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1 Phylogenetische Stellung des Menschen

1.1 Primaten

1.1.1 Euarchontoglires

Der Mensch ist ein Primat. Die „Ordnung“ Primaten (Primates, Herrentiere) bildet zusammen mit Spitzhörnchen (Scandentia), Riesengleitern (Dermoptera), Hasenartigen (Lagomorpha) und Nagetieren (Rodentia) die evolutionär einheitliche, monophyletische Gruppe der Euarchontoglires. Wir schreiben „Ordnung“ absichtlich in Anführungszeichen, denn es gibt keine objektive wissenschaftliche Methode, um einen taxonomischen Rang festzulegen. Die Gliederung der Organismen in unterschiedliche systematische Einheiten (Taxa), wie z.B. Klasse und Ordnung, ist lediglich ein Hilfsmittel um die Übersicht (einigermaßen) zu wahren. Mehr dazu im Buch „Systematische Zoologie“ von Burda et al. (2008). Die genaueren Beziehungen zwischen den Primaten und anderen Gruppen sind nicht ganz klar (Abb. 1.1; Box 1.1).


Abb. 1.1: Kladogramm der Säugetiere. Blaue Linien kennzeichnen Gruppen, deren Monophylie nicht gesichert ist bzw. deren phylogenetische Beziehungen unsicher sind.

Box 1.1

Die nächsten Verwandten der Primaten

Dermoptera (Riesengleiter, Pelzflatterer), Masse: 1–1,8 kg. Herbivore Urwaldsäugetiere aus Südostasien, die an Spitzhörnchen mit großer Flughaut erinnern. Diese ist zwischen Hals, Vorder- und Hinterbeinen und Schwanz aufgespannt und ermöglicht Gleitflug. Charakteristisch sind auch kammartige untere Schneidezähne. Eine Familie: Cynocephalidae (Gleitflieger), traditionell zwei Arten, auf molekulartaxonomischer Basis bestimmt noch mehr.

Scandentia (Spitzhörnchen), Masse: 25–300 g. Eichhörnchenähnlich, verlängerte Schnauze, Ohrmuscheln vom Primatentyp. Insektenfressergebiss. Gehirn und Sehsinn weit entwickelt, geschlossene Orbitahöhle. Meist arborikol und tagesaktiv. Süd- und Südostasien. Zwei Familien: Tupaiidae (Tupaias), ca. 20 Arten, Ptilocercidae, traditionell eine Art.

Interessanterweise beschäftigt sich – auch wenn „unabsichtlich“ – der größte Teil der biomedizinischen Forschung außer mit dem Menschen selbst auch mit seiner nächsten Verwandtschaft (Makak, Kaninchen, Ratte, Maus, Meerschweinchen). Unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Vergleichbarkeit von Mensch und Tier ist dies auch bestimmt sinnvoll; allerdings dürfen wir die Ergebnisse solcher Forschung nicht pauschal auf die gesamte Gruppe der Säugetiere übertragen.

1.1.2 Verbreitung

Wenn wir die Verbreitung des modernen Menschen, der die gesamte Erde einschließlich der Antarktis sowie Ozeaniens bevölkert und der sporadisch sogar das nahe Weltall und den Mond aufsucht (oder aufgesucht hat), außer Acht lassen, dann lässt sich zusammenfassen, dass die Primaten in den Tropen und Subtropen Afrikas, Madagaskars, Asiens und Südamerikas verbreitet sind (Abb. 1.2).


Abb. 1.2: Geografische Verbreitung (grün) der nichtmenschlichen Primaten.

1.1.3 Merkmale

Primaten sind eine ziemlich heterogene Gruppierung von Tieren mit unterschiedlichem Evolutionsniveau (Tab. 1.1 und 1.2). Sie wiegen zwischen 55 g (Zwergmaki, Microcebus rufus) und 200 kg (Gorilla), sie sind primär Baumbewohner (arborikol) und wenig spezialisierte Omnivoren. Oft machen, neben Pflanzen und Früchten, Insekten einen großen Anteil ihrer Nahrung aus; reine Fleischfresser gibt es unter Primaten nicht.

 Primaten neigen zu vertikaler Körperstellung, wofür unter anderem die vorderen und hinteren Extremitäten unterschiedlich spezialisiert sind. Diese sind sehr beweglich (Rotation ist möglich), außerdem besitzen Primaten ein Schlüsselbein (Clavicula). Die Hände und Füße sind pentadaktyl (fünffingrig), die ersten Finger (Daumen und Großzehen) sind gegenüber den anderen Fingern opponierbar (Greifhände und -füße). Die für viele andere Säugetiere typischen Krallen haben sich zu flachen Nägeln umgewandelt (zumindest auf dem ersten Finger).

 Die sogenannte Leistenhaut an den Fingern, der Handinnenseite (palmar) und der Fußsohle (plantar) ist haarlos. Die Epidermis zeigt hier feine Papillarlinien, die ein individuelles Muster bilden (Fingerabdruck). Außer von Primaten ist ein Fingerabdruck nur vom Koala bekannt.

 Die Schnauze ist verkürzt, das Gebiss ist vollständig, die Backenzähne (Molares) sind bunodont (d.h. auf ihren viereckigen Kronen sitzen gerundete Höcker). Die Zahnformel, d.h. die Anzahl der Zähne pro Kieferhälfte lautet: 2:1:2–3:3 (also 2 Schneidezähne = Incisivi, ein Eckzahn = Caninus, 2–3 Vorbackenzähne = Praemolares, 3 Backenzähne = Molares), das macht insgesamt 34–36 Zähne.

 Das Gehirn ist relativ groß (anders als bei den meisten Säugetieren sind die optischen und nicht die olfaktorischen Zentren besonders ausgeprägt).

 Die Augen sind nach vorne gerichtet und ermöglichen somit stereoskopisches Sehen. Die meisten Primaten sind tagaktiv und (einzigartig unter den Säugetieren) Trichromaten, können also drei Farbbereiche wahrnehmen.

 Sie haben 1–3 Paare brustständiger Zitzen und gebären üblicherweise nur ein Jungtier, die Entwicklung (Ontogenese) verläuft langsam.

