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Оглавление2 Phylogenese des Menschen
2.1 Entstehung der „menschlichen“ phylogenetischen Linie
Bis vor Kurzem war das vergleichende Studium der Anatomie, des Verhaltens und der Fossilien die einzige Informationsquelle über Prozesse, die den Menschen von Schimpansen abgetrennt haben. Unlängst wurden komplette Genome von Orang-Utan, Gorilla, dem Gemeinem Schimpansen, dem Bonobo, dem Neandertaler, dem „Denisova Menschen“ und einer Reihe von gegenwärtigen Menschen veröffentlicht. Hierdurch konnten wir sehr viele neue Informationen gewinnen.
2.1.1 Speziation Schimpanse – Mensch
Die Prozesse, welche die Speziation von Mensch und Schimpanse begleitet haben, können wir dank unserer Kenntnisse über den Divergenzgrad einzelner Gene rekonstruieren. Auf den ersten Blick überrascht es, dass die auf verschiedenen Chromosomen des menschlichen Genoms lokalisierten Gene von ihren homologen Schimpansengenen unterschiedlich weit entfernt sind – so als ob eine mehrmalige Artbildung aufgetreten sei. Während einige Gene sich voneinander etwa 11 mya getrennt haben, sind andere (insbesondere die Gene auf dem Geschlechtschromosom X) erst ungefähr 6 Millionen Jahre alt. Dieses Phänomen wurde mit einer zwischenartlichen Hybridisierung erklärt: Nach diesem Modell hat die von einem gemeinsamen Vorfahren ausgehende Abzweigung von Mensch und Schimpanse ca. 8 mya stattgefunden (wofür auch die ältesten Fossilien der menschlichen Evolutionslinie, insbesondere Sahelanthropus sprechen). Während der folgenden zwei Millionen Jahre hybridisierten jedoch die Genome der Menschen- und Schimpansenlinie auch weiterhin miteinander (siehe auch Box 2.1).
Box 2.1
Kreuzung zwischen Menschen und Schimpansen?
Schimpansen und Menschen sind genetisch nah verwandte Schwesterarten (ihre DNA ist zu 95% gleich, die kodierenden DNA-Sequenzen sind es sogar zu 99%). Dies führte wiederholt zu Spekulationen über eine Hybridisierung zwischen beiden Arten (wie z.B. zwischen Esel und Pferd). Der hypothetische Hybrid wird als Humanzee (Vater Mensch, Mutter Schimpanse) bzw. Chuman (Vater Schimpanse, Mutter Mensch) bezeichnet. Die Existenz solcher Hybriden ist allerdings nicht bewiesen.
Es mag von Interesse sein, dass Überlegungen zur Kreuzung von Mensch und Schimpanse schon in früher Vergangenheit angestellt worden sind. So berichtet der Mönch Petrus Damiani im 11. Jahrhundert von einem Wesen namens „Maimo“, angeblich das Produkt der sündigen Beziehung der Ehefrau des Grafen Guilelmus und seines zahmen Affen (welcher dann den Grafen in einem Anfall von Eifersucht tötete). Um eine Hybridisierung bemühte sich vor knapp hundert Jahren der russische Biologe Ilya Iwanow. Er führte mit Unterstützung der Gesellschaft der materialistischen Biologen der Kommunistischen Akademie erst in Afrika und später in der damaligen Sowjetunion entsprechende Experimente durch. Sie scheiterten am Mangel an Menschenaffen.
Es scheint, dass etwa 30% des Menschenaffengenoms falsche Informationen über die Phylogenese (ob Schimpanse – Mensch versus Gorilla oder Mensch – Gorilla versus Schimpanse) geben. Interessanterweise finden wir die nächsten Verwandten einiger menschlicher Gene in Gorillas und nicht in Schimpansen. Diese Unterschiede zwischen der Phylogenese der Arten – also [Gorilla × (Schimpanse – Mensch)] – und der Phylogenese einiger Gene – oft [Schimpanse × (Gorilla – Mensch)] oder [Mensch × (Gorilla – Schimpanse)] – lassen sich durch die sogenannte unvollständige Trennung der Linien erklären. Wenn in der Mutterart mehrere Allele desselben Gens (z.B. A und B) existieren, kann man annehmen, dass dieser Polymorphismus auch die Speziation überlebt und beide Tochterarten ihn vererben. Genauso kann ein angestammter Polymorphismus mehrere nacheinander folgende Artbildungen überdauern (z.B. die Speziation Gorilla × Schimpanse – Mensch und auch die folgende Speziation Schimpanse × Mensch), und erst in den einzelnen Tochterarten kommt es zu einer mehrmaligen parallelen Reduktion dieses Polymorphismus. Es kann passieren, dass bei Gorillas ein Allel (z.B. A) fixiert wird, während es bei Menschen und Schimpansen ein zweites Allel (B) sein wird, sodass die Evolution dieses Gens der Evolution der Arten entsprechen wird. Aber so muss es nicht sein. Falls zufälligerweise das gleiche Allel (z.B. A) im Genom der Menschen und der Gorillas fixiert wird, während sich ein anderes Allel (B) im Genom der Schimpansen durchsetzt, wird dieses Gen offensichtlich eine „trügerische“ Evolution liefern (Abb. 2.1). Als ein bekanntes (obwohl erst unlängst voll verstandenes) Beispiel kann das System der Blutgruppen dienen: Der Mensch hat die Allele A und B, Schimpansen tragen A, Gorillas B, Orang-Utans A und B, Gibbons A und B oder B. Diesen Polymorphismus haben sie wirklich von ihren mehrere Zehnmillionen Jahre alten Vorfahren geerbt. Die unvollständige Linientrennung, verbunden mit der Vererbung des angestammten Polymorphismus führt dann zu den gleichen Ergebnissen wie die Hybridisierung.
Abb. 2.1: Kladogramm der Homininae mit der Darstellung der möglichen Trennung von zwei hypothetischen Allelen, A und B, eines Gens. Im Fall (a) ist das Gen mit beiden Allelen unverändert in alle Linien übergangen und liefert damit selbst keine phylogenetische Information. Im Fall (b) wurde in der Linie Hominini nur das Allel B, in der Linie Gorillini das Allel A fixiert. In diesem Fall spiegelt die Evolution des gegebenen Gens die tatsächliche Phylogenese. Im Fall (c) wurde allerdings in der Gorilla- und Mensch-Linie zufälligerweise das Allel A, in der Schimpansen-Linie das Allel B fixiert, und die nur anhand der Evolution dieses Gens abgeleitete Phylogenese wäre falsch.
2.1.2 Basale Vormenschen
Der Anfang der phylogenetischen Linie zum Menschen, also der Zeitpunkt der Abspaltung von der Schwesterlinie zu den Schimpansen, wird auf die Zeit 6–8 mya datiert (Abb. 1.6 und 2.2). Wir können ohne jeden Zweifel annehmen, dass dieses Ereignis in Afrika stattgefunden hat, aber unsere Vorstellung von der geografischen und ökologischen Logik dieses Ereignisses hat sich in den letzten Jahren verändert. Die gemeinsamen Vorfahren der Menschen- und Schimpansenlinie lebten wahrscheinlich in Wäldern und nicht, wie früher angenommen, in Savannen (zugegeben – die Aufteilung unserer Ahnen in Waldschimpansen und Savannenmenschen war schön, elegant und einleuchtend). Der etwa zu gleicher Zeit entstandene Große Afrikanische Grabenbruch (Great Rift Valley) war offenbar doch nicht die Ursache der allopatrischen Speziation der Vorfahren von Schimpanse (westlich des Grabenbruchs) und Mensch (östlich davon). Heutige Schimpansen und Menschen unterscheiden sich deutlich. Daraus darf man indes nicht schließen, dass die zu dieser Divergenz führenden Schritte zielgerichtet waren, dass also die ersten Vorfahren des Menschen schon ein bisschen aufgerichteter, großköpfiger, religiöser, künstlerischer usw. waren, und auch nicht, dass sie in einer waldfreien, lichteren Landschaft lebten. Die Individuen der beiden frisch voneinander abgespaltenen Linien waren sicher kaum voneinander zu unterscheiden.
Abb. 2.2: Aufspaltung der Stammlinien zwischen afrikanischen Menschenaffen und Menschen. Rechts die Stammlinie, die zur Gattung Homo führt. Auf den kreuzenden Linien sind Vorläufer oder Vertreter von Nebenästen nach dem vermuteten Alter angeordnet. Links, im braunen Feld, das Jahr der Entdeckung ihrer Fossilien bzw. der Beschreibung der jeweiligen Vormenschengattungen bzw. (Unter-)Arten. (mya = million years ago).
