menschlichen Polytypie an sich ausführlicher unter die Lupe genommen wurde. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass der überwiegende Teil der Unterschiede zwischen den menschlichen Populationen und Ethnien (diese Begriffe sind manchmal im Einklang, manchmal auch nicht) nicht genetisch, sondern kulturell bedingt ist, und dass die meisten genetischen Unterschiede polymorph sind, d.h. sie betreffen Merkmale, die wir in unterschiedlichen (wenn nicht in allen) menschlichen Gruppen in unterschiedlichen Frequenzen finden. Auch das, was von der genetischen Diversität nach dem Abzug der individuellen Variabilität übrig bleibt, ist großteils von klinaler Natur und ändert sich graduell in Abhängigkeit von geografischen Beziehungen, sodass diese Diversität keine gute Basis für die Abgrenzungen der „Rassen“ bildet.

Die Evolution der Menschheit hat nicht die Form eines phylogenetischen Baumes, denn es kommt ständig zur Vermischung. Auch wenn wir ein paar evolutionäre Einheiten („Rassen“) abgrenzen, ist kaum ein Individuum ein „reiner“ Vertreter irgendeiner dieser Einheiten. Zwei zufällig ausgesuchte Menschen unterscheiden sich in 3–10 Millionen Basenpaaren (~ 0,1–0,3% des Genoms); 85% dieser Unterschiede finden wir innerhalb von Populationen und nur 8% davon (d.h. 0,008% des Genoms) bleiben als Unterscheidungsbasis für traditionelle Rassen. Darüber hinaus ist die gegenwärtige menschliche Population als Ganzes außerordentlich einheitlich. Dies alles stimmt. Die Unterschiede zwischen den evolutionären Einheiten sind sehr gering, aber sie sind konsistent und ausreichend dazu, uns ein Fenster in die ferne Geschichte unserer Spezies zu öffnen. Natürlich ist der soziale Missbrauch des Rassenbegriffs abzulehnen, aber zu behaupten, dass Rassen ein im Zusammenhang mit dem Kolonialismus entstandenes „Sozialkonstrukt“ sind und dass sie gar keinen biologischen Inhalt haben, ist ein schneller Weg, interessante Informationen über die Evolution und Geschichte der Menschheit unter den Teppich zu kehren.

Auf den ersten Blick scheint die Einteilung der menschlichen Population in mehrere anthropologisch unterschiedliche und geografisch konsistente Gruppen sehr auffällig zu sein. Außer der traditionellen Morphologie haben auch die Biochemie und Immunologie (z.B. Verteilung der Blutgruppen) zur Erkenntnis der menschlichen phylogeografischen Diversität beigetragen und allmählich kam die grundlegende west-östliche Differenzierung der Menschheit zum Vorschein, die die alte Vorstellung einer einheitlichen „äquatorialen“ Rasse von Afrika bis nach Australien widerlegt hat. Das Ergebnis war ein Konzept von vier Großrassen aus einem gemeinsamen Vorfahren: Negr(o)ide, Europ(o)ide (Kaukasoide), Mongol(o)ide und Austral(o)ide. Später wurde zudem eine auffällige Heterogenität innerhalb der afrikanischen Populationen (Capoide und Congoide „Rasse“) erkannt.

Wie wir weiter unten lesen werden, kommen wir heute anhand des Studiums des menschlichen Genoms zu praktisch den gleichen Ergebnissen, auch wenn die geringe Größe (und dies muss betont werden!) der Unterschiede die Nutzung des Begriffs „Rasse“ (im Sinne der Rassenideologie) nicht berechtigt. Es ist eigentlich überraschend, wie identisch die Ergebnisse des Studiums von unterschiedlichen Genomteilen sind, unabhängig davon auf welche Art und Weise sie vererbt werden. MtDNA, Geschlechtschromosome, Autosome: Alle weisen auf die Existenz von einigen wenigen Evolutionslinien der gegenwärtigen Menschheit hin.

Damit widerlegen die genetischen Untersuchungen die zwei hauptsächlichen Einwände der Morphologen gegen die Anerkennung der menschlichen Rassen (gemeint sind die wissenschaftlichen Einwände – der Widerwille zur Ideologie und Politik des Rassismus ist eine andere Sache). Nach dem einen Einwand ist die Abgrenzung einzelner „Rassen“ rein subjektiv und beruht nur auf den ausgewählten, „traditionellen“ Merkmalen (Hautfarbe, Schädelform, Haartyp), aber würden wir andere Merkmale wählen, würde die Rassendifferenzierung anders ausfallen. Das, was wir bei unseren Nächsten meist bemerken, sind üblicherweise lokale Anpassungen (dunkle Pigmentierung in den Tropen, Epikanthus, d.h. sichelförmige Hautfalte am inneren Randwinkel des Auges in Wüsten, Kleinwuchs in den Regenwäldern), ohne nennenswerte evolutionäre Bedeutung. Das zweite Argument ist ähnlich, obwohl eigentlich gegensätzlich: Die Rassenzugehörigkeit eines Individuums können wir nur identifizieren, wenn wir sie gänzlich untersuchen, nicht aus den einzelnen Merkmalen. Diese Argumente sind allerdings, zumindest auf der genetischen Ebene, nicht stimmig. Es sei auch betont, dass wir eine Kovarianz zwischen der geografischen Verbreitung, dem Genotyp und Phänotyp auf allen Ebenen finden: von Familien zu Ethnien, von Regionen zu Kontinenten.

Eine Vermischung zwischen den Populationen gibt es natürlich – und zwar sowohl eine alte (Äthiopien, Südindien, Südostasien), wie auch eine relativ rezente (Folge von kolonialen Migrationen in Amerika oder Südafrika, aber auch der russischen Expansion nach Sibirien und Zentralasien) – aber sie stört die langfristige Identität der Evolutionslinien nicht wesentlich; die menschliche Diversität geht nicht verloren, „löst sich nicht auf“. Den Mechanismus der alten Vermischung illustrieren wahrscheinlich seine gegenwärtigen Analogien gut. Auch wenn wir an die Existenz der „Schmelztiegel“ in den USA oder Brasilien glauben, zeigen nähere Analysen, dass die dortigen Situationen von einer zufälligen Kreuzung weit entfernt sind. Zwischenrassische Ehen sind selten (USA 4%, Großbritannien 2%) und sowohl die Mexikaner in Mexiko und Kalifornien wie auch die Puerto Ricaner in Puerto Rico und New York zeigen positive assortative Paarungspräferenzen nach der jeweiligen genetischen Herkunft – und dies, obwohl es keine Indizien für biologische Benachteiligung der Mischlinge zwischen wie auch immer entfernten Populationen des modernen Menschen gibt.

Das evolutionäre Denken allgemein lehnt die Vorstellung einer linearen Leiter ab, die zu Säugetieren, Primaten, Menschen, Weißen zielen würde. Je zwei gegenwärtige Arten (z.B. Mensch und Schimpanse) sind von ihren gemeinsamen Vorfahren gleich entfernt, und man kann erwarten, dass sie auch eine ähnliche Menge von evolutionären Neuheiten ausweisen würden (was sich im Falle von Menschen und Schimpansen auch bestätigt hat). Dasselbe gilt auch innerhalb einer Art: Ohne Rücksicht wie entfernt oder nah sich ein Pygmäe und ein Europäer stehen, die Pygmäen sind bestimmt keine „primitiven“ Vorfahren von Europäern (Chinesen, Bantu…), sondern eine unikate menschliche Gruppe, die darüber hinaus an eine Umwelt angepasst ist, in der wir anderen kaum überleben würden.

3.2 Quellen der Informationen über die Phylogeografie

Die klassische Quelle für Informationen über die Geschichte der menschlichen Populationen war die Morphologie (des Skeletts, Pigmentierung usw.) und später die Biochemie und Immunologie (z.B. Blutgruppen). In jüngster Zeit spielt die Molekulargenetik eine immer größer werdende Rolle. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen ist es eigentlich eher bemerkenswert, dass man mit den gegenwärtigen, unvergleichbar ausgeklügelteren Methoden, die eine unvergleichbar größere Menge an Daten zu verarbeiten in der Lage sind, zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt.

Am Beginn der Molekulargenetik stand vor allem das Studium der mitochondrialen DNA (mtDNA) und das des nicht rekombinierbaren Teils des Y-Chromosoms. In beiden Fällen geht es um DNA-Segmente, die eine einfache Stammbaumevolution ohne Rekombinationen ausweisen, was die evolutionäre Interpretation der Ergebnisse einerseits vereinfacht. Auf der anderen Seite handelt es sich bei diesen Stammbäumen um Studien von Abschnitten mit unorthodoxer, sex-determinierter Erblichkeit, sodass ihre Evolution eigentlich nichts Wesentliches über die Phylogenese ganzer Populationen aussagen muss. Erst später hat man angefangen auch andere Chromosomen zu untersuchen und gegenwärtig auch Hunderttausende von Punktmutationen („single nucleotide polymorphisms“, SNP) von ganzen Genomen. Mitochondriale, Y-Chromosom- und autosomale Gene verbreiten sich unterschiedlich, sodass sie kein einheitliches („richtiges“) Bild über die Evolution der Menschheit geben; dafür informieren sie uns aber über die sexuell spezifische Demografie (Endogamie, dispersives Geschlecht) (vergleiche Box 6.7, Abb. 3.1).


Abb. 3.1: Schematische Darstellung der Veränderungen in Haplotypen (mit unterschiedlichen Farben dargestellt) von mtDNA und Y-Chromosom in zwei hypothetischen Gebieten (A und B) nach einer erfolgreichen Kriegsinvasion. Die Männer im Gebiet B wurden zum großen Teil getötet oder als Sklaven nach A verschleppt; die Frauen wurden vergewaltigt bzw. als Sklavinnen oder Bräute nach A verschleppt. Die mtDNA hat sich im überfallenen Gebiet B nicht verändert, Y-Chromosom-Haplotypen wurden zum Teil ersetzt. Im Gebiet der Sieger (A) erscheinen nun allerdings auch neue Haplotypen.