 Männchen besitzen einen Hodensack.

Die Monophylie der Primaten wird auch durch Molekularmerkmale unterstützt, wozu unter anderem ein besonderer Typ beweglicher genetischer Elemente (die sogenannten „Alu-Sequenzen“ der „SINEs“) oder auch die Inaktivierung (Pseudogenisierung) eines Gens der Beta-Globulin Familie zählt.

1.1.4 Vorfahren

Die ältesten Primatenvertreter, die wir kennen, stammen vom Anfang des Tertiärs, aus dem Paläozän (ca. 60 Millionen Jahren alt, mya = million years ago), aber das Studium des Genoms der rezenten Vertreter („Molekularuhr“) bezeugt eine noch weiter zurück liegende Diversifizierung der heutigen Evolutionslinien (ca. 80 mya). Die Primaten sind so neben den Nagetieren, den echten Insektivoren (Eulipotyphla) und den Edentaten die einzige traditionelle Ordnung der Plazentatiere, die sich bereits in der Kreidezeit (145–65,5 mya) in die heutigen Hauptgruppen (Feuchtnasenaffen, Koboldmakis und eigentliche Affen) diversifiziert hat (Abb. 1.3, Tab. 1.1).


Abb. 1.3: Übersicht der Familien und übergeordneten taxonomischen Gruppen der Primaten. Im Kästchen: Familien, deren Vertreter nicht abgebildet sind. Abgebildete Körpergrößen einzelner Primaten sind nicht proportional zu realen Körpergrößen.

Tab. 1.1: Die Klassifikation der Ordnung Primates. Hellblau unterlegt sind ausgestorbene Taxa.

UnterordnungInfraordnungParvordnungÜberfamilieFamilieUnterfamilieZahlder ArtenVerbreitung
StrepsirrhiniPlesiadapiformesPlesiadapidae
Paranomyidae
Carpolestidae
Picrodontidae
Saxoneliidae
AdapiformesAdapoideaNotharctidae
Adapidae
Sivaladapidae
LemuriformesLemuroideaCheirogaleidae31Madagaskar
Megaladapidae
Lepilemuridae26Madagaskar
Lemuridae21Madagaskar
Indriidae19Madagaskar
ChiromomyiformesDaubentoniidae 1Madagaskar
LorisiformesLorisidaePerodicticinae 5Afrika
Lorisinae 7S und SO Asien
Galagidae18Afrika
HaplorrhiniTarsiiformesTarsoideaTarsiidae11Indonesien, Philippinen
OmomyoideaOmomyidae
SimiiformesPlatyrrhiniCallitrichidae47Südamerika
CebidaeCebinae22Süd- und Mittelamerika
Samiriinae 7Süd- und Mittelamerika
Aotidae11Südamerika
PitheciidaeCallicebinae31Südamerika
Pitheciinae13Südamerika
HaplorrhiniSimiiformesPlatyrrhiniAtelidaeAtelinae13Süd- und Mittelamerika
Alouattinae12Süd- und Mittelamerika
CatarrhiniCercopithecoideaCercopithecidaeParapithecinae
Victoriapithecinae
Colobinae78Afrika, S, SO, O Asien
Cercopithecinae81Afrika, S, SO, O Asien
HominoideaOreopithecidae
HylobatidaePliopithecinae
Hylobatinae19SO Asien
HominidaeDryopithecinae
Ponginae 2SO Asien
Homininae 5Afrika (sekundär ganze Welt)

Tab. 1.2: Merkmale der Primaten und ausgewählter Primatentaxa.

Primaten
PentadaktylieGreifhandopponierbarer großer Zehflache NägelLeistenhaut, FingerabdruckFortbewegung von den Hinterbeinen dominiertEnzephalisationKomplexes visuelles SystemAugen nach vorne gerichtet, Stereoskopiereduzierte DentitionZahnformel:4x(2I:1C:2-3P:3 M) = 34–36langsame EntwicklungK-Strategenmeist tropische BaumtiereStrepsirrhiniRhinariumgespaltene OberlippeVibrissenTapetum lucidumKammgebissPutzkralle (am 2. Zeh)epitheliochoriale Plazentameist nachtaktivsaisonale FortpflanzungMadagaskar, Afrika, Asienbehaarte NasePhiltrumrückgebildete Vibrissenkein Tapetum lucidumhämochoriale Plazentameist tagesaktivVitamin C essenziellMenstruationnicht saisonale Fortpflanzungmediane Verschmelzung der Stirnbeinemediane Verschmelzung der UnterkieferästeHaplorrhini
Platyrrhinibreites NasenseptumNares zu Seiten orientiertDaumen nicht oder nur teilw. opponierbaroft GreifschwanzSüd- und MittelamerikaWeibchen trichromatCatarrhini
schmales NasenseptumNares nach vorne bzw. nach unten orientiert2 Prämolarenverknöcherter äußerer GehörgangTrichromatHominidaekein Schwanz, Steißbein5–6 Lendenwirbelflacher Brustkorbhohes Enzephalisationsquotientuntere Molaren mit 5,obere Molaren mit 4 Höckernverlängerte Arme

1.1.5 Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini)

Die Gruppe Strepsirrhini (Feuchtnasenprimaten, Halbaffen im engen Sinne) schließt Primaten ein, die überwiegend auf Madagaskar leben (Untergruppe Lemuriformes mit den Familien Daubentoniidae – Fingertiere, Cheirogaleidae – Makis, Lepilemuridae – Wieselmakis, Lemuridae – Lemuren, Indriidae – Indris), sowie Primaten, die in Afrika und dem tropischen Asien beheimatet sind (Lorisiformes: Familien Lorisidae – Loris und Galagidae – Galagos).