Die paläontologischen Belege über die Anfänge der menschlichen Linie sind sehr fragmentarisch (siehe auch Box 2.2 und 2.3, Tab. 2.1, Abb. 2.2 bis 2.4). Sie werden durch zwei basale miozäne Formen repräsentiert: Sahelanthropus tchadensis (bekannt als „Toumaï“, Tschad, ca. 7 mya) und Orrorin tugenensis (Kenia, 6 mya).
Abb. 2.3: Fundorte der fossilen afrikanischen Hominiden. Die horizontalen Balken in der rechten Hälfte der Tabelle stellen das Alter der Fossilien in mya (1–7) dar. Fossilien von basalen Vormenschen, Australopithecinen, Angehörigen der Gattung Paranthropus, basalen Homo-Arten und von H.ergaster sind mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet.
Abb. 2.4: Übersicht über die bekannten Vor- und Urmenschenarten. Die horizontalen Balken stellen für jede Art die Zeitspanne ihrer Existenz dar (in Bezug auf die Zeitskala).
Box 2.2
Chronologie der paläoanthropologischen Entdeckungen
Oft wird behauptet, Darwin habe gesagt, der Mensch stamme vom Affen ab. Doch die Aussage stimmt so nicht: Er postulierte vielmehr, dass der Mensch und die heute lebenden Menschenaffen einen gemeinsamen Vorfahren hätten. Dieses Missverständnis war – und ist es auch noch heute – ein Grund, weshalb manchen Leuten Darwins Evolutionstheorie missfällt. Charles Darwin formulierte 1871 die Ansicht, die afrikanischen Menschenaffen stünden dem Menschen verwandtschaftlich am nächsten und die Wiege der Menschheit liege in Afrika. Zu seiner Zeit waren allerdings noch keine Fossilien von Urmenschen aus Afrika bekannt. Als erster fossiler Urmensch wurde der Neandertaler (Homo neanderthalensis) im Neandertal bei Düsseldorf gefunden und als solcher erkannt (1856). Ernst Haeckel brachte 1868 den hypothetischen Vormenschen Pithecantropus („Affenmensch“) in die Diskussion, der auch das fehlende Übergangsglied („missing link“) zum modernen Menschen darstellen sollte. Der erste Pithecanthropus wurde 1891 auf Java entdeckt und später dem Homo erectus zugeordnet. Erst 1924 fand man erste Überreste von Vormenschen (Australopithecus africanus) in Südafrika. Fortan galt Südafrika als Wiege der Menschheit, bis die Leakeys (siehe Box 2.3) 1959 in Ostafrika Fossilien eines Vormenschen entdeckten, der später als Homo habilis bekannt wurde.
Die meisten spektakulären paläoanthropologischen Funde stammen aus Ostafrika (Tansania, Kenia, Äthiopien), wobei viele erst in der letzten Dekade (ab 1999) beschrieben worden sind. Unerwartete paläoanthropologische Entdeckungen machte man während der letzten Jahre aber auch in Malawi, im Tschad sowie außerhalb Afrikas – in Spanien, Georgien und auf der Insel Flores in Südostasien (Abb. 1.10). Allerdings wurden bislang keine vormenschlichen Fossilien (Australopithecus etc.) außerhalb Afrikas entdeckt. Die ältesten Urmenschfossilien (Gattung Homo) stammen aus Afrika, manche sind auf Afrika beschränkt. Auch molekularbiologische Befunde unterstützen den afrikanischen Ursprung der Menschen.
Box 2.3
Paläanthropologie und ihre Vertreter
Paläoanthropologie ist ein Teilgebiet der Anthropologie und der Paläontologie und befasst sich mit der Suche nach und der Untersuchung von fossilen Hominiden und der Rekonstruktion ihrer Stammgeschichte, Evolution und Lebensweise anhand von Fossilien. In letzter Zeit werden die klassischen paläontologischen Methoden und Befunde durch paläogenetische Ansätze bedeutend ergänzt (Box 3.3).
Zu den weltweit bekanntesten Paläoanthropologen zählt zweifellos die Familie Leakey.
Louis Seymour Bazett Leakey (1903–1972), kenianischer Paläontologe, Paläohistoriker, Archäologe, Naturschützer britischer Herkunft, spielte zusammen mit seinen Angehörigen, vor allem mit seiner Frau Mary, seinem Sohn Richard und seiner Schwiegertochter Meave, die zentrale Rolle bei der Durchsetzung der Theorie der afrikanischen (insbesondere ostafrikanischen) Herkunft der Menschheit. Auf das Konto der Familie Leakey gehen viele wichtige Entdeckungen (Ausgrabungen und Erstbeschreibungen) von fossilen Vor- und Urmenschen mehrerer Arten und Gattungen sowie von fossilen Fußspuren. Louis Leakey initiierte langfristige Feldforschungsprojekte zur Erforschung des Verhaltens von Schimpansen (Jane Goodall), Gorillas (Dian Fossey) und Orang-Utans (Biruté Galdikas) (Box 6.3). Das Nachrichtenmagazin Time zählte ihn und seine Familie zu den 100 einflussreichsten Menschen des 20. Jahrhunderts.
Zu den bedeutendsten deutschen Paläoanthropologen zählt Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald (1902–1982), der an den Universitäten in Utrecht und Frankfurt am Main lehrte. Im Auftrag der Niederländischen Geologischen Gesellschaft wirkte er in 1930er- und 1940er-Jahren als Paläontologe in Indonesien. Er hat unter anderem einen Schädel von H.erectus gefunden sowie Gigantopithecus entdeckt und beschrieben. Ein renommierter und einflussreicher deutscher Vertreter der heutigen Paläoanthropologie ist Friedemann Schrenk (*1956), der an der Universität in Frankfurt am Main lehrt. Berühmt wurde er durch den Fund von H.rudolfensis in Nordmalawi (1991) (siehe Tab. 2.1).
Tab. 2.1: Übersicht der 35 bedeutenden paläoanthropologischen Entdeckungen
(modifiziert, korrigiert und wesentlich ergänzt nach Gibbons 2006).