Beispielsweise ist die Bevölkerung der Mittelmeerinsel Ibiza vom Gesichtspunkt der mtDNA aus ein altes Isolat des karthaginisch-phönizischen Altertums, vom Gesichtspunkt des Y-Chromosoms aus weisen Mutationen auf rezente Beziehungen zu Europa und Afrika hin. Es handelt sich um eine offensichtliche Folge des durch männliche Händler vermittelten Genflusses. Die phylogeografische Analyse wird noch durch ein komplexes Spiel zwischen den Genen und der Kultur verkompliziert. Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Europa, im Nahen Osten und in Afrika zeigt, dass die Mehrheit der jüdischen Populationen (Sephardim, Aschkenasim) klare Spuren einer nahöstlichen Herkunft tragen, was den Geschichtskenntnissen entspricht. Darüber hinaus kann man bei ost- und mitteleuropäischen Juden (Aschkenasim) auch noch die Molekularspur der kaukasischen Herkunft finden, wodurch die kontroverse „Chasaren-Hypothese“ (die – zumindest teilweise – Herkunft der Aschkenasim von judeisierten Chasaren) wiederbelebt wird. (Das Chasaren Khaganat war im 7. bis 10. Jahrhundert ein mächtiger und einflussreicher Turkstaat zwischen dem Roten und Kaspischen Meer und nördlich davon.) Wohingegen die äthiopischen oder jemenitischen Juden sich von den benachbarten nichtjüdischen Populationen genetisch nicht signifikant unterscheiden.

Für die Datierung evolutionärer Ereignisse (z.B. Bestimmung des Zeitpunkts der Aufspaltung zweier Arten) benutzt man die „molekulare Uhr“. Bei dieser Methode wird die Evolutionsdauer vom genetischen Abstand der untersuchten Arten „abgelesen“. Um dies machen zu können, müssen wir die molekulare Uhr kalibrieren, also die Mutationsrate pro Zeiteinheit kennen. Zum Kalibrieren nutzt man einen bekannten genetischen Abstand zwischen zwei Arten mit deren Stellung auf dem phylogenetischen Baum und Kenntnis des Zeitpunkts ihrer Aufspaltung anhand von datierten Fossilien. Bei der Methode wird angenommen, dass die Mutationsrate (bei dem untersuchten DNA-Abschnitt) konstant in der Zeit und gleich bei allen untersuchten (wie auch bei den zum Kalibrieren verwendeten Referenz-)Arten ist. Die Genauigkeit der molekularen Datierung ist natürlich auch von der Genauigkeit der Kalibrierung abhängig. Und dies ist ein Problem, denn nicht immer ist die Datierung der Fossilien genau genug und verlässlich (Abb. 3.2). Aus der datierten Phylogenese der Hominiden (und altweltlichen Affen im Allgemeinen) ergibt sich auf diese Weise eine Mutationsrate von 10-9 Mutationen pro Nukleotid und pro Jahr.


Abb. 3.2: Schematische Darstellung der im Verlauf der Zeit steigenden genetischen Divergenz zwischen zwei getrennten Populationen bzw. Arten und der Berechnung der Zeit dieser Divergenz. Wenn wir wissen, dass z.B. bestimmte genetische Unterschiede zwischen Schimpansen und Menschen 30-mal höher sind als durchschnittliche Unterschiede in vergleichbaren Genen zwischen Afrikanern und Nichtafrikanern und wenn wir die Divergenz zwischen den Schimpansen- und Menschenlinien anhand der Datierung der Fossilien kennen, können wir – angenommen, dass die Mutationsgeschwindigkeit in den beiden Linien gleich ist – mittels eines einfachen Dreisatzes bestimmen, wann sich die nichtafrikanische Population von der afrikanischen getrennt hat. Abhängig von der paläontologischen Datierung (in unserem Beispiel 5, 6 oder 7,5 Millionen Jahre) kommen wir zu unterschiedlichen Zeiten (in unserem Beispiel jeweils 166000, 200000 oder 250000 Jahre).

Wenn wir allerdings die Menge der Mutationen zwischen den nachfolgenden Generationen gegenwärtiger Menschen betrachten, ergibt sich eine Geschwindigkeit von ca. 1,3 * 10–8 Mutationen pro Nukleotid und Generation – also nach der Umrechnung auf eine 25 Jahre dauernde Generation – eine Geschwindigkeit von ca. 0,5 * 10–9 Mutationen pro Nukleotid und Jahr. Diese Mutationsgeschwindigkeit unterscheidet sich also von derjenigen aus den datierten phylogenetischen Bäumen abgeleiteten Geschwindigkeit. (Es ergibt sich natürlich die Frage, wie legitim die Evolutionsextrapolationen der Mutationsgeschwindigkeit sind, die auf der Untersuchung von zwei nacheinander folgenden Generationen beruhen.) Eine halbe Mutationsgeschwindigkeit verlangt doppelt so viel Zeit, um die beobachteten Unterschiede in Genomen zu akkumulieren und damit auch die Verdopplung der früheren Schätzungen der Zeiten der Divergenzen in der menschlichen Evolution. Wenn wir diese Zwischengenerationen-Mutationsgeschwindigkeit zur Datierung der Evolutionsereignisse verwenden, kommen wir zu unterschiedlichen Schätzungen: Die Ereignisse erscheinen dann wesentlich älter (z.B. Speziation Mensch – Schimpanse ca. 7,5 mya, Diversifizierung der modernen Menschheit ca. 250 tya) – was in beiden Fällen aber auch besser den Fossilaufzeichnungen entspricht.

Da sich die zeitliche Skala der Schlüsselereignisse in der menschlichen Evolution ändert, ändert sich auch der geografische und klimatische Kontext, in dem sich diese Ereignisse abgespielt haben, und plötzlich öffnet sich auch der Raum für eine neue Interpretation vieler fossiler Funde.

3.3 Eva der Mitochondrien und Adam des Y-Chromosoms

Studien der mitochondrialen DNA führten zur Hypothese der „mitochondrialen Eva“ („Eva der Mitochondrien“). Als mitochondriale Eva wird der gemeinsame Vorfahr der gegenwärtigen Menschheit in der mütterlichen Linie bezeichnet. Diese hypothetische Person lebte vor ca. 140–230 Tausend Jahren (nach neuerer Datierung vielleicht auch früher) in Ostafrika. Ihr Gegenpart, der letzte Vorfahre väterlicherseits, der sogenannte „Adam des Y-Chromosoms“, war etwas jünger, wahrscheinlich 120–200 Tausend Jahre (frühere Schätzungen gingen von einem noch jüngeren Alter aus) und bewohnte ebenfalls Afrika. Man muss sich klar machen, dass es sich in beiden Fällen um sogenannte Koaleszenz-Punkte handelt, also um Punkte, in denen sich alle matri- bzw. patrilinearen Linien begegnen (Box 3.2, Abb. 3.3). Ein Individuum wird zu so einem Vorfahren nur in dem Fall werden, wenn alle seine Nachkommen (und ihre Nachkommen) bis heute mindestens einen fruchtbaren Nachkommen des jeweiligen Geschlechts hatten. Wenn wir eine Generationszeit von ca. 25 Jahren annehmen, stehen zwischen uns und der mitochondrialen Eva ca. 8000 Generationen – tiefer reichen unsere Genealogien nicht, was bedeutet, dass die älteren Nachkommen nicht mit einer ununterbrochenen Linie mit uns verbunden sind; einer Linie die nicht gleichzeitig auch Eva oder Adam einschließen würde. Ergänzen wir aber, dass der „genealogische gemeinsame Vorfahr“ der Menschheit wohl noch jünger, nur ein paar Tausend Jahre alt, ist. Unsere genealogischen Vorfahren (zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern) nehmen nämlich exponentiell zu, und unsere Genealogien beginnen schnell sich zu überlappen („pedigree collapse“). Menschen haben oft Kinder mit ihren fernen Verwandten, ohne dass sie es eigentlich wissen. Hierzu müssen wir noch zusätzliche Verschmelzungen der zeitweilig isolierten Populationen durch spätere Migrationen zurechnen. Und so z.B. charakterisieren europäische Gene in der ursprünglichen amerikanischen Population beginnend mit 1492 eigentlich nicht einen gemeinsamen Vorfahren, der mehrere Zehntausende Jahre alt wäre, sondern schon einen nur noch ein paar Hundert Jahre alten gemeinsamen Vorfahren.


Abb. 3.3: Vererbung bzw. Substitution der mitochondrialen DNA, des Y- und des X-Chromosoms und beliebiger auf Autosomen lokalisierter Allele im Verlauf mehrerer Generationen. Das Schema illustriert ein Missverständnis des Konzepts „Eva der Mitochondrien“ bzw. „Adam des Y-Chromosoms“. Obwohl die mtDNA und das Y-Chromosom selbst nach einigen Generationen in unserem Schema alle von einer Frau bzw. einem Mann stammen, ist es klar, dass die Population nicht von einem einzigen Paar gegründet wurde und dass Allele auf Autosomen und X-Chromosomen der Gründer aller Vorfahren auch in den nächsten Generationen vertreten sind. Unterschiedliche Farben repräsentieren unterschiedliche Haplotypen (Allel, mtDNA bzw. Chromosom).