Feuchtnasenprimaten besitzen:

 einen Oberlippenspalt, einen nackten, feuchten Nasenspiegel (Rhinarium), und gut entwickelte Schnurrhaare (Sinushaare, Vibrissen) an der Schnauze;

 eine sogenannte Putzkralle auf der 2. Fußzehe und einen sogenannten Zahnkamm, also kammartig angeordnete untere Vorderzähne (Schneidezähne und Eckzähne), die sowohl der leichteren Aufnahme pflanzlicher Nahrung wie auch der Fellpflege dienen;

 eine reflektierende Schicht hinter der Netzhaut des Auges (Tapetum lucidum); die meisten Feuchtnasenprimaten sind nachtaktiv;

eine epitheliochoriale (also nicht hämochoriale) Plazenta, d.h. eine Plazenta, in der das Chorion in relativ oberflächlichem Kontakt mit dem Gebärmutterepithel steht und bei welcher die Blutgefäße der Gebärmutter nicht erodiert werden.

Die Vielfalt von Madagaskar-Halbaffen war nach der menschlichen Kolonisierung der Insel drastisch reduziert; noch aus den vergangenen Jahrhunderten stammen Überreste von bizarren, oft riesigen Lemuren, die Faultieren oder Koalas ähnelten (Megaladapidae, Palaeopropithecidae) oder an Affen erinnerten (Archaeolemuridae).

1.1.6 Trockennasenprimaten (Haplorrhini)

Die zweite Gruppe der Primaten, die Haplorrhini (Trockennasenprimaten), umschließt die traditionell für Halbaffen gehaltenen südasiatischen Koboldmakis (Tarsiiformes) und die eigentlichen Affen (Simiiformes, Simiae, Anthropoidea). Die Monophylie der Trockennasenprimaten ist molekular und morphologisch gut begründet, insbesondere durch folgende Merkmale:

Rückbildung der Vibrissen und Verschwinden des Rhinariums, also Entstehung einer affen- bzw. menschenartigen Nase, anstelle des Oberlippenspaltes entsteht das Philtrum, eine vertikale Rinne zwischen Nase und Mitte der Oberlippe;

 regelmäßiger, ca. 30-tägiger Ovulationszyklus, der die saisonale Brunst ersetzt, Menstruation;

 hämochoriale Plazenta, mit in die Gebärmutterschleimhaut tief eindringenden und die Blutgefäße erodierenden Chorionzotten;

 Fehlen eines Enzyms für die Synthese von Ascorbinsäure (die nun mit der Nahrung zugeliefert werden muss und so „Vitamin C“ wird);

 primäre Tagaktivität, das Tapetum lucidum fehlt, auch die sekundär nachtaktiven Nachtaffen und Koboldmakis (kleine, insektivore „Halbaffen“ aus Südostasien, die monogam leben und eine zweigeteilte Gebärmutter, Uterus bicornis, aufweisen) besitzen keines mehr.

Die Hauptmerkmale der eigentlichen Affen sind:

 Gehirnvergrößerung, Vermehrung der Falten der Hirnrinde;

 mediane Verschmelzung der Stirnbeine und der Unterkieferäste, sowie Bildung von Augenhöhlen, die auch von hinten durch den Schädelknochen abgeschlossen sind.

Zu den eigentlichen Affen gehören die (südamerikanischen) Neuweltaffen (Breitnasenaffen, Platyrrhini) und die Altweltaffen (Schmalnasenaffen, Catarrhini). Bei Neuweltaffen unterscheiden wir fünf Familien: Pitheciidae (Sakiaffen), Atelidae (Klammerschwanzaffen), Callitrichidae (Krallenaffen), Aotidae (Nachtaffen) und Cebidae (Kapuzinerartige). Sie alle sind charakterisiert durch seitlich orientierte Nasenöffnungen, komplett knorpelige äußere Gehörgänge und oft auch durch einen Greifschwanz. Die Altweltaffen unterteilt man in drei Familien: Cercopithecidae (Meerkatzenartige), Hylobatidae (Gibbons) und Hominidae (Menschenaffen, Mensch). Sie besitzen nach vorne bzw. unten orientierte, durch eine schmale Scheidewand getrennte Nasenlöcher, teilweise verknöcherte äußere Gehörgänge und einen reduzierten dritten Prämolar.

1.1.7 Artenvielfalt

Die Anzahl der heute existierenden Primatenarten ist unklar und wird derzeit (Stand November 2013) mit 480 angegeben. Die Zahl wächst seit einigen Jahren steil an, jedoch nicht etwa weil ganz neue, vorher nie gesehene Arten entdeckt würden. Zwar passiert das gelegentlich auch heute noch – so z.B. wurde 2003 in den Gebirgen von Tansania eine neue, mit Pavianen verwandte Affenart entdeckt und 2005 erstmals wissenschaftlich beschrieben: der Kipunji (Rungwecebus kipunji); und erst 2007 wurde in der Demokratischen Republik Kongo die Lomami-Meerkatze (Cercopithecus lomamiensis) entdeckt und 2012 beschrieben.

Box 1.2

Artbegriff

Organismen bilden natürliche, oft scharf abgegrenzte Gruppen – Arten (Spezies). Üblicherweise verstehen wir unter einer Art die kleinste evolutionär isolierte phylogenetische Linie, denn die Art stellt die taxonomische Grundeinheit dar. Es gibt zahlreiche prinzipiell unterschiedliche theoretische (naturphilosophische und taxonomische) Auffassungen und Definitionen des Artbegriffs. Die typologische Art-Definition beruht darauf, dass die zu einer Art gehörenden Individuen untereinander phänotypisch ähnlicher sind als Individuen verschiedener Arten. Am häufigsten werden für die Artdiagnose morphologische Merkmale herangezogen, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von einer „morphologischen Art“ (Morphospezies) spricht. Arten, die in ihrem gesamten Verbreitungsareal nur durch eine Form vertreten sind, werden als monotypisch bezeichnet. Polytypisch ist eine Art dann, wenn sie in mehreren phänotypischen Formen (Unterarten) vorkommt.

Ein Problem für die Diagnose der morphologischen Art stellt die Existenz von Geschwisterarten (sibling species, kryptische Arten) dar: Diese Arten können mit morphologischen Methoden kaum unterschieden werden, dafür unterscheiden sie sich in ethologischen oder ökologischen Eigenschaften oder anhand der geografischen Verbreitung. Der Phänotyp von Individuen einer Art kann sich auch in Abhängigkeit von Geschlecht (Geschlechtsdimorphismus), Alter (Alterspolymorphismus) oder Sozialstatus (ethologischer Polymorphismus) unterscheiden bzw. eine klinale Variabilität aufweisen, d.h. einen allmählichen Gradienten, abhängig vom Ort des Vorkommens (z.B. Breitengrad oder Höhe über dem Meeresspiegel). Die Auswahl eines diagnostischen Merkmals unterliegt meistens pragmatischen Aspekten.