Jahr | Entdecker bzw. Erstbeschreiber | Spezies | sonstigeBezeichnungen | Alter(MYA) | Fundort | Interpretation, Bedeutung |
1864 | William King | Homo neanderthalensis | Neandertaler | 0,2–0,03 | Neandertal,Deutschland | entdeckt 1856; erstes wissenschaftlich beschriebenes Fossil eines Urmenschen |
1891–1893 | Eugène Dubois | Homo erectus | Java-MenschPithecanthropus erectus | 0,8–1,2 | Trinil,Java | indizierte eine mögliche asiatische Herkunft der Menschheit |
1908 | OttoSchöttensack | Homo heidelbergensis | 0,6–0,2 | Mauer,Deutschland | der Vorfahre der Neandertaler und des modernen Menschen | |
1924 | RaymondDart | Australopithecus africanus | Taung-Baby | 1,0–2,0 | Taung,RSA | relativ kleines Gehirn, mit einem großen Vorderhirn; biped; Fund führte zum Umdenken, dass die Menschheit doch sich in Afrika evolvierte |
1929 | Otto Zdansky und Davidson Black | Homo erectus | Peking-MenschSinanthropus pekinensis | 0,2–0,5 | Zhoukoudian,China | Schädel ähnlich zum Java-Mensch; nach neueren Hypothesen (2011) sind sie aber doch so unterschiedlich, dass sie zwei Auswanderungswellen durch H.erectus aus Afrika indizieren |
1933 | Arthur Tindell Hopwood | Proconsul africanus | 21–14 | Victoriasee,Kenia | die Gattung gehört zu den frühesten bekannten Vertretern der Menschenartigen (Hominoidea) | |
1934 | G. Edward Lewis | Ramapithecus (Sivapithecus?) brevirostris | 8,0–13 | Siwalik,Indien | lange Zeit für den ältesten Vormenschen gehalten | |
1938 | Robert Broom | Paranthropus robustus | 2,0–1,5 | Kroomdraai, RSA | Broom erkannte richtig, dass es sich nicht um die Vormenschen der Gattung Australopithecus handelt, sondern um eine Seitenlinie – daher die Bezeichnung „Nebenmensch“ | |
1947 | Robert Broom | Australopithecus africanus | Mrs. Ples | 2,1–2,0 | Sterkfontein,RSA | das jüngste aller bisher entdeckten Exemplare von A.africanus |
1959 | Mary Leakey | Paranthropus boisei | Zinjanthropus boisei, Australopithecus boisei (Nussknacker-Mensch) | 2,3–1,4 | Olduwai,Tansania | erstes Hominid-Fossil aus Ostafrika |
1960 | LouisLeakey | Homo habilis | 1,8 | Olduwai,Tansania | erster „Urmensch“, größeres Gehirn und kleinere Molaren als Australopitheken | |
1969 | RichardLeakey | Homo sapiens | Omo 1, Omo 2 | 0,185 | Omo, Äthiopien | entscheidendes paläontologisches Beweisstück, dass Homo sapiens sich zunächst in Afrika entwickelte und erst später die übrige Welt besiedelte |
1974 | Donald Johanson | Australopithecus afarensis | Lucy | 3,1 | Hadar,Äthiopien | für die nächsten 20 Jahre ältester bekannter Vertreter der Hominina; kleines Gehirn; biped |
1975 | Colin Groves und Vratislav Mazák | Homo ergaster | KNM-ER 992 | 1,9–1,4 | Koobi Fora, Kenia | anhand eines 1971 von R.Leakey entdeckten Fossils als eine neue Homo-Art beschrieben Stammesform der afrikanischen „Großmenschen“ |
1976 | Andrew Hill | Australopithecus afarensis | Fußspuren | 3,6 | Laetoli,Tansania | bis dahin ältester Beweis der Bipedie bei Hominiden |
1985 | Alan Walker und Richard Leakey | Paranthropus aethiopicus | Black skullAustralopithecus aethiopicus | 2,5 | Turkana See, Kenia | möglicherweise Vorläuferart von P.boisei und P.robustus |
1985 | Alan Walker und Richard Leakey | Homo ergaster | Turkana BoyHomo erectus | 1,6 | Turkana-See,Kenia | außergewöhnlich gut erhaltenes Skelett eines Jungen |
1986 | Valerii Alexeev | Homo rudolfensis | KNM-ER 1470 | 1,8 | Turkana-See,Kenia | der von R.Leakey 1972 entdeckte Schädel wurde erst 1986 als eine basale Homo-Art beschrieben |
1991 | Dawit Lortkipanidse | „Homo georgicus“ | Dmanissi-Mensch,Homo habilis,Homo erectus | 1,85 | Dmanissi,Georgien | Beweis, dass Vertreter der Gattung Homo 300.000 Jahre früher nach Eurasien vordrangen, als zuvor angenommen |
1993 | Friedemann Schrenk | Homo rudolfensis | UR 501 | 2,4 | Uraha,Malawi | der älteste Vertreter der Gattung Homo – eine halbe Million Jahre älter als das Fragment, das Richard Leakey 1972 am Turkana-See gefunden hatte; erster alter basaler Homo außerhalb (Nord)Ostafrikas |
1992 | Gen Suwa und Tim White | Ardipithecus ramidus | Ardi | 4,4 | Aramis,Äthiopien | zur Zeit der Entdeckung der älteste Hominid; primitiver Milchbackenzahn. primitive Bipedie |
1994 | Meave Leakey | Australopithecus anamensis | 3,9–4,1 | Kanapoi,Kenia | Schienbein zeigt, dass 4,1 MYA die Bipedie schon vollentwickelt war | |
1995 | Michel Brunet | Australopithecus bahrelghazali | Abel | 3,5 | Koro, Toro,Tschad | erstes Fossil eines frühen Hominiden aus Zentralafrika; ähnelt A.afarensis |
1996 | Yohannes Haile-Selassie | Ardipithecus kadabba | 5,8 | Awash,Äthiopien | Zähne zeigen einigen Merkmale der Hominina; wahrscheinlich biped. | |
1997 | Bermuder de Castro | Homo antecessor | Atlanthropus mauritanicus | 0,8–0,2 | Sierra de Atapuerca, Spanien | Artzuordnung ist umstritten; die Fossilien werden auch H.erectus zugeordnet; ein Beleg für eine sehr frühe Besiedlung Europas durch den Menschen |
1999 | Berhane Asfaw,Tim White,Yohannes Haile-Selassie | Australopithecus garhi | 2,5 | Awash, Äthiopien | könnte zeitlich und vom Körperbau her den frühen Vertretern der Gattung Homo nahe stehen | |
2000 | Martin Pickford und Brigitte Senut | Orrorin tugenensis | 6,0 | Tugen Hills,Kenia | zur Zeit der Entdeckung der älteste Hominid; Femur beweist Bipedie | |
2001 | Meave Leakey, Louise Leakey | Kenyanthropus platyops | 3,5–3,3 | Turkana-See, Kenia | Zuordnung zu einer eigenständigen Gattung ist umstritten, denn der Schädel wurde von vielen, möglicherweise auch verformten Fragmenten rekonstruiert | |
2002 | Michel Brunet | Sahelanthropus tschadensis | Toumai | 7 | Toros-Menalla, Tschad | bislang ältestes Hominid-Fossil; Zähne, Schädel zeigen einige Merkmale der Hominina; Bipedie?, Wiege der Menschheit in Zentralafrika? Die Trennung der Panina und Hominina offensichtlich früher als die Molekulardaten indizierten |
2003 | Anatoli P.Derevianko | Homo sp. | Denisova-Mensch | 0,03 | Denisova, Russland | das 2010 publizierte Genom von Fossilien des Denisova-Menschen zeigt, dass es sich um eine zu modernen Menschen und Neandertalern parallele Population handelte |
2003 | Tim White | Homo sapiens idaltu | 0,160 | Awash, Äthiopien | bevor die Omo-Fossilien 2005 neu datiert wurden, galten die Idaltu-Fossilien als älteste bekannte Fossilien von H.sapiens | |
2004 | Peter Brown | Homo floresiensis | Hobbit | 0,095–0,012 | Flores,Indonesien | sehr kontrovers diskutierte Art der kleinwüchsigen Menschen, die parallel zu H.erectus und H.sapiens bis relativ unlängst auf der Insel Flores lebte |
2010 | Lee Berger | Australopithecus sediba | MH1, Karabo | 2,0 | Gauteng-Provinz, RSA | Fossilien stammen aus einer Epoche, aus der bisher besonders wenige Hominini-Fossilien bekannt sind; „Übergangsform“ zwischen Australopithecus und Homo? |
2010 | Darren Curnoe | Homo gautengensis | Stw 53 | 2,0 | Gauteng-Provinz, RSA | Zuordnung und Datierung noch umstritten. Neben H.rudolfensis der früheste Vertreter der Gattung Homo?; relativ große Backenzähne |
2012 | Darren Cunroe | Homo sapiens | Rotwildhöhlen-Menschen | 0,014–0,011 | Zhirendong, China | möglicherweise eine gesonderte, bislang nur aus dieser Region bekannte Population von Zuwanderern aus Afrika, die früher und getrennt von den unmittelbaren Vorfahren der heutigen Chinesen die Region besiedelte |
Die Entdeckung von Sahelanthropus (2002) war eine Sensation, weil er die Widerlegung zweier Dogmen nahelegt. Er war älter als die angenommene Molekulardivergenz zwischen Mensch und Schimpanse. In dem Falle könnte er aber nicht der Vorfahre des Menschen sein, es sei denn, er würde die Molekulardatierung widerlegen (in der Tat liegt er eher am Rande des aus den damaligen Molekulardaten hervorgehenden Zeitbereichs, vergleiche Kapitel 2.1.1). Und zweitens wurde er westlich des Grabenbruchs gefunden, wo theoretisch die Vorfahren der Schimpansen, nicht aber die des Menschen leben sollten. Trotz der Tatsache, dass er kein Savannenbewohner war, kann man aus gewissen Schädelmerkmalen (dem Winkel zwischen der Linie der Schädelbasis und der Linie des Gesichtsschädels, und aus der Position des Hinterhauptlochs) auf bipede Fortbewegungsweise schließen.
Der jüngere, und biogeografisch weniger überraschende Orrorin hinterließ – im Unterschied zu Sahelanthropus – auch Reste seines postkranialen Skeletts. Sie zeigen, dass es sich auch um eine bipede (vielleicht arborikole) Form handelte.
2.2 Australopithecina (Australopithen)
An der Basis der Menschenlinie, beginnend mit der Zeit vor 5,5 Millionen Jahren, finden wir mehrere afrikanische Formen der Vormenschen, die den Gattungen Ardipithecus, Kenyanthropus, Australopithecus und Paranthropus zugeordnet werden. Es ist evident, dass sie keine phylogenetisch einheitliche Gruppe bilden, sondern eine heterogene Gruppierung von Arten darstellen, von denen jede einzelne unterschiedlich nah mit der Gattung Homo verwandt ist. Anders gesagt: Die Gattung Homo entstand innerhalb der Australopithen und stellt nur eine ihrer Untergruppen dar. Einige Australopithen koexistierten lange mit der Gattung Homo.