Box 3.2

Die „Eva der Mitochondrien“ und der „Adam des Y-Chromosoms“

R. L.Cann, M.Stoneking und A.C. Wilson publizierten 1987 das Konzept der „Eva der Mitochondrien“. Es beruht auf der Tatsache, dass Mitochondrien vorwiegend in mütterlicher Linie vererbt werden und eine eigene DNA (mtDNA) besitzen, die eine hohe Mutationsrate aufweist. Aufgrund der Analyse mitochondrialer Genome von 147 Menschen aus fünf geografisch verschiedenen Populationen stellten sie die Hypothese auf, dass diese gesamte mtDNA von einer Frau stammt, die vor etwa 200000 Jahren wahrscheinlich in Afrika lebte. Alle untersuchten Populationen, mit Ausnahme der afrikanischen Population, sind multiplen Ursprungs, wodurch impliziert wird, dass jede Region wiederholt kolonisiert wurde. Diese Arbeit sorgte sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit für sehr viel Aufregung und inspirierte zahlreiche weitere Forschungen. Die Analyse und ihre Interpretation wurden bestätigt, aber auch kritisiert. Abgesehen von den Vorwürfen, dass die mtDNA, wie man heute weiß, nicht ausschließlich in der mütterlichen Linie (matrilinear) vererbt wird und dass auch bei der mtDNA Rekombination möglich ist (wobei beide Phänomene die Ergebnisse aber wahrscheinlich nicht wesentlich beeinflussen), führten unterschiedliche Studien zu teilweise (jedoch nicht dramatisch) unterschiedlichen Berechnungen des Zeitraums, wann die „Eva der Mitochondrien“ lebte. Heute wird meistens eine Zeit vor ca. 140000 Jahren angenommen. Allerdings wurde (und wird immer noch) die Interpretation der Ergebnisse oft missverstanden. Die Autoren sagten, dass die gesamte mtDNA der untersuchten Menschen von einer Frau stammt. Das heißt jedoch nicht, dass diese Frau der einzige und älteste gemeinsame Vorfahre aller untersuchten Menschen wäre. Es gab in der Zeit, als die „Eva der Mitochondrien“ lebte, (und davor) auch andere Frauen, und auch deren Gene tragen wir. Die „Eva der Mitochondrien“ war nur der jüngste gemeinsame Vorfahre der gesamten heutigen mtDNA (Abb. 3.3).

Während Mitochondrien matrilinear vererbt werden, werden Y-Chromosomen, ähnlich wie in manchen Gesellschaften die Familiennamen (Abb. 3.4), patrilinear weitergegeben. Der jüngste gemeinsame Vorfahre der Männer (der „Adam des Y-Chromosoms“) lebte vor etwa 120000 Jahren (die Schätzungen schwanken zwischen 30000 und 200000 Jahren), also nach der „Eva der Mitochondrien“, und stammte ebenfalls aus Afrika. Die „Eva der Mitochondrien“ und der „Adam des Y-Chromosoms“ waren also kein Paar. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Männer einen viel höheren Fortpflanzungserfolg haben können als Frauen. Zwei Beispiele: Während die Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) 16 Kinder gebar (was schon sehr beachtlich ist), hatte ihr Zeitgenosse Mulai Ismail (1646–1727), Sultan von Marokko, angeblich mindestens 888 Kinder. Eine Frau braucht also viel mehr Generationen, um ebenso viele Nachkommen zu erreichen wie ein Mann. Kürzlich wurde festgestellt, dass ca. 8% der Männer in Asien vom Kaspischen Meer bis zur Pazifikküste zu einer spezifischen Y-Chromosom-Linie gehören, die offensichtlich ihre Herkunft im mongolischen Raum vor ca. 1000 Jahren hat. Es wird vermutet, dass diese Linie von Dschingis Khan abstammt – dass es sich also um seine Nachkommen handelt.

Das Problem des Missverständnisses ist in Abb. 3.3 dargestellt. „Adam“ und „Eva“ sind nur zwei von vielen gemeinsamen Vorfahren. Wir tragen auch Gene von anderen Vorfahren, und je nachdem welches Gen (Allel) wir zurückverfolgen, kommen wir zu einem anderen Vorfahren. Verschiedene Gene erzählen verschiedene Geschichten. Die Hypothese der „Eva der Mitochondrien“ unterstützt die schon von Charles Darwin postulierte afrikanische Herkunft des Homo sapiens (Box 2.2).


Abb. 3.4: Die Vererbung von Familiennamen in der männlichen Linie ist analog zur Vererbung des Y-Chromosoms und verdeutlicht die zufällige Substitution des Familiennamens (des Y-Chromosoms) ohne größere Unterschiede in der Fitness der berücksichtigten Personen; rote Ovale = weiblich, blaue Vierecke = männlich.

3.4 „Out-of-Africa“ oder Multiregionalismus?

Die gesamte Diversität menschlicher DNA finden wir in Afrika, und die außerafrikanischen Populationen stellen nur eine kleine Gruppe innerhalb der afrikanischen Diversität dar, üblicherweise eine monophyletische Gruppe; darüber hinaus sinkt die genetische Variabilität linear mit der Entfernung von Afrika.

Diese Erkenntnisse führten zu einer Hypothese des rezenten Austausches, der sogenannten „Out-of-Africa“ Hypothese. Sie besagt, dass moderne Menschen in Ostafrika entstanden und später in einer oder (weniger wahrscheinlich) in zwei Kolonisierungswellen die ganze Welt besiedelten. Dabei hätten sie die älteren Formen von Menschen, denen sie unterwegs begegneten, auf irgendeine Art und Weise ersetzt (vielleicht auch ausgerottet), ohne dass deren archaische Gene in das Genom des H.sapiens eingegangen wären (Abb. 3.5).


Abb. 3.5: Schematische Darstellung der Modelle der Besiedlung der Welt und der genetischen Evolution von Homo sapiens; grau: H.ergaster, schwarz: H.heidelbergensis, rot: H.erectus (bzw. auch H.neanderthalensis), blau: H.sapiens (nach Hodgson und Disotell 2008).

Diese Hypothese über die Geschichte der Menschen hat die ältere multiregionale Hypothese verdrängt, die annahm, dass H.sapiens aus den genetisch miteinander verbundenen Populationen im ganzen afroeurasiatischen Raum entstand. Hier ist es notwendig, den modernen Multiregionalismus klar vom alten „Polygenismus“ zu unterscheiden: Nach dem Multiregionalismus entstanden menschliche „Rassen“, egal was wir uns unter diesem Begriff vorstellen, nicht in einer Isolation auf den einzelnen Kontinenten aus unterschiedlichen lokalen Vorfahren, sondern durch eine intensive lange Vermischung von einzelnen, miteinander verbundenen Populationen (Abb. 3.5).

Die Frage einer möglichen Hybridisierung moderner Menschen mit Neandertalern bezog sich damit nicht nur auf die Frage des Untergangs der Neandertaler (sind sie ausgestorben, wurden sie ausgerottet oder sind sie mit uns verschmolzen?), sondern auch auf die Frage der genetischen Struktur der heutigen menschlichen Population. Morphologische Beweise für die Hybridisierung waren eher schwach – beide Arten lebten Tausende Jahre nebeneinander, wobei die unterschiedliche Morphologie jeweils behalten wurde. Angeblich hybride Individuen (aus Fundorten in Portugal, Tschechien und Rumänien) sind fraglich. Die Unterschiede in der Ontogenese zwischen den beiden Menschenformen machten die Hybridisierung auch eher unwahrscheinlich und auch der Vergleich der mtDNA beider Arten lieferte keine Indizien für die Hybridisierung.

Darauf, dass unsere Vorfahren tatsächlich mit Neandertalern in Kontakt kamen, könnten auch kulturelle Übereinstimmungen hinweisen: Die paläolithische Châtelperronien-Kultur, die in einigen europäischen Regionen die ursprüngliche Moustérien-Kultur ersetzt hat, wird von einigen Archäologen für eine Neandertalerkultur gehalten, die durch die Kultur moderner Menschen (H.sapiens) inspiriert wurde.

Das Entschlüsseln der kompletten Kerngenome vom Neandertaler und „Denisovaner“ (siehe auch Box 3.3) brachte jedoch eine große Überraschung mit sich. Man hat festgestellt, dass 1–4% (nach den neuen, genaueren Berechnungen 1,5–2,1%) des Genoms aller nichtafrikanischen Populationen von H.sapiens Spuren des H.neanderthalensis tragen (Abb. 3.6). Die einfachste Vorstellung wäre, dass Menschen des modernen Typs Afrika verlassen haben, im Nahen Osten den Neandertalern begegneten, die dort damals schon gelebt hatten, und sich mit ihnen kreuzten. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass Neandertaler, deren Gene in unser Genom eingegangen sind, mit den Neandertalern aus der kaukasischen Lokalität Mezmaiskaya (also der dem Nahen Osten am nächsten liegenden Lokalität) näher verwandt sind als mit den europäischen oder altaischen Neandertalern. Die nahöstliche Hybridisierung hätte sich allerdings in einem außerordentlich kurzen Zeitraum abspielen müssen, noch bevor sich die modernen Menschen auf unterschiedliche Populationen aufgespalten haben, die dann unterschiedliche Regionen Eurasiens, Australien und Amerika besiedelten (Abb. 1.1; Box 1.1).


Abb. 3.6: Darstellung der genetischen Verwandtschaft der untersuchten Völker und des Genflusses von Neandertalern zu den Nichtafrikanern (nach Green et al. 2010).

Box 3.3

Paläogenetik

Die Paläogenetik untersucht die Geschichte und Evolution durch die Analyse vom genetischen Material, das aus fossilen, subfossilen und prähistorischen Überresten (Knochen, Mumien etc.) von Organismen gewonnen (extrahiert, mittels Polymerasekettenreaktion kloniert und sequenziert) wurde. Der Begriff wurde von Emile Zuckerkandl und Linus Carl Pauling bereits 1963 geprägt. Als Begründer gelten allerdings der in den USA tätige Neuseeländer Allan Wilson (1934–1991) (siehe auch Box 3.2), der mit seinem Team 1984 über die erste Sequenzierung von DNA des ausgestorbenen Zebras Quagga berichtete und der Schwede Svante Pääbo (geb. 1955), der 1985 erstmals DNA einer ägyptischen Mumie klonierte. Pääbo leitet seit 1997 als Direktor die Abteilung Evolutionäre Genetik des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Pääbo und sein Team publizierten wichtige Arbeiten zu genetischen Unterschieden (besser gesagt: zu den Ähnlichkeiten) zwischen Menschen und Schimpansen. 2002 sorgte die aus seinem Labor stammende Arbeit zur Evolution und zum Alter des „Sprachgens“ (FOXP2, dessen Fehlen oder Defekt zu Sprachunvermögen führt) für große Aufregung. Pääbo ist für seine Erfolge, DNA von alten Fossilien, darunter auch Neandertalern, gewonnen, sequenziert und analysiert zu haben, bekannt. Pääbo und seine Mitarbeiter haben unter anderem die Genome von Neandertaler, Denisova-Mensch und Bonobo sequenziert. 2007 zählte Pääbo dem Nachrichtenmagazin Time zufolge zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Die Paläogenetik hilft nicht nur, genealogische, phylogenetische und phylogeografische Fragen zu klären, sondern auch phänotypische (morphologische, physiologische und ethologische) wie auch kulturelle (z.B. Diätpräferenzen) sowie die Geschichte und Evolution von Krankheiten wie auch die Populationsökologie zu rekonstruieren.