Die Definition der „biologischen Art“, vielleicht das älteste Konzept von der Art als natürliches Taxon, stammt von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1855). Populär wurde dieses Konzept aber erst 1963 durch den berühmten Evolutionsbiologen Ernst Mayr. Nach seiner inzwischen klassischen Lehrbuchdefinition wird die Art als eine Gruppe von Populationen definiert, deren Mitglieder sich untereinander sexuell fortpflanzen können und fruchtbare Nachkommen haben, wobei diese Gruppe von anderen Gruppen reproduktiv isoliert ist. Diese Art-Definition ignoriert also alle sich asexuell und parthenogenetisch fortpflanzenden Organismen. Darüber hinaus kann sie auf viele Organismen nicht praktisch angewandt werden. Viele beschriebene Arten kennen wir nur anhand eines oder weniger konservierter Museumsexemplare, bei denen die Kreuzbarkeit nicht zu überprüfen ist. Auch wenn wir manche Arten, wie z.B. Zebras oder Menschenaffen, die häufig in Zoos gehalten werden, gut kennen, ist die Frage, ob sie sich untereinander fruchtbar kreuzen lassen, nicht einfach zu beantworten. Individuen einer geografisch isolierten (= allopatrischen) Population, die sich nie begegnen, können sich natürlich auch nicht kreuzen. Ein Labortest ist hier nicht von Nutzen, denn im Labor können sich auch solche Arten miteinander fortpflanzen, die in der Natur klar abgegrenzte Evolutionslinien darstellen. Gerade die allopatrischen Arten, die sich in der Natur nie begegnen können, haben oft keine speziellen reproduktiven Isolationsmechanismen ausgebildet. Ob wir den Alpenschneehasen für eine selbstständige Art oder für eine Unterart des nördlichen Schneehasen halten, kann nicht anders entschieden werden, als durch den Hinweis auf die von uns vertretene taxonomische Konzeption.

In letzter Zeit wird daher, mehr oder weniger aus praktischen Gründen, eine andere Art-Definition angewendet, die sogenannte „phylogenetische Art“. Diese wird als Gruppe von Individuen aufgefasst, die ein bestimmtes einzigartiges Merkmal teilen, das in keiner anderen Gruppe vorkommt und nicht an ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Alterskohorte gebunden ist. Diese pragmatische Auffassung (die Art ist hinsichtlich eines Merkmals uniform und gleichzeitig auch unikat) entspricht am besten der allgemeinen Auffassung, nämlich eine Art als eine unabhängige evolutive Linie zu begreifen. Da der Genfluss nur innerhalb der phylogenetischen Arten und nicht zwischen verschiedenen Arten stattfindet, entwickeln sich unikate, aber im Rahmen einer Art uniform verbreitete Merkmale. Dadurch kommen wir auf einem Umweg wieder zur „biologischen Art“. Die Artzugehörigkeit bestimmen wir jedoch durch die Analyse der Individuen, also aufgrund von Organismen, die wir tatsächlich sehen, und nicht durch Spekulationen über die Populationsgenetik der teilnehmenden Organismen, über die wir gewöhnlich kaum etwas wissen. Wir sollten hinzufügen, dass zur Diagnose nicht nur die morphologischen Merkmale, sondern auch molekulare, ökologische oder ethologische Merkmale verwendet werden können; wichtig ist nur ihre unikat-uniforme Verteilung.

In der derzeit populären Praxis führt die Anwendung der „phylogenetischen Art“ dazu, dass allopatrische Populationen, die sich vielleicht nur geringfügig, dafür aber in unikaten Merkmalen unterscheiden, zu selbständigen Arten werden, während eine graduelle Variabilität innerhalb von Populationen ihren taxonomischen Wert zunehmend verliert. Die Taxonomie wird dadurch vereinfacht – die komplizierte Hierarchie der Arten, Unterarten, Formen und Varietäten verschwindet; dafür aber wächst die Zahl der Arten (die numerische Analyse der taxonomischen Revisionen zeigt einen Anstieg von fast 50%). Dies hat natürlich auch wichtige praktische Konsequenzen für den Arten- und Naturschutz. Eine phylogenetische Art ist schneller „vom Aussterben bedroht“ bzw. „stark gefährdet“ als eine biologische Art. War einst der Orang-Utan „stark gefährdet“, so müssen wir nun den „vom Aussterben bedrohten“ Sumatra-Orang-Utan und den „stark gefährdeten“ Borneo-Orang-Utan retten.

Aber die Anzahl der Arten wächst heutzutage vor allem deshalb, weil das theoretische Artkonzept sich verändert hat (Box 1.2). Vereinfacht können wir dies folgendermaßen zusammenfassen: Eine klassische biologische Art, wie wir sie aus den Lehrbüchern kennen, ist eine Populationseinheit, in der sich die Individuen unbeschränkt untereinander kreuzen können, während sie von anderen Populationseinheiten reproduktiv isoliert sind (wodurch wir dann von mehreren Arten sprechen). Die Mängel dieser Auffassung sind offensichtlich – manche Organismen pflanzen sich vegetativ fort und kreuzen sich gar nicht. Und von vielen anderen wissen wir üblicherweise nicht, ob sie sich kreuzen könnten bzw. gekreuzt haben oder nicht. Populationen, die sich nie begegnen (z.B. nah verwandte Formen auf den Inseln eines Archipels), werden vom biologischen Artkonzept gar nicht gedeckt: Vielleicht würden sie sich erfolgreich verpaaren, fänden sie räumlich zueinander.