2.2.1 Ardipithecus
Zwei Arten, Ardipithecus kadabba (5,6 mya) und A.ramidus (4,5 mya), beide aus Äthiopien, stellen eine sehr frühe und ausdrücklich abweichende Form tertiärer Vormenschen dar: Rekonstruktionen, die auf der Untersuchung einer großen Anzahl von Individuen beruhen, weisen ein überraschendes Mosaik von primitiven und stark abgeleiteten Merkmalen auf. Ihre Fortbewegungsweise beruhte auf einer primitiven Bipedie, die mit einer ausgeprägten Arborealität verknüpft war (wie sie sich z.B. in der opponierbaren Großzehe widerspiegelt). Sie kannten allerdings keine Brachiation (Armschwingen von Ast zu Ast nach Art der Gibbons) und vermochten nicht, vertikal zu klettern. Aber sie gingen eben auch nicht auf ihren Fingerknöcheln (knuckle walking) wie es die Schimpansen machen (einer der erstbeschreibenden Autoren von Ardipithecus formulierte dazu: „If you wanted to find something that moved like these things, you’d have to go to the bar in Star Wars“). Diese Art der Bipedie, ohne die weiteren Anpassungen, über die der heutige Mensch verfügt, war offensichtlich energetisch nachteilig. Daher kann man über andere, z.B. soziale oder reproduktive Vorteile spekulieren. Während der Fuß von Ardipithecus auffällig primitiv war, war seine Hand überraschend modern, vom menschlichen Typ, was verschiedene Hypothesen zweifelhaft erscheinen lässt, nach denen die Greifhand mit verlängertem, opponierbaren Daumen, der eine Feinmanipulation von Objekten erst ermöglicht, eine fortschrittliche menschliche Anpassung sei. Der Schädel von Ardipithecus war klein, ähnlich dem Schädel von Sahelanthropus, und ähnelte weniger den Schädeln von Menschenaffen oder Australopitheken; das Gesicht war auffällig flach, der Kiefer kurz. Ein sehr markantes Merkmal der Ardipitheken war ihr geringer Geschlechtsdimorphismus in Körpergröße und Eckzahnlänge, was auf geringe Konflikte unter den Männchen hinweist.
Das Studium des Ardipithecus zeigt deutlich, dass die naive Vorstellung eines „Übergangsgliedes“ (oder arithmetischen Durchschnitts) zwischen Schimpanse und Mensch (oder Australopithecus) nicht stimmig ist. Weiterhin wurde bestätigt, dass ein altes Fossil nicht unbedingt primitiv sein muss. Die abgeleiteten „menschlichen“ Merkmale (Lokomotion, Anatomie der Hand, Reduktion der Eckzähne) erschienen bereits am Anfang der menschlichen Evolution. Es handelt sich also nicht um Anpassungen, die mit der Herstellung und Nutzung fortschrittlicher Werkzeuge zusammenhängen. Darüber hinaus zeigt sich, dass Schimpansen kein geeignetes Ausgangsmodell sind, um Überlegungen über den Anfang der Evolution des Menschen anzustellen.
Bemerkenswert ist, dass wir viele „menschliche“ evolutionäre Neuheiten auch bei dem Menschenaffen Oreopithecus bambolii aus dem Miozän (Fundort Italien) finden. Bei diesem Primaten handelt es sich aber nicht um einen nahen Verwandten des Menschen, sondern um einen den Dryopitheken verwandten basalen Hominoiden. Aber gerade dies zeigt, dass die Evolution der menschlichen Linie durch parallele oder konvergente Evolution vernebelt ist.
2.2.2 Australopitheken
Australopitheken waren üblicherweise klein (120–140 cm), mit kleinem Hirnvolumen (430–530 cm3), vollkommen biped (wenngleich auf eine Art, die sich von der Bipedie des modernen Menschen wahrscheinlich unterschieden hat) (Abb. 2.5). Sie waren überwiegend herbivor, teilweise arborikol und ausgeprägt sexuell dimorph, zumindest ausgeprägter als Schimpansen und moderne Menschen. Wir sollten uns bewusst sein, dass aus der Tatsache, dass jemand in die menschliche Linie gehört (und nicht in die der Schimpansen), nicht automatisch folgt, dass er dem Menschen ähnlicher ist als einem Schimpansen.
Abb. 2.5: Körpergröße einiger Hominiden im Vergleich.
2.2.2.1 Australopithecus
Die gegenwärtige Literatur kennt sechs Arten von Australopithecus, die äthiopischen Arten A.anamensis (3,9–4,2 mya), A.afarensis (2,9–3,9 mya, unter anderem die berühmte „Lucy“) und A.garhi (2,6 mya), weiterhin A.bahrelghazali (3,6 mya) aus dem Tschad, und die südafrikanische Arten A.africanus (2–2,9 mya) und A.sediba (1,9–2 mya) (Abb. 2.6).
Abb. 2.6: Schädel von Australopithecus afarensis. Der Schädel war niedrig, robust, mit ausgeprägten Überaugenwülsten, breiten Jochbögen und mächtigem Unterkiefer ohne Kinn.
Phylogenetisch gelten wohl A.anamensis und A.afarensis als basale Vertreter der Menschenlinie, die sich gleich nach dem Ardipithecus abgespalten haben, wobei A.anamensis eher der Vorfahr oder die Schwesterart von A.africanus ist. A.africanus ist bereits näher mit den Gattungen Paranthropus und Homo verwandt, während A.sediba unmittelbar mit der Gattung Homo verwandt sein könnte (vielleicht sogar mehr als der klassische „Urmensch“ H.habilis). Die Stellung der Arten A.garhi und A.bahrelghazali ist unsicher. (A.garhi steht vielleicht näher bei Paranthropus; A.bahrelghazali ist möglicherweise nah verwandt zu A.afarensis.)
Eine rätselhafte Art bleibt Kenyanthropus platyops (Kenia, 3,2–3,5 mya), welche nur anhand eines sehr beschädigten Schädels beschrieben wurde und phylogenetisch wohl zwischen den Gattungen Australopithecus (wahrscheinlich wieder A.afarensis) und Homo einzuordnen ist.
2.2.2.2 Paranthropus
Die zweite Gruppe von Australopithen, die sogenannten robusten Australopitheken, werden heute üblicherweise in die selbständige Gattung Paranthropus eingeordnet. Hierzu zählen drei Arten, P.aethiopicus (Kenia und Äthiopien, 2,7–2,5 mya), P.boisei (Kenia und Tansania, 2,6–1,2 mya) und P.robustus (Südafrika, 1,2–2 mya), möglicherweise auch die fragliche Art A.garhi. Alle repräsentieren einen besonderen und sehr abgeleiteten Nebenast der menschlichen Phylogenese. Sie illustrieren die Tatsache, dass die „Menschwerdung“ in der Evolution der Hominina kein allgemeiner Trend war.
Paranthropen waren relativ große bipede Herbivoren, die vielleicht zumindest teilweise auf harte pflanzliche Nahrung (Knollen, Wurzeln, Samen, Gräser usw.) spezialisiert waren. Sie wiesen einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus auf, der eine „gorilla-artige“ Haremslebensweise indiziert. Trotz ihrer Abweichung vom „Weg zum modernen Menschen“ waren es erfolgreiche Arten, die erst relativ spät ausgestorben sind. P.robustus und P.boisei koexistierten zweifellos noch mit H.ergaster.
2.3 Basale Arten der Gattung Homo
Im folgenden Text werden wir von einem Konzept mehrerer Arten ausgehen. Dies ist auch aus praktischen Gründen sinnvoll: Es ist besser, wenn man Formen klar benennen kann, die spezifische evolutionäre Trends zeigen und bestimmte geografische und stratigrafische Verbreitungsmuster sowie eine unterschiedlich nahe Verwandtschaft mit dem modernen Mensch aufweisen (Box 2.4 und 2.5).