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Menschen unseres Typs Afrika möglicherweise zweimal verlassen haben (siehe auch Kapitel 2.6.4). Die erste Auswanderung des modernen Menschen aus Afrika 115–135 tya hinterließ fossile Funde in breiten Regionen des Nahen Ostens, später (zumindest in den israelischen Gebieten Qafzeh und Skhul) wurden moderne Menschen wieder durch Neandertaler ersetzt. Dieser Austausch korreliert offensichtlich mit dem Austausch der afrotropischen Fauna (Rennmäuse, Kusuratten, Kuhantilopen, Warzenschweine, Esel, H.sapiens) durch die paläarktische Fauna (Maulwürfe, Hamster, Bilche, Rehwild, Pferde, H.neanderthalensis) – es handelte sich also eher um klimatische Effekte als um einen brudermörderischen Krieg. Damals hätten wir dennoch die Neandertalergene gewinnen können, mit ihnen nach Ostafrika zurückkehren und sie von dort aus bei der zweiten „Out-of-Africa“-Invasion 85 tya über die ganze Welt verbreiten können. (Sowohl die ursprünglichen Bewohner Nordafrikas als auch die ostafrikanischen Populationen, die aus Nordostafrika stammen, wie z.B. die Massai, tragen tatsächlich Neandertalergene in sich.) Das Problem ist, dass die Europäer, die mit den Neandertalern langfristig zusammengelebt haben, weniger und nicht etwa mehr Neandertalergene haben als Chinesen, Inder oder sogar Papuaner, die mit ihnen nie zusammengelebt haben. Dies weist auf eine einzigartige (aber trotzdem erfolgreiche) Hybridisierung unserer Populationen im Nahen Osten ca. 100 tya oder eher auf mindestens zwei Hybridisierungsereignisse hin – eine „nahöstliche“ und eine (geografisch unklare: wann?, wo?) „ostasiatische“, aber merkwürdigerweise keine weitere Hybridisierung in Europa. Als vor ca. 40000 Jahren unsere Vorfahren europäischen Neandertalern begegneten, war es bereits unter ganz anderen Umständen: Damals waren die Neandertaler schon nahe am Aussterben und man kann spekulieren, dass die Kreuzung mit diesen späteren, glazialen Formen nicht mehr möglich war. (Obwohl dies eine reine Spekulation wäre, wenn wir auf der anderen Seite zugeben, dass Kreuzungen mit Schimpansen theoretisch nicht auszuschließen sind; siehe Box 2.1.)

Eine alternative Erklärung des Vorkommens von „Neandertalgenen“ in den heutigen außerafrikanischen Populationen wäre wieder die unvollständige Linientrennung (Abb. 3.7, Kapitel 2.1.1). Wenn wir uns die kompliziert strukturierte afroeuropäische Population des gemeinsamen Vorfahren der Arten H.sapiens und H.neanderthalensis vorstellen, ist es wahrscheinlich, dass die benachbarten Populationen (z.B. europäische und ostafrikanische) einige Allele teilen, die bei der südafrikanischen Population fehlen. Wenn es dann zur Speziation kommt, welche die neue europäische (H.neanderthalensis) von der afrikanischen Art (H.sapiens) abtrennt, finden wir in einigen Populationen der afrikanischen Art Gene, die sonst zur europäischen Art gehören, ohne dass eine Hybridisierung zwischen beiden neuen Arten stattgefunden hat.


Abb. 3.7: Ein Modell der unvollständigen Linientrennung zur Erklärung des Vorkommens von Neandertalergenen in einigen Populationen von Homo sapiens. Zwei verwandte Arten können Gene haben, die nur ihnen gehören, falls die Entstehung neuer Allele und die Speziation „in richtiger Folge“ verlaufen sind (oben Entstehung von zwei Allelen eines Gens, „gelbes“ und „blaues“ Allel war mehr oder weniger synchron mit der Entstehung von zwei Arten von Menschen und die Allele haben sich folglich in die Tochterarten getrennt). Aber es muss nicht immer so enden, weil die Evolution der Gene auch komplizierter sein kann, und es muss nicht immer mit dem Verlauf der Artbildung übereinstimmen (unten: beim Neandertaler finden wir das „gelbe Allel“, das sonst typisch für den modernen Menschen ist, wobei es sich aber nicht um die Folge einer zwischenartlichen Hybridisierung handelt, sondern um die unvollständige Trennung genetischer Linien in die Tochterarten).

Der Unterschied zwischen dem vererbten anzestralen Polymorphismus und der Hybridisierung beruht insbesondere in der Datierung der geteilten Allele. Gegenwärtige Evolutionsmodelle bestätigen, dass die geteilten Allele eher jung sind (ca. 35–85 tya), also tatsächlich für eine Hybridiserungsherkunft sprechen. Auch der Anteil archaischer Gene in den gegenwärtigen afrikanischen Populationen korreliert gut mit dem Anteil der Gene nichtafrikanischer Herkunft. Es handelt sich also eher um Neandertalergene, die nach Afrika zurück eingeschleppt wurden, als um die Folgen der Vermischung mit alten, „vor-modernen“ afrikanischen Populationen. Trotzdem ist es sinnvoll, eine langfristige Koexistenz verschiedener Populationen von Menschen in Afrika (z.B. Lokalität Iwo Eleru in Nigeria) und Teilmischung zwischen ihnen anzunehmen. Evolutionsgenetische Modelle weisen auf eine wahrscheinliche Existenz archaischer „vor-khoisaner“ DNA-Abschnitte in heutigen afrikanischen Genomen hin, insbesondere bei den süd- und ostafrikanischen Khoisan und den zentralafrikanischen Pygmäen. Dabei handelt es sich um DNA-Abschnitte, die wirklich sehr alt sind (mindestens 750 tya, aus der Zeit, die am ehestens dem H.antecessor und den Vorfahren von H.heidelbergensis entspricht). Direkte Beweise vermissen wir jedoch, da es bis jetzt nicht gelungen ist, aus den afrikanischen Fossilien DNA zu gewinnen (vergleiche Box 3.4).

Box 3.4

Der Haplotyp A00

Im Jahr 2012 hat ein afroamerikanischer Mann seine DNA-Probe für eine kommerzielle genealogische Untersuchung an die Gesellschaft Family Tree DNA geschickt. Das Ergebnis war sehr überraschend. Auf diesem Weg ist es gelungen, einen ganz neuen Typ des Y-Chromosoms zu entdecken. Der als A00 bezeichnete neue Haplotyp stellt eine Schwestersequenz von allen anderen bisher bekannten Y-Chromosom-Haplotypen dar, welcher sich vor mehr als 300000 Jahren abgespaltet hat. Die Fahndung nach dem Ursprung dieser Sequenz führte nach Kamerun, wo sie in der landwirtschaftlichen Bantu-Ethnie entdeckt wurde. Und so hat sich wieder gezeigt, dass die Diversität der afrikanischen Menschheit sehr tiefreichend ist. Wenn sich die Datierung des Haplotyps A00 bestätigt, würde es sich um eine Sequenz handeln, die älter ist als der anatomisch moderne Mensch und in die heutigen Bantus wahrscheinlich durch eine Introgression* gelangt ist. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass unweit der heutigen Heimat des Bantu-Stammes Mbo noch vor 13000 Jahren archaische Menschen (Iwo Eleru, Nigeria) lebten, deren Erbe dieser Haplotyp sein könnte.

*Introgression, introgressive Hybridisierung, Bewegung eines Gens (Genfluss) von einer Spezies in den Genpool einer anderen Spezies durch wiederholte Rückkreuzung des Hybrids mit einem der Elternspezies.

Eine weitere Hybridisierung fand in Ostasien ca. 40 tya statt – Melanesier, Papuaner und Australier tragen 3–6% Gene „denisovaner“ Herkunft. Dies bedeutet zumindest, dass der rätselhafte „Denisovaner“ keine lokale Erscheinung war und nicht nur in Sibirien vorkam. Von Afrika nach Melanesien wanderte man bestimmt nicht über den entfernten und unwirtlichen Altai (nichtsdestoweniger wurden im Genom eines 40000 Jahre alten modernen Menschen aus der Tianyuan-Höhle in der Nähe von Peking zwar Neandertaler- aber keine Denisova-Gene gefunden).

Kürzlich zeigte sich, dass wir die Denisova-Gene auch in heutigen Populationen aus Südchina und bei „Negriten“ auf den Philippinen, nicht jedoch in Südostasien, auf der malaysischen Halbinsel, den Großen Sunda-Inseln und nicht auf den Andamanen, und nicht einmal bei den dort ansässigen „Negriten-Stämmen“ finden. Es sieht also nach mindestens zwei Hybridisierungsereignissen aus: ein chinesisches und australo-melanesisches (wobei die Denisova-Gene vom Osten her auf die Philippinen gekommen sind, respektierend die sogenannte Wallace-Linie, d.h. die Grenze zwischen der asiatischen und australischen Fauna). Die Verbreitung von Denisova-Menschen in Asien hatte daher sehr weit sein müssen. Möglicherweise gehören einige uns gut bekannte Skelettreste sogar zu den Denisova-Menschen – und wir wissen nur nicht, dass diese Skelette eigentlich den Denisova-Menschen zugeordnet werden müssen.

Heute kennen wir zwei deutlich unterschiedliche „Populationen“ von Denisova-Menschen: diejenigen aus Altai und diejenigen unbekannter Herkunft, präsent im Genom heutiger Menschen. Alle „Denisovaner“ zeigen Zeichen der Hybridisierung mit unbekannten archaischen Menschen (wahrscheinlich asiatischer H.erectus), „Denisovaner“ aus Altai hatten darüber hinaus ca. 0,5% Gene von Altai-Neandertalern (Abb. 3.8).