Eine Alternative bietet die phylogenetische Art, also eine Gruppe von Populationen, die miteinander verbunden sind durch ein universell verbreitetes Merkmal (egal ob morphologisch, ethologisch, molekular), das gleichzeitig nirgendwo anders vorkommt. Eine Art ist vor allem durch ihre Eigenschaften diagnostizierbar – was zu einer Art gehört und was nicht, erkennt man durch das Studium (oft ein sehr ausgeklügeltes Studium) der jeweiligen Individuen, nicht durch Populationsstudien, die bei den meisten Arten nicht möglich sind.

Eine ansteigende Artenzahl bringt notwendigerweise auch eine zunehmende Anzahl bedrohter Arten mit sich. Neue Arten, die dadurch entstanden sind, dass Biologen sie als „neu“ erkannt und von alten Arten abgespalten haben, besitzen naturgemäß kleinere Populationen und kleinere Verbreitungsareale und sind daher auch stärker bedroht als die alten Arten. Es zeigt sich somit, dass die biologische Vielfalt stärker bedroht ist, als wir bisher befürchten mussten, weil unsere Kenntnisse über die Biodiversität ungenügend waren.

Die unkritische Anwendung der mitochondrialen DNA zur Abgrenzung neuer Arten, führt oft zu Ergebnissen, die im Widerspruch zu den auf den Genen des Zellkerns beruhenden Interpretationen stehen. Die Anwendung der Morphometrie, also das Ausmessen und Bestimmen morphologischer Merkmale, die für die Artdiagnose als sinnvoll erscheinen, ist ebenfalls problematisch. Oft nämlich werden morphometrische Analysen in ihrer Aussagekraft belastet durch zu kleine Stichproben, welche die innerartliche Variabilität naturgemäß nur ungenügend widerspiegeln.

Die in der Literatur angegebenen Artenzahlen sollte man daher (und nicht nur im Hinblick auf die Primaten) unter Vorbehalt betrachten: Madagaskarhalbaffen (Lemuriformes) mit fast 100 Arten, afroasiatische Halbaffen (Lorisiformes) mit 30 Arten, Koboldmakis (Tarsiiformes) mit 11 Arten, südamerikanische Affen (Neuweltaffen, Platyrrhini) mit über 150 Arten, afroasiatische Affen (Cercopithecoidea) mit über 160 Arten, Gibbons (Hylobatidae) mit 19 Arten und „Große Menschenaffen“ (Hominidae) mit 7 Arten (Abb. 1.4). Obwohl in historischer Zeit keine Primatenart ausgestorben ist (jedenfalls nach den Kriterien der IUCN), gibt es eine Reihe subfossiler Arten, die nach dem Kontakt mit modernen Menschen (und bestimmt oft auch durch deren Verschulden) ausgestorben sind. Hierzu gehören mehrere bizarre Halbaffenarten aus Madagaskar und auch einige Menschenarten, die wir in den nächsten Kapiteln besprechen werden. Aus der gegebenen Übersicht wird die auffällige Artenarmut der rezenten Hominidae, zu denen auch der Mensch gehört, ersichtlich.


Abb. 1.4: Phylogenese, Taxonomie und Nomenklatur der Überfamilie Hominoidea.

1.2 Hominoidea (Menschenartige)

1.2.1 Merkmale

Zu den Menschenartigen zählen die größten Primaten. Ihr Gewicht schwankt zwischen 4 Kilogramm (Gibbons) und bis zu 200 Kilogramm (männliche Gorillas). Die Zerebralisation ist fortgeschritten. Sie haben einen flachen Brustkorb und verlängerte Arme. Dank des verlängerten Schlüsselbeins und des weiter rückenseitig angebrachten Schulterblattes ist die Beweglichkeit der Oberarme sehr gut entwickelt. Menschenartige besitzen 5–6 Lendenwirbel und ein Steißbein anstatt der Schwanzwirbelsäule; ein Schwanz fehlt. Pränatale und postnatale Entwicklung haben sich gegenüber anderen Primaten (und anderen Säugetieren sowieso) weiter verlangsamt. Die unteren Molaren weisen fünf, die oberen vier Höcker auf (Abb. 1.5).


Abb. 1.5: Unterer Backenzahn (Molar) der menschenartigen Primaten. Dargestellt sind die fünf Zahnhöcker.

1.2.2 Fossile Formen

Mit dieser kurzen Übersicht sind wir der Entstehung des Menschen schon näher gekommen. Die „Überfamilie“ Hominoidea (Menschenartige oder auch Menschenaffen im weiteren Sinne), zu der auch die Gattung Homo gehört, ist ca. 20–25 Millionen Jahre alt. Die grundlegende Aufspaltung in Gibbons (Hylobatidae) und „große Menschenaffen“ (Hominidae) fand ca. 18–20 mya im Erdzeitalter des Neogen statt (Abb. 1.6).


Abb. 1.6: Kladogramm der Gruppe Hominoidea mit dem geschätzten Zeitpunkt der Abspaltung einzelner phylogenetischer Linien.

Die Phylogenese der Hominoiden ist, was die Stellung fossiler Formen im Stammbaum/Kladogramm betrifft, nicht ausreichend bekannt. Man kann grob zusammenfassen, dass von der Basis der Menschenaffen, im Tertiär, mehrere separate, vorwiegend afrikanische Linien abzweigen (Tab. 1.3, Abb. 1.6 und 1.7). Als älteste Menschenaffen werden üblicherweise die Vertreter der Familie Proconsulidae (mit mehr als zehn Arten, ca. 20 mya) oder auch Morotopithecus aufgefasst. Letzterer teilt mit den heutigen Menschenaffen mehr morphologische Merkmale, obwohl er etwas älter als Proconsul ist (Abb. 1.8). Kurz danach erscheinen die Gibbons, mit den fossilen eurasiatischen Gattungen Dryopithecus, Oreopithecus oder Pierolapithecus, die vielleicht dem gemeinsamen Vorfahren heutiger Menschenaffen nahe standen. Ihnen folgen zwei bis in die Gegenwart reichende Evolutionslinien: eine asiatische (Orang-Utans plus die fossilen Gattungen Sivapithecus, Lufengpithecus, Gigantopithecus u.a.) und eine afrikanische (Gorillas, Schimpansen, Menschen und ihre nächsten Verwandten). Zur Gattung Sivapithecus gehören auch die Formen, die früher als selbstständige Gattung Ramapithecus (ca. 14 mya) klassifiziert und als die ältesten Vertreter der menschlichen Linie betrachtet wurden.