Box 2.4
Die Anzahl der Arten von fossilen Menschen: traditionelle Sicht
Die Anzahl der Arten, die die Gattung Homo bilden, ist unklar und langfristig instabil. Sie schwankt, je nach wissenschaftlicher Meinung, zwischen zwei (H.erectus und H.sapiens) und 10–15 (Abb. 2.4). Auf ein allgemein gültiges Artkonzept konnten sich die Biologen bis heute nicht einigen; (siehe Box 1.2); in der Paläontologie ist das Problem besonders ausgeprägt, denn über die Populationsbeziehungen unter ausgestorbenen Organismen wissen wir – bis auf wenige Ausnahmen – nichts. Und in der Paläoanthropologie ist es am schlimmsten, weil das Thema auch ideologischen Zündstoff enthält. Die Anzahl fossiler Menschenarten, die gegenwärtig in der paläoanthropologischen Literatur diskutiert wird, liegt etwas höher als die Artenzahl in anderen Gruppen von Säugetieren mit vergleichbarer Körpergröße. Es könnte sich dabei um ein taxonomisches Artefakt handeln, sozusagen um eine anthropozentrische Fehleinschätzung. Denn die Unterschiede zwischen Menschenpopulationen erscheinen uns, den Menschen, wahrscheinlich augenfälliger und damit „bedeutender“ als Unterschiede zwischen Populationen von, z.B. Kängurus. Die große Zahl fossiler Menschen könnte jedoch auch tatsächlich vorhandene spezielle evolutionäre Prozesse widerspiegeln (z.B. eine erhöhte Tendenz zur Artbildung aufgrund sexueller Selektion). Dies kann natürlich nicht entschieden werden. Es ist nichtsdestoweniger wichtig zu verstehen, dass die Evolution des Menschen (genauso wie die Evolution von was auch immer) die Form eines Baumes mit parallelen und langfristig koexistierenden Zweigen hat, nicht die Form einer Leiter.
Eine unmittelbare lineare Abfolge von Ahnen und Nachkommen, wie wir sie aus den Lehrbüchern kennen („Australopithecus-habilis-erectus-sapiens“), existierte nie. Im Gegenteil, während der gesamten menschlichen Evolution koexistierten mehrere sympatrische Arten, z.B. Ardipithecus + Australopithecus afarensis (3,4 mya), P.aethiopicus + H.habilis + H.rudolfensis (2,5–2 mya), P.boisei + H.habilis + H.ergaster (2–1,5 mya), Australopithecus sediba + H.habilis (2–1,75 mya), P.boisei + H.ergaster (1,5–1 mya) (Abb. 2.4). Dieser Sachverhalt setzte sich auch später noch fort, als verschiedene Arten der Gattung Homo gleichzeitig lebten. Er endete erst vor wenigen Zehntausend Jahren. Die gegenwärtige isolierte Existenz einer einzigen Art, H.sapiens, ist also erst unlängst entstanden und etwas durchaus Besonderes, das es so in der Vergangenheit nie gegeben hat. Es lässt sich nur noch darüber spekulieren, wie sehr unsere Art das Aussterben ihrer nächsten Verwandten förderte, während sie ihre eigene globale Dominanz aufbaute.
Wie wir bald sehen werden, fand in der Vergangenheit wahrscheinlich eine teilweise Hybridisierung dieser Arten (Arten?) statt. Dies steht im Widerspruch zur orthodoxen Artdefinition („die von anderen Arten reproduktiv isolierte Populationen“) und es könnte als ein Beweis interpretiert werden, dass Neandertaler usw. keine „guten“ Arten seien. Tatsächlich wissen wir heute, dass die teilweise Einkreuzung (Introgression) fremder DNA (oft mitochondrialer DNA) in das Genom einer anderen Art bei Tieren, einschließlich großer Säugetiere, relativ üblich ist – der Artstatus beruht folglich nicht darauf, dass sich Arten nicht kreuzen, sondern dass sie langfristig ihre Identität erhalten, selbst wenn sie sich kreuzen.
Box 2.5
Die Zahl der Arten fossiler Menschen: Dmanisi 2013
Neue Funde aus der Lokalität Dmanisi in Georgien deuten darauf hin, dass im Verlauf der letzten zwei Millionen Jahre auf der Erde nur zwei, dafür aber sehr erfolgreiche Menschenarten gelebt haben – Homo erectus und Homo sapiens. Georgische Funde, ursprünglich als „Homo georgicus“ beschrieben und in den Zeitraum des unteren Pleistozän datiert (ca. 1,8 mya), fungieren als Belege der ältesten menschlichen Besiedlung außerhalb von Afrika. Zum heutigen Tag wurden in Dmanisi fünf Schädel von „H. georgicus“ gefunden.
Der fünfte Schädel ist außerordentlich bemerkenswert, denn es handelt sich um den einzigen komplett erhaltenen Schädel aus diesem Zeitraum, wobei er in sich die Merkmale gleich mehrerer menschlicher Arten trägt: einen der afrikanischen Art H.habilis entsprechenden kleinen Hirnschädel (nur 546 cm3), massive Zähne wie der afrikanische H.rudolfensis und eine Gesichtsmorphologie, die an den eurasiatischen H.erectus erinnert. In Kombination mit den restlichen vier Schädeln liefert er erstmalig ein Zeugnis über die individuelle morphologische Variabilität einer ausgestorbenen lokalen Population ab. Hätten wir diese fünf Schädel (oder auch nur Einzelteile des fünften Schädels) an diversen Orten Afrikas, auch wenn in gleichaltrigen Schichten, gefunden, hätten wir dazu geneigt, diese Funde unterschiedlichen menschlichen Arten zuzuordnen. Wenn also die Schädel von Dmanisi wirklich nur einer Spezies gehören, dann hat es keinen Sinn, manche der bisherigen menschlichen „Arten“ zu unterscheiden. Nicht nur Homo ergaster und H.georgicus, aber vielleicht auch H.habilis, H.rudolfensis und H.floresiensis würden lokale Populationen von H.erectus darstellen, einer sehr erfolgreichen über zwei Millionen Jahre bestehenden Art, die in Afrika und Eurasien (von Spanien bis nach Indonesien) verbreitet war, und im Rahmen ihrer Verbreitungsareals natürlich sehr variabel.
Traditionell wird der ostafrikanische Homo habilis (2,3–1,4 mya) für den ältesten und ursprünglichsten echten Menschen gehalten (Abb. 2.7), berühmt vor allem als erster Hersteller und Nutzer der Oldowan-Steinwerkzeuge (Box 2.6, Tab. 2.2, Abb. 2.8). In der Zeit seiner Entdeckung, in den 1960er-Jahren, hatte man allerdings gerade erst begonnen, die reiche Kultur und Technologie des Schimpansen zu erforschen (vergleiche Kapitel 4.1), weshalb die Fähigkeiten von H.habilis heute weniger überraschend wirken. Alle Vorfahren des Menschen benutzten Steinwerkzeuge, genauso wie der gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch. Darüber hinaus zeigte eine Neuanalyse der dem H.habilis zugeschriebenen „Werkzeuge“, dass es sich zumindest bei einigen von ihnen eher um Gastrolithe (Magensteine) von Krokodilen handelt.
Abb. 2.7: Schädel von Homo habilis. Sein Schädel stellt ein Beispiel für Mosaikevolution dar. Abgeleitete morphologische Merkmale (vergrößertes Gehirn, verkleinerter Gesichtsschädel, Rundung des Hinterhauptbeins) sind mit den für die Gattung Australopithecus typischen Merkmalen kombiniert.
Abb. 2.8: Typische Steinwerkzeuge der Altsteinzeitkulturen. Chopper (Oldowan), Faustkeile (Acheuléen, Moustérien, Micoquien) und Schaber und Steinspitze (Atérien).
Box 2.6
Steinzeitkulturen
Während die Paläontologie (wörtlich die „Wissenschaft von alten Wesen“) als Grenzwissenschaft zwischen der Geologie und Biologie rein naturwissenschaftlich orientiert ist, beschäftigt sich Archäologie (wörtlich Altertumskunde) als Grenzwissenschaft zwischen Geschichte und Biologie mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Sie ist eher sozial- als naturwissenschaftlich orientiert. Im Fokus der Archäologie steht ausschließlich der Mensch (Gattung Homo) und hier insbesondere seine kulturellen Artefakte (also materiellen Hinterlassenschaften), wie etwa Werkzeuge, Kunstwerke usw. Daraus ergibt sich, dass die Archäologie einen Zeitabschnitt abdeckt, der „erst“ ca. 2,5 mya begann. Die Nomenklatur der archäologischen Abschnitte, die von den merklichen technologischen Unterschieden in der Werkzeugherstellung bestimmt wird, und die paläontologische Zeiteinteilung sowie die absolute Datierung werden in Tab. 2.2 verglichen. Die früheste Epoche der Menschheitsgeschichte wird durch die Überlieferung von Steinwerkzeugen (vergleiche Abb. 2.8) charakterisiert und entsprechend als Steinzeit bezeichnet. Die Steinzeit wird in drei Abschnitte (Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit), die Altsteinzeit wiederum in drei Perioden unterteilt: Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum (von griech. lithos = Stein). Innerhalb der Perioden unterscheidet man je nach den vorherrschenden Artefakten (Industrien) bzw. Technologien unterschiedliche Kulturen. Diese werden nach dem ersten Fundort genannt. So leitet sich z.B. „Oldowan-Kultur“ von der Olduvai-Schlucht ab.) Die Gliederung und Datierung einzelner Epochen, Perioden und Kulturen ist regional unterschiedlich, die Zeitangaben in Tab. 2.2 sind also nur Orientierungshilfen.