Abb. 3.8: Ein wahrscheinliches Modell der Genflussereignisse im Spätpleistozän. Gezeigt sind die Richtung und geschätzte Größe des Genflusses. Die Länge der Äste, Position der Gabelungen und damit auch die Zeitmessung ist nicht proportional dargestellt. Die gestrichelte Linie indiziert, dass es unsicher ist, ob der „Denisovaner“-Genfluss zu Homo sapiens in Festlandasien direkt oder via Ozeanien stattgefunden hat. D.I. bezeichnet die Intregression bei Denisova-Menschen, N.I. Introgression der Neandertaler. Das Alter der archaischen Genome schließt die Detektion des Genflusses von modernen Menschen zu archaischen Menschen aus (nach Prüfer et al. 2014).

Die Entdeckung einer von anderen Menschenarten (Arten?) stammenden DNA in unseren Genomen ermöglicht einen ganz neuen Blick auf uns. Wir tragen in uns Stücke lange ausgestorbener Wesen. (In dieser Hinsicht sind wir aber keine Ausnahme. Der europäische Wisent ist wahrscheinlich ein Hybrid vom Auerochsen, also dem wilden Vorfahren unserer Kühe und irgendeinem ausgestorbenen Bison aus der Eiszeit. Dass Wisente in sich Gene von Auerochsen tragen, ist nicht so einzigartig, jeder Kuhstall ist voll von Auerochsgenen, aber Gene glazialer Bisons sind bis heute in keiner anderen Form als im Genom der Wisente erhalten geblieben. In letzter Zeit scheint es, dass sehr viele Arten eigentlich zwischenartliche Hybriden sind, und Homo sapiens gehört einfach in diese Kategorie.) Die einzelnen heutigen Menschen tragen in sich unterschiedliche Mengen (und Sequenzen) an Neandertaler-DNA, aber durch den Vergleich mehrerer Hundert gegenwärtiger europäischer und asiatischer Genome ist es gelungen, ca. 20% des ursprünglichen Neandertaler-Genoms zu rekonstruieren. Die Verteilung seiner Fragmente in unserem Genom ist uneben und wir finden hier sowohl extrem ausgeweitete „Wüsten“ ohne Neandertaler-Sequenzen wie auch Orte, wo 60–70% der Mitglieder einiger gegenwärtiger Populationen Eurasiens die Neandertaler-Version tragen. Wir haben weder Neandertaler-Mitochondrien-DNA noch Neandertaler-Chromosom Y. Das Fehlen des Neandertaler-Y-Chromosoms ist wahrscheinlich das Ergebnis intensiver Selektion gegen einige Neandertalergene. Die biologische Inkompatibilität zwischen unseren Spezies hat somit die Entstehung von Hybriden nicht verhindert, aber wahrscheinlich hat sie die Fruchtbarkeit der männlichen Hybriden sehr eingeschränkt.

Obwohl die Hybridisierung zwischen den Neandertalern und modernen Menschen nicht sehr erfolgreich war, wurde ein erheblicher Anteil der Neandertalergene in Genomabschnitten gefunden, die die Bildung von Keratin steuern und somit die Eigenschaften der Haut und ihrer Derivate (Haare), was sicherlich die Vielfalt und Anpassungen der außerafrikanischen Menschheit beeinflusst hat. Von Neandertalern haben wir wahrscheinlich auch einen Teil von Chromosom 3 erworben, der unter anderem ein spezifisches Allel des Gens HYAL2 enthält, das die zelluläre Antwort auf UV-Strahlung beeinflusst. Dieser Abschnitt kommt vor allem in Ostasien vor, wo er offensichtlich positiv selektiert wird, wobei das Ausmaß der Selektion mit der geografischen Breite korreliert. Gene neandertaler Herkunft haben dort möglicherweise die Besiedlung arktischer Gebiete ermöglicht. Aber es gibt nicht nur positive Nachrichten: Auch einige Allele, die das Risiko von Diabetes Typ 2, Morbus Crohn (entzündliche Darmerkrankung) sowie einiger Autoimmunerkrankungen erhöhen, sind wahrscheinlich neandertaler Herkunft.

Darüber hinaus, geht es nicht nur um die Neandertaler: Auch durch eine Kreuzung mit „Denisovanern“ sind auffällig archaische Allele der Gene des humanen Leukozytenantigen-System (HLA) in den Genpool der eurasiatischen Populationen gelangt. Dies wäre ein ziemlich besonderes Beispiel, dass wir durch die Kreuzung mit archaischen Populationen nutzvolle Allele bekommen haben. Auf dem Weg aus Afrika sind wir Leuten begegnet, die bereits 200000 Jahre in Eurasien gelebt und sich an die hiesigen Pathogene angepasst hatten.

Man kann also zusammenfassen, dass die Theorie „Out-of-Africa“ in ihrer klassischen (und extremen) Form tot ist. H.sapiens ist wahrscheinlich in Afrika entstanden, aber zusätzlich hat er einige Gene auch außerhalb von Afrika gewonnen. Die genetische Zusammensetzung des gegenwärtigen Menschen entpuppt sich als zunehmend komplexer und man kann nicht ausschließen, dass es zur Wiederbelebung der multiregionalen Hypothese kommt, allerdings in einer modifizierten Form, als eine Hypothese einer langfristigen, kontinuierlichen Vermischung, die nicht isoliert und punktuell, aber entlang der ganzen Route der Ausbreitung von Afrika nach Eurasien stattgefunden hat.

3.5 Genetische Differenzierung in Afrika

Die Ergebnisse aller genetischen Analysen stimmen darin überein, dass die tiefste Differenzierung der menschlichen Populationen auf dem afrikanischen Kontinent stattgefunden hat (dort, wo auch die größte gegenwärtige genetische Diversität vorliegt). Die gegenwärtige Menschheit teilt sich genetisch primär in eine afrikanische und außerafrikanische Großgruppe auf, wobei Nordafrika genetisch zum westlichen Eurasien gehört. Weiterhin kann man im Bereich des Subsahara-Afrikas mehrere genetische Grundtypen unterscheiden:

 Jäger und Sammler in Süd- und Ostafrika, die insbesondere mit den Sprachen der Khoisan-Familie sprechen.

 Bantu und ihnen verwandte landwirtschaftliche und Hirtengruppen aus Westafrika (niger-kordofanische Sprachfamilie), die sich durch die Bantu-Invasion ost- und südwärts bis zur Südspitze Afrikas erweitert haben.

 Ostafrikanischer Typ, vor allem die Hirtenlinie, die mit den nilosaharanischen Sprachen und zum Teil mit afroasiatischen Sprachen spricht.

Die Korrelation zwischen den sprachlichen, genetischen und ökonomischen Typen afrikanischer Populationen ist außerordentlich hoch. Die auffälligste Ausnahme bilden Pygmäen, zentralafrikanische Urwaldjäger und Sammler, die mit Bantu-Sprachen sprechen, aber anthropologisch, genetisch und kulturell eine eigenständige Linie repräsentieren. Phylogenetisch sind sie entweder nah mit der Khoisan-Familie verwandt oder eine Schwestergruppe aller anderen afrikanischen, Nichtkhoisan Populationen. Die Situation wird weiter verkompliziert durch die tiefe Differenzierung der westlichen (Baka) und östlichen (Mbuti und Twa) Pygmäen, die bestimmt älter zu datieren ist als die Ankunft der Bantu-Landwirte in dieser Region und damit eher ökologisch und klimatisch determiniert ist.

Die grundlegende Einteilung der afrikanischen Menschheit auf die Khoisan- (oder Khoisan-Pygmäen) Linie und die restlichen Afrikaner ist sehr alt – heute schätzt man ihre Divergenz auf 250–300 tya (vergleichen wir dies mit der 500 tya alten Divergenz Neandertaler – moderner Mensch!). Auch die sonstigen grundlegenden genetischen Divergenzen in Afrika sind wahrscheinlich dem Wegzug einer Linie moderner Menschen aus Afrika nach Eurasien vorausgegangen. Denn die Afrikaner bilden keine einheitliche Evolutionsgruppe, die man als Schwestergruppe der Nichtafrikaner betrachten könnte, sondern einen „Kamm“ eigenständiger Linien, die der nichtafrikanischen Menschheit unterschiedlich nahestehen.

3.6 Auswanderung aus Afrika

Wie bereits erwähnt, wurde das klassische Modell einer nichtafrikanischen Menschheit, die von einer einzigen kleinen (ost)afrikanischen Population abstammt und keine Gene sonstiger nichtafrikanischer menschlicher Arten trägt, in den letzten Jahren widerlegt. Es ist aber klar, dass die meisten unserer „nichtafrikanischen“ Gene letztendlich auch afrikanischer Herkunft sind. Die Wege aus Afrika waren mindestens zwei:

 Die alte (vor mehr als 100 tya) Migration führte über den nördlichen Weg über den Sinai in das heutige Levante und wurde für einen isolierten und erfolglosen „Versuch“ gehalten, bis kürzlich gleichaltrige Reste einer „nubischen“ (also nordostafrikanischen) Industrie im Süden der Arabischen Halbinsel gefunden wurden. Diese Funde weisen auf die Existenz einer umfangreichen außerafrikanischen Population hin, deren Beziehung zur heutigen Menschheit allerdings unklar ist (Abb. 3.9). (Alte DNA weist darauf hin, dass wir die Spuren dieser Population im Genom heutiger Südeuropäer finden können, wohin sie über alte europäische Landwirte nahöstlicher Herkunft gelangt sind.)

 Eine neue (ca. 80–90 tya) Migration über den südlichen Weg von Ostafrika über Bab al-Mandab in den Süden der Arabischen Halbinsel und von dort aus weiter über die „Strandroute“ an den Küsten des Indischen Ozeans entlang nach Indien, China und Australien (Abb. 3.9). (Man muss darauf aufmerksam machen, dass sich die Form der Kontinente damals deutlich von der heutigen unterschied, denn in den Glazialzeiten war ein großer Teil des Wassers in Gletschern gebunden, was einen bedeutenden Teil des Kontinentalschelfs enthüllt hat – der Küstenweg von Indien nach China führte damals unter anderem über Borneo, Abb. 3.10).