Die Radiation der Hominoidea, also die sich von einem gemeinsamen Vorfahren abspaltende (auffächernde) Entstehung vieler neuer Arten, ist der Radiation der Geschwänzten Altweltaffen (Cercopithecoidea, Meerkatzenverwandte) vorausgegangen, sodass die Menschenartigen im Miozän den Großteil der Affen darstellten. Man darf sich dies aber nicht so vorstellen, als hätten damals Gibbons und Gorillas die Urwälder dominiert. Heutige Hominoiden sind relikte und seltsame Formen, während die fossilen Hominoiden meistens „gewöhnlich aussehende“, wenngleich schwanzlose, Affen waren. Diese alten Hominoidea wurden durch den Anstieg der Zahl von Meerkatzenverwandten (Cercopithecoidea) verdrängt.

Tab. 1.3: Übersicht über die bekanntesten Fossilien der Menschenaffen, ihre Fundorte und die Zeiträume ihrer Existenz.

GattungFundortmya
AegyptopithecusÄgypten37–31
MorotopithecusOstafrika21
ProconsulOstafrika14–21
SivapithecusIndien13–7
PierolapithecusSpanien13
LufengpithecusChina12–8
DryopithecusFrankreich, Spanien, Ungarn11,5–10
ChororapithecusOstafrika10,5–10
NakalipithecusOstafrika9,9–9,8
SamburupithecusOstafrika9,5
OuranopithecusGriechenland9,4–8,8
OreopithecusItalien9–7
GigantopithecusChina1–0,5

Abb. 1.7: Kladogramm der Gruppe Hominoidea unter Berücksichtigung der fossilen Formen. Rezente Gattungen in blau.


Abb. 1.8: Schädel von Proconsul africanus. Sein Schädel zeigt typische Merkmale der Menschenaffen: runde, frontal orientierte Augenhöhlen, große Hirnkapsel, verkürztes Gesicht.

Bemerkenswert ist, dass gerade die Linie der afrikanischen Menschenaffen (Homininae) auffallend wenige Fossilien hinterlassen hat (Samburupithecus, Nakalipithecus, Chororapithecus, vielleicht Ouranopithecus), und dies sowohl an ihrer Basis, wie auch auf dem Weg zu Gorillas und Schimpansen – das uns vorliegende umfangreiche Fossilienmaterial betrifft fast ausschließlich unmittelbare Verwandte des Menschen.

Dagegen sind Fossilien von Gorillas und Schimpansen sehr selten und auch erst unlängst gefunden worden. Die Funde sind erdgeschichtlich eher jung und liegen auch nur fragmentär vor. Offensichtlich begünstigen die feuchtwarmen Umweltbedingungen der afrikanischen Regenwälder, wo sowohl die Vorfahren von Menschenaffen und Menschen als auch die der heutigen Schimpansen und Gorillas lebten, den Fossilisationsvorgang nicht gerade. Eine Rolle spielt möglicherweise aber auch die Tatsache, dass die Suche nach diesen Fossilien, so wichtig sie auch sind, weniger wissenschaftliches Prestige verspricht und daher auch weniger rentabel ist, als die Suche nach den Überresten der menschlichen Ahnen.

1.2.3 Systematik der rezenten Formen

Im Gegensatz zum bisher Gesagten, liegen die phylogenetischen Beziehungen der rezenten Menschenaffen klar vor uns. Sie stützen sich auf eine große Menge molekularer Daten (Abb. 1.4, 1.6 und 1.7). Die basale Verzweigung verläuft zwischen den Gibbons (Hylobatidae: vier Gattungen – Nomascus, Symphalangus, Hoolock, Hylobates – mit 19 Arten in Südostasien) und den „Großen Menschenaffen“. Zu Letzteren gehören die asiatische Linie der Ponginae, die heute noch durch zwei Arten von Orang-Utans (Pongo) vertreten ist, und die afrikanische Linie (Homininae) mit zwei Gorilla-Arten (Gorilla), zwei Schimpansen-Arten (Pan) und dem Menschen (Homo), wobei Schimpansen und Menschen eine sehr einheitliche Gruppe bilden.

Die Datierung evolutionärer Ereignisse aufgrund der „Molekularen Uhr“ erscheinen heute als sehr problematisch (siehe Kapitel 3.2) und es ist möglich, dass viele kanonische Daten (z.B. Trennung der Menschen und Schimpansen „vor 6 Millionen Jahren“) auf Fehleinschätzungen beruhen und in Wahrheit älter sind. Die Abtrennung der Orang-Utans von den afrikanischen Menschenaffen hat sich nach alter Lesart etwa 14–17 mya ereignet, neuerdings geht man von 20–30 mya aus. Die Abspaltung der Gorillas von der Schimpansen-Menschen-Linie fand etwa 8–10 (oder doch mehr als 10) mya statt, die Trennung von Schimpansen und Menschen geschah ca. 5–7 (oder mehr als 7,5) mya. Die Aufspaltung der afrikanischen Menschenaffen in Gorillas, Schimpansen und Menschen verlief innerhalb einer kurzen Zeit fast synchron, während die Orang-Utans evolutionär viel isolierter stehen.

Die taxonomische Nomenklatur ist in der Abb. 1.4 zusammengefasst:

 Überfamilie Hominoidea = Hylobatidae + Hominidae

 Familie Hominidae = Ponginae + Homininae

 Unterfamilie Homininae = Gorillini + Hominini

 Tribus Hominini = Panina + Hominina

 Subtribus Hominina = z.B. Australopithecus, Homo

Der Mensch gehört also in den Subtribus Hominina und zusammen mit den Schimpansen zum Tribus Hominini. Mensch, Schimpansen und Gorillas bilden die Unterfamilie Homininae. Zusammen mit Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans gehört der Mensch in die Familie Hominidae, welche mit den Gibbons die Überfamilie Hominoidea begründet. An dieser Stelle sollte man daran erinnern, dass für die Monophylie der Taxa die phylogenetischen Beziehungen wichtig sind, nicht der formale taxonomische Rang: Es gibt keine wissenschaftliche Methode, wie man entscheidet, ob eine Gruppe eine „Familie“ oder eine „Unterfamilie“ bildet. Auf jeden Fall handelt es sich um eine klare taxonomische „Erniedrigung“ des Menschen, der noch unlängst für den einzigen Vertreter der eigenständigen Familie „Hominidae“ gehalten und neben die Familie „Pongidae“ gestellt wurde, die alle großen Menschenaffen einschloss.