Als ein typisches Merkmal der Gattung Homo können wir daher nicht die Nutzung der Werkzeuge per se, sondern erst ihre systematische Herstellung betrachten. Die Zuordnung des H.habilis zur Gattung Homo ist vermutlich richtig, sollte jedoch nicht die eher „australopithekoide“ Anatomie und wahrscheinlich auch die Ethologie dieser Art verschleiern (Abb. 2.7). Angesichts der unklaren Stellung der Arten Australopithecus sediba aus Südafrika und Homo rudolfensis (2,5–1,8 mya) aus Ostafrika herrscht jedoch noch Klärungsbedarf. Dass H.habilis nicht der direkte Vorfahre der „Großmenschen“ war, sondern ein verwandter Nebenzweig, zeigt auch die lange Koexistenz von H.habilis und H.ergaster in Ostafrika (Abb. 2.4).
Die 2010 beschriebene Art H.gautengensis aus Südafrika (von 2 mya bis weniger als 1 mya, also bis in eine Zeit, als in Afrika bereits sehr fortgeschrittene „Großmenschen“ lebten) stellt eine weitere alte, auffällig lange existierende (persistierende), phylogenetisch basale Form des Menschen dar. Sie zeichnete sich durch eine geringe Körpergröße aus und war vermutlich auf feste pflanzliche Nahrung spezialisiert.
Tab. 2.2: Zeittafel der Steinzeit. Es handelt sich nur um eine Orientierungsübersicht, die Datierung einzelner Kulturen ist regional unterschiedlich. Nicht alle Kulturen sind aufgeführt, und auch nur einige wenige Beispiele für typische Funde werden angegeben. Für die Illustration einiger Werkzeuge siehe Abb. 2.8.
Alter | Kultur | Beispiel der typischen Artefakte | Periode | Epoche | Hersteller |
Eisenzeit | H. sapiens | ||||
Bronzezeit | |||||
Jungpaläolithikum | Kupfersteinzeit | ||||
8–3 tya | Jungsteinzeit(Neolithikum) | ||||
10–6 tya | Mittelsteinzeit(Mesolithikum) | ||||
18–10 tya | Magdalénien | Knochenpfeile | Altensteinzeit(Paläolithikum) | ||
21–17 tya | Solutréen | Nadeln mit Ohr, gravierte Knochen | |||
28–22 tya | Gravettien | Venusfigurinen | |||
32–26 tya | Aurignacien | Kielkratzer, Stichel aus Feuerstein, Petroglyphen | |||
35–29 tya | Châtelperronien | Tierplastiken und Höhlenmalerei | |||
82 tya | Atérien | flache und ovale Werkzeuge (Blattspitzen) | Mittelpaläolithikum | H. sapiensH. nenaderthalensis | |
130–70 tya | Micoquien | Technik mit asymmetrischen Faustkeilen | |||
250–35 tya | Moustérien | sehr fein verarbeitete Werkstücke in zahlreichen, auf die Funktion hin gestalteten Formen; typisch sind fein ausgebildete Faustkeile | |||
1,7–0,1 mya | Acheuléen | feiner bearbeitete Faustkeile | Altpaläolithikum | H. heidelbergensis H. ergaster | |
2,6-1,8 mya | Oldowan(Olduwan) | Geröllgeräte, Hacksteine, sog. Chopper und Chopping Tools | H. georgicus,H. gautengensis H. habilis, H. rudolfensis |
2.4 „Hobbit“ (Homo floresiensis)
Vielleicht die größte Sensation der Paläoanthropologie in den letzten Jahren war 2004 die Entdeckung des Miniaturmenschen in Liang Bua auf der ostindonesischen Insel Flores. Es handelt sich dabei um fast unglaublich junge Funde – „Hobbits“ lebten auf Flores bereits vor ca. 95 tya und noch bis etwa 12–18 tya, existierten also noch mehr als 10.000 Jahre nachdem der letzte Neandertaler gestorben war. Zweifellos sind sich moderne Menschen und Hobbits noch begegnet. (Die Erinnerung an das womöglich schwierige Zusammenleben mit „Hobbits“ hat vielleicht bis heute im Folklorewesen Ebu Gogo überlebt. Die Ebu Gogo waren kleine Menschen, die unbestätigten Erzählungen zufolge noch im 18.–19. Jahrhundert auf der Insel gelebt haben sollen.) Hobbits waren auffällig klein (1,1 m, 25 kg) (Abb. 2.5) und besaßen kleine Köpfe (Hirnschädelvolumen 400 cm3). Gerade die außerordentlich kleinen Gehirne nährten lange den Verdacht, dass es sich um eine krankhafte (pathologische) Mikrozephalie handelte. Und in der Tat ist dies merkwürdig, denn die meisten sekundär miniaturisierten Säugetiere haben relativ große Gehirne (eine Ausnahme sind z.B. die Flusspferde auf Madagaskar). Ein wirkliches Rätsel ist das Vorkommen von „Hobbits“ ausgerechnet auf Flores: Diese Insel ist kein Bestandteil des asiatischen Shelfs und war nie über eine Landbrücke, also trockenen Fußes, erreichbar. „Hobbits“ lebten hier in einem bizarren Ökosystem zusammen mit Zwergelefanten, Riesenratten, Komodowaranen und riesigen Marabustörchen. Flores muss vor einigen Zehntausend Jahren wahrlich ein besonderer Ort gewesen sein.
H. floresiensis wurde ursprünglich als miniaturisierte Inselform des H.erectus interpretiert, eine aus dem Gesichtspunkt der Geografie und Stratigrafie logische Hypothese, die erst kürzlich auch durch eine detaillierte Analyse der kraniofazialen Morphologie bestätigt werden konnte. Allerdings zweifeln einige Forscher die Existenz einer eigenständigen Menschenart auf Flores an. Sie postulieren, dass „Hobbits“ pathologische Abweichungen darstellen (Mikrozephalie, Laron-Syndrom, endemischer Hypothyroid-Kretinismus). Man muss aber betonen, dass es sich nicht um pathologische Individuen, sondern um eine ganze Population handeln müsste, die auf Flores mehrere Tausend Jahre lebte. Der „Krieg um den Hobbit“ wurde in der ersten Dekade unseres Jahrhunderts sehr heftig geführt. Im Verlauf der Streitereien wurde die „Pathologie-Hypothese“ ebenso häufig widerlegt wie wiederbelebt. Wie das in der Wissenschaft häufig vorkommt, konnte keine Seite vollends überzeugen. Die neueren Versuche zur phylogenetischen Analyse der Reste des „Hobbits“, mit dem Fokus diesmal nicht auf dem zweifelhaften Schädel, sondern auf den Extremitäten, deuten darauf hin, dass es sich nicht nur um eine besondere, sondern vor allem um eine außerordentlich primitive Art handeln könnte, die sich irgendwo auf der Ebene des H.habilis abgespalten hat. Für die basale Stellung des „Hobbits“ spricht eine Reihe morphologischer Merkmale, wie z.B. der robuste Unterkiefer ohne „Kinn“, die primitiven Prämolaren, die Form des Hirnschädels, der Bau der Handwurzel, die Fußform und die Körperproportionen, die alle eher den Australopitheken oder H.habilis ähneln. In diesem Fall wäre die Miniaturisierung nicht besonders dramatisch ausgefallen. Andererseits würde diese Sichtweise die Existenz einer umfassenden und bisher unbekannten Migration von primitiven afrikanischen „Menschen“ über Asien hinweg voraussetzen, für die sich (bisher) keine Spuren finden lassen (vielleicht mit Ausnahme von ca. 2 Millionen Jahre alten Steinwerkzeugen aus der Fundstelle Riwat in Pakistan). Bemerkenswert ist auch, dass die menschlichen Werkzeuge auf Flores in ca. 1 mya alten Erdschichten gefunden wurden, ihre Fossilisierung also lange vor der Ankunft moderner Menschen nach Indonesien begonnen hatte.