Abb. 3.9: Die Auswanderung des modernen Menschen aus Afrika und die Ausbreitung über die Welt. Bezeichnet sind die Wanderrouten, die Orte der wichtigen archäologischen Funde und ihre Datierung. 1. Blonbos Caves, (RSA, 75–65 tya); 2. Klasies River (RSA, 90–65 tya); 3. Singa (Sudan, 155 tya); 4. Omo Kibish (Äthiopien, 195 tya); 5. Herto (Äthiopien, 160 tya); 6. Taforalt (Marokko, 82 tya); 7. Oued Djebbana (Algerien, 35 tya); 8. „Lagar Velho boy” (Portugal, 35 tya); 9. Skhul und Qafzeh (Israel, 120–90 tya); 10. Pestera cu Oase (Rumänien, 40 tya); 11. Fa Hien Cave und Batadomba Lena Cave (Sri Lanka, 35 tya); 12. Niah Caves (Sarawak, 45 tya); 13. Tianyuan (China, 40 tya); 14. Lake Mungo (Australien, 46 tya); 15. Wally’s Beach (USA, 13 tya); 16. Arlington Springs (USA, 13 tya); 17. Cactus Hill (USA, 20–17 tya); 18. Quebrada Jaguay (Peru, 13 tya); 19. Monte Verde (Chile, 15 tya). Die Zahlen in orange Kreisen (65k etc.) sind die geschätzten Zeiten (in tya), wann die jeweiligen „Wanderetappen“ stattfanden.

Genomische Studien zeigen, dass die außerafrikanische Menschheit in drei Evolutionslinien eingeteilt werden kann: „Europide“ (Europa, Naher Osten, Nordafrika, Indien), „Mongolide“ (Ostasien, Amerika) und „Australide“ (Neuguinea, Melanesien, Australien) (Abb. 3.9 und 3.10). Evolutionäre Beziehungen untereinander sind unklar. Der Geografie der Südroute entspricht die grundlegende West-Ost-Einteilung am besten (d.h. „Europide“ versus „Australide“ + „Mongolide“), aber die neu publizierten Genome der Papuaner und australischer Aborigines zeigen, dass es sich bei beiden um eine basale und seit Langem isolierte Linie der nichtafrikanischen Menschheit handelt.


Abb. 3.10: Weltkarte während der Glazialzeiten. Weiße Flächen stellen die Ausbreitung des Festlands im Vergleich zu den heutigen Konturen der Kontinente dar.

3.7 Indien und der Weg nach Australien

Die genetische Diversität in Südasien ist prinzipiell vergleichbar mit der afrikanischen; außer der Tatsache, dass es sich um eine der ältesten durch den Menschen besiedelten Regionen handelt, hatte wahrscheinlich auch die Explosion des Supervulkans Toba auf Sumatra 74 tya bedeutende Auswirkungen (vergleiche Box 1.4). Sie hatte einen wesentlichen Einfluss auf das Aussterben der alten menschlichen Populationen westlich von Sumatra, also insbesondere in Indien. Dies ist bezogen auf die indische Bevölkerungsstruktur bis heute sichtbar: Die Ethnien in Nordostindien stehen den Tibetern u.ä. sehr nahe, während der überwiegende Teil Nordindiens eine gewisse genetische Nähe zu Bewohnern des westlichen Eurasiens, also auch zu den Europäern zeigt. Darüber hinaus zeigt sich, dass die indische Bevölkerung einen nord-südlichen genomischen Gradienten ausbildet, wobei die südliche genetische Komponente („ancestral southern Indians“) den rätselhaften Bewohnern der Andamanen, den indomalaischen Negriten und vielleicht auch den australischen Aborigines nahesteht.

Die Geschichte der indischen Populationen ist weiter durch das Kastensystem geprägt, einer einzigartigen sozioökonomischen Hierarchie, die mit dem Hinduismus und der Ausbreitung indoeuropäischer Sprachen verbunden ist (3,5 tya; die erwähnte nord-südliche genetische Dichotomie ist allerdings viel älter). Haplotypen aus Europa und Westasien überwiegen in höheren Kasten, während die niederen Kasten genetisch häufig den Populationen ähnlich sind, die außerhalb des Kastensystems in „Stämmen“ leben. Wir begegnen hier also einem sehr komplizierten mehrschichtigen Mosaik unterschiedlich alter genetischer Komponenten von sowohl autochthoner als auch europäisch-westasiatischer oder ostasiatischer Herkunft. Aus Nordwestindien stammen die europäischen Roma; ihre heutigen Genome sind allerdings zum großen Teil von europäischen, wahrscheinlich osteuropäischen Quellen abgeleitet – zur Vermischung kam es vor ca. 900 Jahren, was den historischen Angaben über die Ankunft von Roma nach Europa vor 1000–1500 Jahren entspricht.

Die Bevölkerung von Neuguinea, Melanesien und Australien stellt eine einheitliche und gleichzeitig tief isolierte Linie dar, die den Superkontinent Sahul (heutiges Neuguinea, Australien und Tasmanien) vor mehr als 40 tya zur einmal vom Westen, aus Südasien, besiedelt hat (Abb. 3.9 und 3.10). Der Weg nach Sahul führte über Süd- und Südostasien und sollte daher in der Genetik heutiger Populationen Spuren hinterlassen haben. Ein Relikt der ursprünglichen Bevölkerung Südasiens könnten die heutigen Bewohner der Andamanen im Indischen Ozean sein. Es handelt sich um Jäger und Sammler des „australoiden“ Typs, mit isolierten Sprachen (möglicherweise entfernt verwandt mit den neuguineischen Sprachen) und sehr isolierten mitochondrialen Haplotypen. Auch die genomischen Analysen deuten sowohl auf eine Nähe zu den Andamanern als auch neuguineischen und australischen Einheimischen hin. Der gemeinsame Vorfahre der heutigen andamanischen Haplotypen ist allerdings sehr jung (weniger als 10 tya), was sich auch mit den sehr jungen archäologischen Aufzeichnungen auf den Inseln deckt. Es scheint sich also um Nachkommen einer Reliktpopulation aus dem indisch-birmanischen Raum zu handeln, die die Andamanen vor relativ junger Zeit besiedelt haben. Ähnliche Reste von „australoiden“ Populationen findet man in Süd- und Südostasien als sogenannte Negriten (z.B. Semang in Malaysia oder Agta, Aeta und Mamanwa auf den Philippinen). Auch genomische Untersuchungen legen nahe, dass sie als voneinander isolierte, zwischen der australisch-neuguineischen und der ostasiatischen Gruppe verteilte Linien zu sehen sind. Einige Ethnien aus Südindien (z.B. Soliga) haben eine enge phylogenetische Beziehung zu (nord)australischen Aborigines. Im Genom dieser australischen Einheimischen kann man einen bedeutenden Anteil (ca. 11%) der indischen (und „andamanischen“) Herkunft finden, der dagegen im Genom der nah verwandten Papuaner fehlt. Die geschätzte Zeit der Vermischung (mehr als 4 tya) entspricht einigen Änderungen durch neue australische archäologische Befunde (Steinspitzen der Pfeile, Bearbeitung der Pflanzen), der Expansion der Pama-Nyunga-Sprachen über große Teile Australiens, sowie der Ankunft des Dingo (obgleich die DNA der Dingos eher für eine südostasiatische als indische Herkunft spricht).

3.8 Besiedlung Europas

Die Besiedlung des eurasiatischen Inlands hat sich in der Geschichte der menschlichen Population auffällig spät ereignet. Die Menschen haben Australien früher als Europa oder Zentralasien besiedelt. Die Tür ins Innere des Kontinents haben erst klimatische Veränderungen ca. 50 tya geöffnet. Der Weg nach Europa führte über den Nahen Osten, den zukünftigen fruchtbaren Halbmond, Anatolien und Transkaukasien (Abb. 3.9 und 3.10). Im Verlauf des letzten Glazialmaximums (27–16 tya) hat sich die europäische Population wieder in einige wenige Südrefugien (balkanische, italienische, ukrainische, franko-kantabrische) zurückgezogen, sodass die heutige Besiedlung Europas die Folge der postglazialen Re-Expansion (15–10 tya) ist (Abb. 3.11). Etwas später (10–8 tya) begann sich die Landwirtschaft aus dem fruchtbaren Halbmond nach Europa auszubreiten (Abb. 5.2). Ca. 7 tya begann schließlich die Migration der Bronze- und Eisentechnologie, welche vermutlich auch für die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen verantwortlich ist (Kapitel 4.7.2).


Abb. 3.11: Besiedlung Europas aus dem Gebiet des Nahen Ostens (zukünftiger fruchtbarer Halbmond, grün) und Re-Expansion aus den Südrefugien (rot, von West nach Ost: franko-kantabrische, italienische, balkanische, ukrainische).

Die Populationsgeschichte Europas ist außerordentlich interessant, da es eine große Unsicherheit, insbesondere über die Ausbreitung von technologischen und ökonomischen Neuheiten auf diesem Kontinent gibt. Das gegenwärtige Europa ist ein universales Agrargebiet, aber gleichzeitig weiß man, dass die Landwirtschaft vom Südosten, aus der Region des fruchtbaren Halbmondes, hierhergekommen ist, während hingegen die Besiedlung Europas viel älter ist. Auf welche Art und Weise sich das paläolithische Europa der Jäger und Sammler (z.B. Aurignacien-Kultur der „Cromagnon-Menschen“ und die jüngere Gravettien-Kultur der „Mammut-Jäger“ in Mähren) (Abb. 3.12, Tab. 2.2) in das neolithische, also landwirtschaftliche Europa verändert hat, ist bis heute unklar.


Abb. 3.12: Lokalitäten von Höhlen mit prähistorischen Gemälden der „Cromagnon-Menschen“.

Im Prinzip kann man sich drei Möglichkeiten vorstellen:

 organisierte Migrationen (Einwanderung) fremder Völker,

 demische Diffusion (die neue Technologie verbreitet sich zusammen mit neuen Genen, aber es handelt sich um eine allmähliche, unauffällige Diffusion einzelner Familien oder kleiner Gruppen),

 kulturelle Diffusion (neue Technologie verbreitet sich allein durch Nachahmung von Nachbarn, ohne dass ein bedeutender Genfluss stattfinden würde).