Aus der Übersicht der Phylogenese erfolgt jedoch eindeutig, dass Schimpansen und Gorillas viel näher mit dem Menschen verwandt sind als mit dem Orang-Utan. Einige Autoren gehen noch weiter und schlagen vor, Schimpansen und Menschen sowie ihre fossilen Vorfahren in einer einzigen Gattung Homo zu vereinen (der Schimpanse wäre dann Homo troglodytes, der Bonobo Homo paniscus) (Box 1.3). Solch ein Vorhaben ist jedoch eher politisch als wissenschaftlich motiviert und aus dem Kampf für eine humane Behandlung der Menschenaffen entstanden: Aus dem bekanntermaßen geringen 1%igen genetischen Abstand zwischen Mensch und Schimpansen (wenn man dabei nur auf die Punktmutationen abhebt) folgt noch keine „obligatorische“ taxonomische Konsequenz.

Box 1.3

Der nackte Affe

Carl von Linné schuf im 18. Jahrhundert die im Prinzip bis heute noch gültige Systematik der Tiere und reihte den Menschen in die Ordnung Primaten ein. In seiner Systema naturae (1758) hat er den Menschen als Homo diurnus (Tagmensch) beschrieben und nannte dabei vier geografische Rassen: europaeus, afer, asiaticus und americanus. Der Gattung Homo hat er (neben den Satyren etc.) auch den Orang-Utan (als Homo nocturnus, Nachtmensch) zugeordnet.

Andere Autoritäten des 18. Jahrhunderts (wie z.B. Georges-Louis Buffon) haben die linnésche Betonung der sichtbaren morphologischen Merkmale zum Teil abgelehnt und stattdessen Intellekt und Sprache als Hauptkriterien menschlicher Superiorität über andere Menschenaffen (und Tiere im Allgemeinen) hervorgehoben.

Ein Jahrhundert darauf hat Charles Darwin den Menschen nicht nur taxonomisch und nomenklatorisch, sondern auch vom evolutionären Gesichtspunkt her in die nächste Verwandtschaft der anderen Menschenaffen gestellt (The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, 1871). Doch auch weiterhin wurde der Mensch als Krone der Schöpfung (oder besser nun als Krone der Evolution) betrachtet – so auch in dem äußerst populären Buch Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) von Ernst Haeckel.

Weitere einhundert Jahre später (1967) sorgte das Buch Der nackte Affe (The Naked Ape) von Desmond Morris für große Aufregung. In diesem Buch, das zum Bestseller wurde und mit vielen Tabus brach, beschreibt Morris den Menschen aus der Perspektive des Zoologen als einen Primaten, der kein Fell besitzt, zweibeinig läuft und unter anderem ein merkwürdiges Sexualverhalten zeigt.

Sehr erfolgreich und einflussreich war auch das 1991 erschienene Sachbuch Der dritte Schimpanse: Evolution und Zukunft des Menschen (The Rise and Fall of the Third Chimpanzee: How Our Animal Heritage Affects the Way We Live) des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Jared Diamond. Der Titel des Buches soll verdeutlichen, dass der Mensch als dritte Art neben dem Gemeinen Schimpansen und dem Bonobo in die Gattung der Schimpansen eingeordnet werden müsste, wenn der geringe genetische Abstand als entscheidendes Kriterium betrachtet würde. (Gemäß den Regeln der zoologischen Nomenklatur müssten in so einem Fall allerdings die beiden Schimpansenarten der Gattung Homo zugeordnet werden – also Schimpansenmensch und Bonobomensch.) Diamond betont folgende Besonderheiten des Menschen gegenüber den Schimpansen: der Lebenszyklus, das Sexualverhalten, die Sprache, die Kunst, die Landwirtschaft, der Drogenkonsum, der Völkermord und die Umweltzerstörung.

1.2.4 Orang-Utans (Pongo)

Die heutige Verbreitung der Orang-Utans auf den Inseln Sumatra und Borneo ist offensichtlich relikthaft, denn relativ junge Fossilien belegen ihre Verbreitung noch unlängst auch auf dem asiatischen Kontinent und auf Java. Eine Kombination von Populationsgenetik und Ökologie zeigt, dass die Borneo-Orang-Utans (Pongo pygmaeus) eine sehr homogene und erst unlängst diversifizierte (vor ca. 200.000 Jahren, 200 tya = thousand years ago) Gruppe darstellen, während die Sumatra-Orang-Utans (Pongo abelii) unvergleichlich heterogener sind: Insbesondere die südlichen, durch den Vulkansee Toba getrennten Populationen sind genetisch sehr divers und offensichtlich älter als andere Populationen. Nach Analyse ihrer mtDNA stehen sie den Borneo-Orang-Utans näher. Aktuelle, auf dem kompletten Genom der Orang-Utans beruhende Studien zeigen darüber hinaus überraschenderweise, dass die Trennung der Sumatra- und Borneo-Linien nicht so früh stattfand, wie früher angenommen wurde (ca. 400 tya vs. 2–3 mya).

1.2.5 Gorillas (Gorilla)

Gorillas werden heute üblicherweise als zwei Arten klassifiziert: als Westlicher Gorilla, Gorilla gorilla (Ost-Nigeria, Kamerun, Gabun, Äquatorialguinea, West-Kongo) und als Östlicher Gorilla, Gorilla beringei (Osten der Demokratischen Republik Kongo, West-Uganda und Rwanda), die durch eine mehr als eintausend Kilometer breite Lücke voneinander getrennt leben (Abb. 1.9). Die beiden Arten begannen vor ungefähr 1–2 mya damit, sich voneinander zu trennen, aber der Genfluss zwischen den beiden Arten (oder Metapopulationen) dauerte offensichtlich noch lange an (bis 200–80 tya). Der Westliche Gorilla wird heute in zwei sich deutlich unterscheidende Populationen differenziert: den Westlichen Flachlandgorilla (Gorilla gorilla gorilla) aus Gabun und dem Kongo, und den akut vom Aussterben bedrohten Cross-River-Gorilla (G. g. diehli) aus Nigeria und Kamerun. Beim Östlichen Gorilla (G. beringei) unterscheidet man den Östlichen Flachlandgorilla (G. b. graueri) und den sehr seltenen Berggorilla (G. b. beringei).