Man kann zusammenfassen, dass H.floresiensis gegenwärtig zumeist für eine eigenständige Art gehalten wird, deren phylogenetische Stellung aber rätselhaft bleibt. Immerhin besteht die Hoffnung, dem Rätsel mit molekulargenetischen Methoden auf die Spur zu kommen, wenn es gelingt, DNA aus den relativ jungen „Hobbit“-Knochen zu gewinnen und zu analysieren.
2.5 Homo erectus im weiten Sinne
Die augenfälligste evolutionäre Änderung (Körpervergrößerung, Abb. 2.5, wahrscheinliche Rückbildung der Körperbehaarung usw.) findet sich erst bei H.erectus im weiteren Sinne und seinen Nachkommen.
2.5.1 Homo ergaster
Die Schlüsselart der „großen Menschen“ und ihr ältester Vertreter ist der ost- und südafrikanische H.ergaster (1,4–1,9 mya). Traditionell wurde er für eine alte afrikanische Form von H.erectus gehalten. Heute wird seine nahe anzestrale Beziehung zur „Sapiens-Linie“ (H.heidelbergensis und seine Nachkommen) und auch zu asiatischen Populationen von H.erectus allgemein anerkannt (Abb. 2.9). Homo ergaster war bis zu 180 cm groß, also wesentlich größer als die basalen Vertreter der Gattung Homo („Habilini“), und zeichnete sich durch „moderne“ Körperproportionen aus – im Gegensatz zu den Australopitheken konnte er auch schnell laufen. H.ergaster nutzte als erster – zumindest in späteren Zeiten – auch abgeleitete, fein bearbeitete Steinwerkzeuge (Acheuléen-Kultur) (Tab. 2.2). Es scheint, dass seine Sozialstruktur ähnlich der des modernen Menschen war (reduzierter Geschlechtsdimorphismus im Vergleich zu den „Habilinen“). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das als KNM-ER 1808 bezeichnete Skelett einer Frau, die offenbar eine normalerweise fatale Hypervitaminose A langfristig überlebt hat, was zum einen auf intensive Jagd (und Leber der Raubtiere als übliche Nahrung) hindeutet, zum anderen auf eine anfängliche „ärztliche Fürsorge“ und damit auf ein Sozialverhalten, das ein bedeutendes Maß an Kooperation und Koordination einschließt.
Abb. 2.9: Stammbaum und räumlich-zeitliche Verteilung der Urmenschen (Gattung Homo).
2.5.2 Homo georgicus
Eine sehr zweifelhafte Art ist H.georgicus (mit einem Alter von ca. 1,8 mya), die auf Funde aus der georgischen Lokalität Dmanisi zurückgeht. Es handelt sich wahrscheinlich um eine lokale Population von H.ergaster und den ersten Bewohner des westlichen Eurasiens (Box 2.5). Wichtige Merkmale des georgischen Menschen sind seine relativ geringe Körpergröße und der Gebrauch primitiver Steinwerkzeuge (Oldowankultur), ein Merkmal, das er mit „Habilinen“ und ursprünglichen Populationen von H.ergaster teilte (Tab. 2.2). Interessanterweise ähnelt das Gebiss von H.georgicus eher dem Gebiss alter afrikanischer Menschenarten; und Steinwerkzeuge aus Yunnan in Südwest-China sind nur wenig jünger. Auch dies könnte auf eine basale phylogenetische Stellung von H.georgicus und eine weitere Verbreitung hinweisen.
2.5.3 Homo erectus im engen Sinne
Diese seit Langem (seit 1891) bekannte asiatische Art lebte während eines sehr langen Zeitraums zwischen 1,8 mya bis ein paar tya im südöstlichen Asien, nämlich in Indonesien („Pithecanthropus“) und China („Sinanthropus“) (Tab. 2.1, Abb. 2.9 und 2.10). Sekundär hat sie sich auch in Westeurasien ausgebreitet und ist zurück nach Afrika (ca. 1 mya) gewandert. H.erectus ist der unmittelbare Nachkomme des afrikanischen H.ergaster. Im Unterschied zu seinem afrikanischen Vorfahren, von dem er sich 2 mya getrennt hatte, war H.erectus an der Evolution des modernen Menschen nicht unmittelbar beteiligt. Interessanterweise finden wir bei den asiatischen Populationen von H.erectus keine Acheuléen-Werkzeuge (Tab. 2.2), obwohl der afrikanische H.ergaster sie schon gebrauchte. Es kann sich entweder um den „Beweis“ der sehr frühen Abspaltung der asiatischen von der afrikanischen Linie (noch vor der Erfindung der Acheuléen-Technologie) handeln, oder um einen Hinweis auf die Nutzung anderer, weniger fossilisierbarer Materialien für die Werkzeugherstellung in Asien (Bambus?).
Abb. 2.10: Schädel von Homo erectus. Für den Schädel charakteristisch sind die flache, fliehende Stirn, die mächtigen Überaugenwülste, der verlängerte, niedrige Hirnschädel, die großen, robusten Jochbögen, das nach vorne vorspringende Gesicht und die mächtigen Kiefer.
2.6 Homo sapiens im weiten Sinne
2.6.1 Homo antecessor
Eine wenig bekannte Art aus der Sierra de Atapuerca in Spanien (0,8–0,2 mya) ist der H.antecessor, der älteste fossile Mensch in Europa und wahrscheinlich der basale Angehörige der afroeuropäischen Linie, die vom H.ergaster zum modernen Mensch führt. Ungefähr aus demselben Zeitraum stammen auch einige in Ost-England (also relativ nahe an der Grenze zur borealen Klimazone) gefundene menschliche Spuren und Steinwerkzeuge. Ob ihr Hersteller H.antecessor war, ist schwer zu beurteilen, aber wir kennen heute keine andere Menschenart, die damals Europa bewohnte. (Allerdings ist Vorsicht geboten: Eine neue Datierung evolutionärer Ereignisse, die auf der Mutationsrate zwischen den nachfolgenden Generationen beruht (Kapitel 3.2), ermöglicht auch andere, unorthodoxe Interpretationen der Fossilien.)
2.6.2 Homo heidelbergensis
H.heidelbergensis ist eine heterogene Sammlung von afrikanischen und eurasischen (von Spanien bis China, vielleicht auch Westindien) Populationen aus dem Zeitraum 600–250 tya. Es handelt sich eindeutig um einen Menschen vom heutigen Typ, der sehr wahrscheinlich fähig war, artikuliert zu sprechen und über ein komplexes Symbolverhalten verfügte (Bestattung der Toten?). Aus diversen Populationen des Heidelbergmenschen entstanden offensichtlich die späteren Arten H.neanderthalensis (direkte Vorfahren vom Neandertaler werden manchmal auch als „H.steinheimensis“ bezeichnet) und H.sapiens (über afrikanische Übergangsformen „H.rhodesiensis“ oder „H.helmei“). Der mittels der Molekularuhr geschätzte Zeitpunkt der Divergenz von Neandertaler und modernem Mensch (über 500 tya) entspricht gerade jenem Zeitpunkt, als sich diverse Formen im Rahmen des Komplexes heidelbergensis-steinheimensis-rhodesiensis-helmei aufspalteten. Zu diesem heterogenen Komplex gehört wahrscheinlich auch der sogenannte „H.cepranensis“ von der Apenninen-Halbinsel/Italien (ursprüngliche Datierung 0,8–0,9 mya, nach heutigen Angaben deutlich jünger) (Box 2.7).