Untersuchungen der mtDNA heutiger Populationen führten zum Schluss, dass die gesamte europäische Population alt und vorlandwirtschaftlich ist und dass nur einer der sieben Haupt-Haplotypen (T oder „Tara“), der ca. 20% der europäischen Population repräsentiert, aus dem Nahen Osten stammt und mit der Landwirtschaft gekommen ist (Box 3.5). Diese Schlussfolgerung war nicht ganz im Einklang mit den Untersuchungen des Y-Chromosoms, die auf die Existenz von drei Haplotypen hinweisen: nahöstlicher, zentralasiatischer und osteuropäischer Herkunft. Auch die kraniometrischen Daten zeigten, dass die Landwirte sich merklich von den Jägern und Sammlern unterschieden, was die Vorstellung einer Kontinuität der Jäger/Sammler- und Bauernethnien infrage stellt. Die Archäologie belegt die schnelle Verbreitung der Landwirtschaft und die Absenz von „Übergangskulturen“ und eine langfristige Koexistenz der Paläolithiker und der Neolithiker. Man kann also zusammenfassen, dass die mtDNA die Vorstellung der Kulturdiffusion unterstützte, während andere Ansätze eher die demische Diffusion annahmen, die übrigens allgemein besser vorstellbar ist (es ist äußerst schwierig die Erfindungen und die Kultur der Nachbarn langfristig zu übernehmen und gleichzeitig sexuellen Abstand zu wahren).

Tab. 3.1: Übersicht über die europäischen Haplogruppen mtDNA.

Haplogruppe mtDNA (Urmutter)UrsprungsregionAlter (tya)Häufigkeit in Europa
T (Tara)fruchtbarer Halbmond1000020%
V (Velda)iberische Halbinsel1500010%
K (Katrine)Norditalien120006%
H (Helena)Südwestasien, Kaukasus2700039%
X (Xenia)Asien300002%
J (Jasmine)Westasien, Kaukasus4500012%
U (Ursula)Westasien5500011%

Box 3.5

Sieben Töchter Evas

Sieben Töchter Evas (2001) ist ein populärwissenschaftliches Bestseller-Buch des renommierten englischen Humangenetikers Bryan Sykes (Oxford University). In diesem Buch beschreibt Sykes diverse Aspekte und Forschungsergebnisse der mitochondrialen Genetik. Der Titel des Buches ist abgeleitet von den Ergebnissen der Analysen der mtDNA gegenwärtiger Europäer. Nach diesen Ergebnissen lassen sich die Europäer in sieben Gruppen, sogenannte mitochondriale Haplogruppen, einteilen. Jede Haplogruppe wird durch einen Satz von Mutationen mitochondrialer DNA definiert und lässt sich in der mütterlichen Linie verfolgen bis zu einer urgeschichtlichen Frau, die Sykes als „Urmutter“ bezeichnet. Da die Mutationsrate mitochondrialer DNA relativ gering ist (einmal alle 20000 Jahre), lässt sich dadurch das Alter der jeweiligen „Urmutter“, bzw. das der Haplogruppen, bestimmen.

Die „Urmütter“ erhielten die Namen Helena, Jasmine, Katrine, Tara, Ursula, Velda und Xenia nach den anfänglichen Kode-Buchstaben der jeweiligen Haplogruppen (Tab. 3.1). Bis auf T(ara) sind alle Haplogruppen alt (55000–12000 Jahre) (siehe unten) und stammen somit von Jägern und Sammlern ab. Nur die Haplogruppe T(ara) ist jünger als 10000 Jahre und stammt von der Bauern-Population aus dem fruchtbaren Halbmond ab. Zu dieser Gruppe gehören 20% der heutigen Europäer (darunter auch Bryan Sykes selbst). Die „Urmütter“ lebten also in unterschiedlichen Regionen und nicht gleichzeitig. Alle diese Frauen teilten sich aber einen gleichen Vorfahren, die „Eva der Mitochondrien“ (Box 3.2).

Die Annahme von nur sieben mitochondrialen Linien moderner Europäer ist wahrscheinlich unterschätzt (andere Autoren schätzen diese Zahl auf elf oder zwölf). Die Anzahl der mitochondrialen Haplotypen für die gesamte Weltbevölkerung ist wesentlich größer.

Einen wichtigen Fortschritt brachte das Entschlüsseln des Genoms des Hirten Ötzi, dessen ca. 5300 Jahre alte mumifizierte Leiche im Jahre 1991 in den Alpen an der österreichisch-italienischen Grenze gefunden wurde. Zusammen mit weiteren alten paläo- und neolithischen Genomen zeigt sie ein neues Bild der europäischen Prähistorie: die europäische Population stammt von drei Quellen – (west)europäischen Jägern und Sammlern, sibirischen „Nordasiaten“ (zu denen auch die paläolithische Mal‘ta-Population von der Balkai-Region gehörte und die den Vorfahren ursprünglicher Amerikaner nahe steht) und den europäischen Landwirten nahöstlicher Herkunft. Das, was an den neuen Entdeckungen wahrscheinlich am bedeutendsten ist, ist ein deutlicher Anteil der Gene rätselhafter „basaler Eurasiaten“ im Genom europäischer Landwirte. Es handelt sich wahrscheinlich um die Spuren einer Population, die älter als die Trennung der europäischen und ostasiatischen Populationen war (erinnern wir uns an die alten Bewohner von Levante oder auf die Werkzeuge afrikanischer Herkunft auf der Arabischen Halbinsel). Die heutigen Nordeuropäer ähneln eher den alten europäischen Jägern und Sammlern, während die heutigen Südeuropäer den alten Agrarpopulationen nahe stehen, insbesondere den Bewohnern der Tyrrhenischen Region (Ötzi insbesondere mit den Sardiniern) (Abb. 3.13). Der mitochondriale Haplotyp U („Ulrike“, heute deutlich in Nordeuropa, hauptsächlich bei den Samen vertreten) kam fast ausschließlich bei frühen Jägern und Sammlern vor, dafür nur ausnahmsweise bei frühen Bauern.


Abb. 3.13: Modell der Geschichte der westeuropäischen Population. Rezente Populationen sind dargestellt in lila, archaische Populationen in rosa und rekonstruierte anzestrale Populationen grün. Durchgezogene Linien stellen Herkunft ohne Vermischung dar, gestrichelte Linien Beimischungsereignisse (nach Lazaridis et al. 2013).

Man kann also zusammenfassen, dass die heutigen Europäer nicht die umgeschulten Paläolithiker sind (wie die Untersuchungen der mtDNA zeigten), sondern Nachkommen von Menschen mehrerer Besiedlungswellen, die 40000 Jahre getrennt voneinander stattfanden (Box 3.6).

Box 3.6

Alte DNA und Phylogeografie

Aus den Ergebnissen der Erforschung alter DNA folgt ein schwerwiegendes, obwohl theoretisch vorhersehbares Ergebnis: Die auf der DNA heutiger Populationen basierende Molekularphylogeografie gibt ein falsches Bild der Geschichte, denn die heutigen Populationen sind nicht die Nachkommen von Populationen, die am gleichen Ort vor Tausenden Jahren lebten. Schon von dem Wenigen, was wir heute wissen, können wir zusammenfassen (ein bisschen vereinfacht und effektiv gesagt), dass wir die Menschen, die am besten das genetische Erbe der zentraleuropäischen neolithischen Landwirte bewahren, in Sardinien finden. Die nächsten Nachkommen westeuropäischer Jäger und Sammler leben an der Ostsee, die nächsten Verwandten der Altsteinzeit-Sibirier vom Baikalsee finden wir in Amerika, die genetischen Spuren der noch älteren Sibirier von Altai finden wir in Australien und auf Neu-Guinea und die Spuren der ganz ältesten außerafrikanischen Menschen sind im Genom heutiger Europäer vertreten. Man kann annehmen, dass die Entschlüsselung noch zu findender alter DNA unsere Ansichten über die Geschichte der Menschheit auch in anderen Gebieten ändern wird – falls sie jemals gefunden wird.

3.9 Ostasien und Besiedlung von Ozeanien und Madagaskar

Ostasien ist eine entscheidende Region für die weitere Entwicklung der Menschheit – es ist das Gebiet der althergebrachten Entstehung der Landwirtschaft, Metallurgie und des Staates. Aus dem Gesichtspunkt der phylogeografischen Geschichte der Menschheit sind die langfristigen Konfliktbeziehungen zwischen China und Zentralasien (Mongolen, Mandschuren) von Bedeutung, die tief in die historische Zeit (berühmte Dynastie Quing 1644–1911 war vom Ursprung her mandschurisch, nicht chinesisch) überdauerten. Zentralasiatische Wüsten wirken wie eine Pumpe, die nomadenhafte Hirtenethnien, abhängig von den klimatischen Oszillationen, „einsaugt“ oder „ausbläst“ (und dies nicht nur nach China, sondern auch westwärts nach Europa). Auf der anderen Seite schreitet das allmähliche Verdrängen der austrischen Ethnien weiter südwärts nach Südostasien und in die indonesisch-philippinische Inselregion vor.

In Indonesien können wir mehrere Populationsschichten finden – eine alte, mit der ursprünglichen Migration der modernen Menschen aus Afrika nach Australien verbundene (30–15 tya) und letztendlich auch eine relativ junge, mit der Verbreitung der austronesischen Sprachfamilie verbundene Migration aus Südostchina. 3,3–3,5 tya haben die Austronesier von Taiwan aus sehr schnell die Philippinen, Indonesien und das „nahe Ozeanien“ (Neuguinea und Melanesien) besiedelt. Auch Madagaskar, das letzte große Stück unbewohntes Land wurde von Menschen aus Borneo in den letzten Jahrhunderten vor Christus besiedelt (die Immigration der Bantu aus Afrika folgte erst vor ca. 1000 Jahren) und kurze Zeit darauf auch das ganze „Fernozeanien“ (Mikronesien, Polynesien) (vergleiche Box 5.6). Diese weitreichende Expansion wird gut durch die Kongruenz der sprachlichen und (teilweise) auch archäologischen Daten (Lapita-Kultur) belegt. Die Hypothese des „schnellen Zuges“ („express train model“) hat jedoch keine eindeutige genetische Unterstützung. Die schnelle Verbreitung der Kultur (austronesische Sprachen, Lapita-Technologie, teilweise auch Landwirtschaft) war hier wahrscheinlich nicht mit der vergleichbar massiven und schnellen Migration der Menschen verbunden. Die Bevölkerung Ozeaniens stammt auch von viel älteren Populationen des Korridors ab, die Indochina, Indonesien und „Nahozeanien“ miteinander verbinden.