Abb. 1.9: Verbreitung der Gorillas.

1.2.6 Schimpansen (Pan)

Während die Aufteilung der Orang-Utans in zwei Arten erst vor Kurzem unter dem Einfluss des sich ändernden taxonomischen Paradigmas und der sich mit Macht entfaltenden Molekularmethoden erfolgte, sind die zwei Schimpansenarten – der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) und der Bonobo (Pan paniscus) (mehr oder weniger irrtümlich auch als Zwergschimpanse bezeichnet) – bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anerkannt. Die Trennung beider Spezies fand schätzungsweise mindestens 1 mya (nach anderen Analysen 2–3 mya) statt. Während Bonobos eine ziemlich homogene Population in einem kleinen Gebiet südlich des Flusses Kongo bilden (das weiter eingegrenzt wird durch seine Zuflüsse Kasai und Lualaba), ist der Gemeine Schimpanse weit verbreitet und sehr heterogen (Abb. 1.10). Der Grund für diese geografische Diversifikation findet sich in der Anwesenheit großer Flüsse im Gesamtverbreitungsgebiet: Die fundamentale Aufteilung in östliche und westliche Populationen ist der Anwesenheit des Sanaga in Kamerun zu verdanken. Die westliche Population wird weiter durch den Fluss Niger in den Guinea-Schimpansen (Pan troglodytes verus) und den Nigeria-Kamerun-Schimpansen (Pan troglodytes ellioti, früher falsch als P. t. vellerosus genannt) geteilt. Die östliche Population (Pan troglodytes troglodytes) ist dagegen genetisch auffällig einheitlich. Von der Basispopulation, die Süd-Kamerun, Äquatorialguinea, Gabun und Kongo westlich vom Fluss Ubangi bewohnt, haben sich vor relativ kurzer Zeit die Schimpansen der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo, des Süd-Sudans, Ugandas und Tansanias abgespalten. Diese östliche Population wird traditionell als „Pan troglodytes schweinfurthii“, bezeichnet, aber evolutionär fällt sie eindeutig in die Variabilität der Unterart P. t. troglodytes hinein. Die Existenz der seit Langem diskutierten Unterart Pan (troglodytes) koolookamba, die auch schon für eine Hybridart oder ein Übergangsglied zwischen Schimpanse und Gorilla gehalten worden ist, erwies sich als Irrtum, der auf einer falschen Bestimmung alter Individuen von P. t. troglodytes bzw. junger Weibchen von Gorilla beringei graueri beruhte.


Abb. 1.10: Verbreitung der Schimpansen und Bonobos.

Box 1.4

Bottlenecks in der Evolution und Geschichte

Bottleneck (Flaschenhals-Effekt) beschreibt eine genetische Verarmung der Population, die stattfindet, wenn die Population aufgrund irgendeines plötzlich und nur vorübergehend auftretenden Faktors stark in der Größe dezimiert wird. Als Folge ändern sich die Allelfrequenzen, wobei vor allem die seltenen Allele verschwinden. Allerdings muss der Polymorphismus dadurch nicht markant reduziert worden sein. In der nachfolgenden Phase der Erholung und des Populationswachstums ist die Wirkung der Selektion begrenzt, die Population expandiert im freien Raum, die Rolle der Konkurrenz ist beschränkt: Die meisten Träger der noch vorhandenen Allele können ihre Gene an die Nachkommen weitergeben. Ein Allel, das die Reduktion der Population „überlebt“, wird im folgenden Zeitraum des exponentiellen Wachstums wahrscheinlich nicht mehr eliminiert. Es können auch neu entstandene, leicht schädliche Allele in der Population erscheinen. Etliche Tierarten sind in ihrer rezenten Geschichte durch genetische Flaschenhälse gegangen (u.a. Alpensteinbock, Wisent, Przewalski-Pferd, Goldhamster, Gepard).

Vermutlich hat auch der Homo sapiens vor ca. 75.000 Jahren einen Flaschenhals passiert – verursacht durch die massive Eruption des Supervulkans Toba auf Sumatra, die nachfolgenden 6–10 Jahre andauernden Vulkanwinter und die anschließende 1000-jährige weltweite Kälteperiode. Gemäß der Toba-Katastrophen-Hypothese wurde die Population der Menschen auf ca. 10.000 Individuen, bzw. ca. 1.000 Fortpflanzungspaare (die zu Vorfahren der heutigen Menschheit wurden) reduziert. Obwohl der Ausbruch des Toba-Vulkans gut dokumentiert ist, ist die Hypothese nicht unumstritten.

In der jüngeren Menschheitsgeschichte führte z.B. auch die Beulenpest in Europa zu einem Flaschenhalseffekt (Kapitel 8.4).

1.2.7 Menschen (Homo)

Der internen Diversifizierung unserer eigenen Art wird ein ganzes Kapitel gewidmet (Kapitel 3). An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, daran zu erinnern, dass der Mensch, trotz seiner großen Population und seiner kosmopolitischen Verbreitung, eine genetisch ganz außerordentlich homogene Art ist. Wir Menschen weisen im Vergleich mit anderen Menschenaffen nicht nur eine sehr niedrige innerartliche Gendiversität auf, sondern unsere Teilpopulationen stehen sich genetisch eindeutig näher als die Teilpopulationen jeder anderen Menschenaffenart. Diese beachtliche genetische Homogenität ist möglicherweise die Folge einer dramatischen Reduktion der menschlichen Erdbevölkerung in der jüngeren erdgeschichtlichen Vergangenheit (Box 1.4).

Humanbiologie

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