3.10 Besiedlung Amerikas

Der amerikanische Kontinent wurde als letzter besiedelt, vermutlich aus Nordostasien (Abb. 3.9); alternative Hypothesen sind zumindest unwahrscheinlich. Unlängst hat die sogenannte „Solutréen-Hypothese“ ansehnliche Popularität gewonnen. Sie nimmt an, dass die europäische, 17–21 Tausend Jahre alte Kultur die nordamerikanische Clovis-Kultur durch eine Kolonisierung über den Atlantik entlang des weit in den Süden reichenden Polargletschers während des letzten Glazials beeinflusst hat.

Diese Hypothese stützt sich außer auf das angeblich „europide“ Aussehen des sogenannten Kennewick-Menschen, (Washington, ca. 9000 Jahre alt) insbesondere auf das Vorkommen des „europäischen“ mitochondrialen Haplotyps X in Nordamerika (hauptsächlich im Nordosten). Den Haplotyp X kennen wir allerdings auch aus Sibirien und Nordafrika, dagegen ist die DNA des Kennewick-Menschen eher ostasiatisch und die europäische Solutréen-Kultur war nicht maritim. Präkolumbische Kontakte Europas und Amerikas sind unbestritten. Auch wenn eine dauerhafte Wikinger-Besiedlung von Grönland, Neufundland und Labrador (Vinland) letztendlich gescheitert ist, dauerten die Kontakte zwischen Nordeuropa und Nordamerika ca. 400 Jahre an. Bis heute werden sie durch die Existenz des amerikanischen mitochondrialen Haplotyps C1 auf Island belegt.

Das neu entschlüsselte Genom eines Jungen, der vor 24000 Jahren in der Lokalität Mal’ta am Baikalsee begraben wurde (es handelt sich um das älteste komplett gelesene Genom des modernen Menschen), verbindet die Eigenschaften der Europäer und Westasiaten mit Genomen ursprünglicher Amerikaner, also nicht mit gegenwärtigen ostasiatischen Genomen – dies würde an die gemischte Herkunft heutiger Amerikaner deuten: Genetische (im Mal’ta Genom erhaltene) westeurasiatische Elemente sind mit den ostasiatischen verbunden. Der alte Weg von Europa nach Amerika führte ja über Sibirien und Beringia, nicht über den Atlantik.

Wir kennen auch Indizien, die Südamerika mit Polynesien verbinden (präkolumbische Bataten südamerikanischer Herkunft, verschiedene kulturelle Übereinstimmungen), aber nichts deutet darauf hin, dass die Bevölkerung dieser Regionen auch genetische Übereinstimmungen aufweisen würde.

Der „polynesische“ mitochondriale Haplotyp, neulich bei den ausgestorbenen Botokuden in Ostbrasilien gefunden, bleibt rätselhaft – die Botokuden lebten zu weit östlich, um direkte Kontakte mit den Polynesiern anzunehmen; das polynesische Motiv ist aber auch zu jung und wenig variabel um ihr Einwandern über die klassische Route durch asiatische Vorfahren der Polynesier über die Paläoindianer asiatischer Herkunft bis nach Brasilien anzunehmen, sodass nur noch die Variante einer rezenten Ankunft der „polynesischen DNA“ aus Madagaskar nach Brasilien mit Sklavenhalterschiffen infrage kommt.

Die ursprüngliche amerikanische Population ist genetisch sehr verarmt, wobei die genetische Variabilität südwärts und ostwärts weiter sinkt. Das Alter der amerikanischen Population ist schwer einzuschätzen. Die älteste, gut bekannte nord- und mesoamerikanische Kultur ist die Clovis-Kultur (11–13 tya), aber die ältesten bekannten Siedlungen sind noch etwas älter (Monte Verde in Chile und Buttermilk Creek in Texas, ca. 15 tya; Meadowcroft in Pennsylvanien, 16 tya), was auf die Ankunft von Menschen in Amerika 16–20 tya hinweisen würde. Ältere Funde (bis 40 tya) sind eher unglaubwürdig. Die molekulare Uhr indiziert zwar eine ältere Trennung amerikanischer und asiatischer Haplotypen (40 tya), sagt aber nichts darüber aus, wo diese Trennung stattgefunden hat. Die fossile DNA eines Menschen der Clovis-Kultur in der nordamerikanischen Lokalität Anzick (Montana), 12000 Jahre alt, zeugt von einer eindeutigen Zugehörigkeit zu den heutigen amerindischen Populationen, wobei sie den heutigen südamerikanischen Amerinden näher steht. Dies zeigt, dass in dieser Zeit die amerindische Population schon ausgeprägt strukturiert war, was der Vorstellung von der Besiedlung Amerikas durch die Vorfahren heutiger Amerinder schon mehrere Tausend Jahre vor der Clovis-Kultur entspricht.

Die Amerinden (einschl. DNA aus Anzick) stellen eine genetisch spezifische, isolierte und homogene Population dar, während wir bei den mit eskimo-aleutischen und Na-Dené Sprachen sprechenden Ethnien einen ausgeprägten (und südwärts steil sinkenden) Anteil von Genen finden, die diese sich mit den Bewohnern Sibiriens und insbesondere den arktischen Regionen Nordostasiens (Kamtschatka, Tschukotka) teilen. Die Vermischung amerindischer und arktischer Populationen im Norden Nordamerikas ist offensichtlich ziemlich rezent: Eine alte, aus einem 4000 Jahre alten in Westgrönland gefundenen Haar (Saqqaq-Kultur) isolierte DNA zeigt eine viel nähere Verwandtschaft mit den heutigen Bewohnern aus der Tschuktschen-Halbinsel und Kamchatkas, als mit den heutigen Inuit aus demselben Gebiet. Auch unter dem sprachlichen Gesichtspunkt repräsentieren die ursprünglichen Amerikaner mindestens drei selbstständige Kolonisationen: amerindische Sprachen unklarer Herkunft, eskimo-aleutische Sprachen, vielleicht entfernt eurasiatischen Sprachen verwandt, und die Na-Dené Sprachen, die nah den Jenissei-Sprachen und fern den sino-tibetischen Sprachen anzusiedeln sind (Kapitel 4.7.2 und 4.7.4).

Die Quelle aller Wellen der Besiedlung Amerikas war Beringia, eine durchgängige Landbrücke am Nordrand des heutigen Beringmeers, also zwischen Nordamerika und Sibirien während des letzten Glazialmaximums (Abb. 3.9, 3.10 und 3.14). Beringia war ein bedeutendes Refugium von Grastundra, das von Asien und Amerika durch Gletscher getrennt wurde. Von dort aus verbreiteten sich die Menschen wahrscheinlich durch zwei Migrationskorridore nach Nordamerika und weiter nach Süden – einer führte entlang der Pazifikküste, der andere durch das nicht vereiste Inland zwischen dem Kordilleren- und dem Laurentidischen Eisschild.


Abb. 3.14: Beringia. Dunkelgrün dargestellt ist das Ausmaß des heutigen Festlands. Heller gefärbt sind die Küstenlinien während der glazialen Kältezeiten (nach Balter et al. 2013).

Nach dem Verlassen von Beringia gelang die Kolonisierung Amerikas ziemlich schnell – für den Weg vom fernsten Norden (Alaska) bis zum fernsten Süden (Feuerland) über eine Fülle von diversen Habitaten benötigten die ersten Amerikaner weniger als 2000 Jahre. Die amerikanische Population ist genetisch verarmt und sehr homogen, wobei die genetische Variabilität süd- und ostwärts weiter sinkt. Genomische Daten zeigen eine ansehnliche Korrelation der genetischen und sprachlichen Beziehungen (Amerinden × Na-Dené × Eskimo-Aleuten, vergleiche Kapitel 4.7.2 und 4.7.4; siehe auch Box 3.7.

Box 3.7

Spätere Migrationen

Bis jetzt haben wir uns damit beschäftigt, was auf Englisch als „peopling“ bezeichnet wird, also der Besiedlung der durch Homo sapiens noch nicht bewohnten Areale. Dieser Prozess kulminierte mit der Besiedlung von Madagaskar (um die Jahreszahlwende, wahrscheinlich ca. 400 n.Chr.), Hawaii (300–500 n.Chr.) oder Neuseeland (1200–1300 n.Chr.). Die Ausbreitung der Menschheit über die Erde ist dadurch aber nicht zum Stoppen gekommen. (Es ist etwas absurd von der „Entdeckung Amerikas“ durch Christoph Columbus 1481 zu sprechen – analog hat der Autor dieser Zeilen 2012 Leipzig entdeckt – in beiden Fällen war der „Entdecker“ vorher nie dort, aber einige Menschen hatten dort vorher schon gewohnt.) Manche der bedeutenden Migrationen wurden hier schon erwähnt (Bantu-Expansion nach Ost- und Südafrika, austronesische Expansion nach Indonesien, Ozeanien und Madagaskar, außerordentlich komplizierte Geschichte der Bevölkerung vom Mittelmeerraum bis nach China, die durch die Populationspulse von zentralasiatischen Hirtenethnien getrieben wurde). Die Mechanismen der Expansionen können ganz unterschiedlich sein – erwähnenswert ist die ganz wesentliche Änderung der genetischen und Kulturkarte der Welt in den letzten 500 Jahren, die mit dem Kolonialismus (Besiedlung europäischer Herkunft in Amerika, Australien, Neuseeland, Südafrika) oder mit der Sklaverei zusammenhängt. (Die unfreiwillige Bantu-Expansion nach Amerika war – aus dem evolutionären Gesichtspunkt eigentlich sehr „erfolgreich“: Im 16.–19. Jahrhundert wurden dorthin 10–12 Millionen Bantus verfrachtet, vor allem aus Westafrika, vom Senegal bis nach Angola, obwohl aus Afrika angeblich ursprünglich 40–100 Millionen Menschen verschifft wurden, was sich in der Populations- und möglicherweise auch technologischen Stagnation von Subsahara-Afrika bemerkbar gemacht hat.)

Humanbiologie

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