Box 2.7
Sima de los Huesos 2013
Zum Schluss des Jahres 2013 wurde die mitochondriale DNA-Sequenz aus einem ca. 400.000 Jahre alten Oberschenkelknochen aus der Fundstelle Sima de los Huesos im Atapuerca-Gebirge im Norden Spaniens publiziert. Weil es sich um Überreste der „Spezies“ Homo heidelbergensis handelt (zwar mit vielen „neandertaloiden“ Merkmalen, was aber nicht überraschend ist, denn aus den europäischen Populationen von H.heidelbergensis sind ja Neandertaler entstanden) konnte man erwarten, dass die Analyse diese Population als eine Schwestergruppe der Neandertaler oder Schwestergruppe der Neandertaler plus moderner Menschen, identifizieren würde. Weder noch: Der Mensch von Sima de los Huesos ist dem rätselhaften altaischen Denisova-Menschen nah verwandt, bzw. seine Mitochondrien sind den Denisova-Mitochondrien verwandt (was nicht das gleiche sein muss), aber die Verwandtschaft zwischen der spanischen und altaischen Population (bzw. deren Mitochondrien) scheint geringer zu sein als die verwandtschaftliche Beziehung von Neandertaler und modernem Menschen. Die Widersprüche zwischen den auf der mitochondrialen und Kern-DNA beruhenden Ergebnissen weisen auf eine Kreuzung der Denisovaner mit noch älteren Formen (ostasiatischer H.erectus?) hin. In jedem Fall zeigt sich, dass die alten menschlichen Populationen weit verbreitet und wahrscheinlich auch sehr mobil waren. (Was beunruhigt, ist die Tatsache, dass bisher jeder alte Fund, von dem es gelungen ist, DNA zu isolieren, unsere Sicht der Phylogenese des Menschen wesentlich geändert hat – was erwartet uns noch? Letztendlich befindet sich nur ein paar Hundert Meter von der Fundstelle in Sima de los Huesos entfernt die Lokalität Gran Dolina, aus der der noch ältere H.antecessor beschrieben wurde …)
2.6.3 Homo neanderthalensis
Der bekannteste fossile Verwandte des modernen Menschen bewohnte Europa, den Nahen Osten und Westasien (östlich bis zum Altai). Das Alter dieser Spezies reicht von 350 (270–440) bis 30–40 Tausend Jahre (spätere Schätzungen werden in letzter Zeit angezweifelt). Es ist also fast sicher, dass er in einigen Teilen seines Verbreitungsareals langfristig mit dem modernen Menschen koexistierte. Bei H.neandertalensis handelte es sich um eine Form, die zunächst Gebiete der gemäßigten Zone bewohnte und sich später an die kalten Bedingungen des letzten Glazials adaptierte. Neandertaler waren robuster als heutige Menschen (einschl. eines größeren Gehirnvolumens) (Abb. 2.11). Biologisch und kulturell stellen sie das Taxon dar, das dem heutigen Mensch evolutionär am nächsten steht – die Übereinstimmungen überwiegen deutlich die Unterschiede (Box 2.8). Häufige, umfangreiche und geheilte Verletzungen weisen darauf hin, dass sich die Jagdtechnik von Neandertalern von der des modernen Menschen unterschied. Sie beruhte eher auf einem Kontaktkampf mit der Beute, während moderne Menschen auf das Erfinden und Weiterentwickeln von Fernwaffen (Bögen und Pfeile, Wurfspeere) hinarbeiteten.
Abb. 2.11: Schädel von Homo neanderthalensis mit typischen Merkmalen.
Box 2.8
Wie sahen unsere Vorfahren aus?
Wenn wir uns die Rekonstruktionen von Neandertalern in der populärwissenschaftlichen Literatur anschauen, registrieren wir eine bemerkenswerte „Evolution“ dieser Art – von menschenaffenartigen Bestien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu der heutigen Sicht auf Neandertaler als Menschen, die wir in der U-Bahn wahrscheinlich kaum bemerken würden. Es geht nicht darum, dass die neue Sicht bestimmt genauer ist, aber darum, dass alle Rekonstruktionen auf visuellen und emotional bedeutenden Merkmalen beruhen, über die wir bei ausgestorbenen Arten nichts wissen. Australopithecinen werden heute oft dargestellt mit menschlichen Augen mit weißer Sklera und markant gefärbten Regenbogenhäuten, nicht mit den schimpansenartigen Augen. Mit einigen wenigen Pinselzügen (und in Photoshop noch einfacher) kann man den Australopithecus vermenschlichen oder entmenschlichen, beliebig nach Wunsch.
Alles weist darauf hin, dass Neandertaler eine artikulierte Sprache besaßen: die Anatomie des Stimmapparats und des hypoglossalen und spinalen Kanals (Kapitel 7.9.4), außerdem der Besitz des menschlichen Typs des „Sprachgens“ FOX2P (siehe auch Kapitel 7.9.3). Für Neandertaler ist die Moustérien-Werkzeugkultur (Tab. 2.2, Abb. 2.7) typisch, die kontrollierte Nutzung des Feuers und der Bau komplizierter Behausungen. Die Existenz von Ritualen (Beerdigungen) oder von künstlerischen Produkten (Schmuck, Musikinstrumente) kann als sehr wahrscheinlich angenommen werden.
Neandertaler wiesen wahrscheinlich ein schnelles postnatales Wachstum auf, sie hatten nur eine sehr kurze präpubertale Kindheit und ihre Ontogenese war offensichtlich für die Mutter energetisch anspruchsvoller als beim modernen Menschen, worauf auch längere Intervalle zwischen den Geburten hindeuten. Trotz des schnelleren Wachstums erlangten sie ihre Geschlechtsreife später. Von den verfügbaren genetischen Daten kann man ableiten, dass Neandertaler (ähnlich wie moderne Menschen) patrilokal waren, aber langfristig in kleinen Populationen mit niedriger genetischer Diversität lebten. Die Molekulardaten weisen darauf hin, dass die Neandertaler im europäischen Teil des Verbreitungsareals lange vor der Ankunft des modernen Menschen ausstarben. Mittel- und Westeuropa wurden dann vom Osten rekolonisiert und so entstand die Neandertaler-Population, welche – in der Zeit, wenn sie selbst schon auf die Extinktion zusteuerte – unseren unmittelbaren Vorfahren begegnete.
2.6.3 Denisova-Mensch
Im Jahre 2010 wurde überraschenderweise eine neue Menschenart in der Denisova-Peschera (Denis-Höhle) im Altaigebirge (wo nicht lange davor Neandertaler lebten) entdeckt. Aus einem winzigen Fragment des Fingergliedknochens (ca. 40.000 Jahre alt) wurden die mitochondriale DNA und später auch das Kerngenom isoliert. Sie zeigen, dass es sich um eine eigenständige Linie handelt, wahrscheinlich eine genetisch deutlich unterschiedliche Schwesterlinie des Neandertalers. Auch die ersten morphologischen Studien der Denisova-Zähne zeigen, dass es sich um eine morphologisch eigenständige und ziemlich archaische Gruppe handeln muss.
2.6.4 Homo sapiens im engen Sinne
Der moderne Mensch ist der nächste Verwandte des Neandertalers (und des „Denisovaners“) und damit ein weiterer direkter Nachkomme von afrikanischen Populationen des H.heidelbergensis. Nach molekulargenetischen Analysen ist der gemeinsame Vorfahre der heutigen (weltweiten!) Populationen des modernen Menschen in Afrika im Zeitraum um 200–300 tya zu suchen. Von ein bisschen jüngeren Funden in Äthiopien (Herto) wurde ein besonderes Taxon, H.sapiens idaltu, benannt, der den Vorfahren heutiger Menschen geografisch und stratigrafisch sehr nah steht. Es waren bestimmt nicht die einzigen ziemlich modernen Menschen, die damals Afrika bewohnt haben: eine morphometrische Analyse alter Afrikaner (aus dem Zeitraum 200–60 tya) zeigte eine große Variabilität (größer als bei vergleichbaren Stichproben rezenter Menschen), was von der Existenz einer tief strukturierten menschlichen Population im damaligen Afrika zeugt (Abb. 2.12).
Abb. 2.12: Schädel von Homo sapiens mit typischen Merkmalen.
Menschliche Populationen afrikanischer Herkunft können als die Vorfahren der heutigen Menschheit angesehen werden: 115–135 tya wurde von ihnen zum ersten Mal der Nahe Osten besiedelt, 85 tya Südarabien, in den folgenden 10000 Jahren ganz Süd- und Südostasien einschließlich der Großen Sundainseln (die zum asiatischen Schelf gehören, sodass sie zu jener Zeit aus Asien „trockenen Fußes“ zu erreichen waren). Etwas später wurden Neuguinea, Australien und China besiedelt, mehr als 50 tya begann die Ausbreitung nach Europa; um ca. 40 tya war ein Großteil Eurasiens besiedelt und 20–30 tya begann der Mensch damit, sich Richtung Beringia (die damals existierende Landbrücke über die Beringsee zwischen Nordostasien und Nordwestamerika) und danach auch nach Amerika auszubreiten. Ausführlicher werden wir diese Geschichte in den nächsten Kapiteln behandeln – an dieser Stelle sei nur erwähnt, dass die modernen Menschen auf ihrem Weg durch Eurasien ca. 50 tya mehreren Menschenarten begegneten, die Afrika schon lange vor ihnen verlassen hatten – in Europa, im Nahen Osten und Sibirien waren es Neandertaler, in Asien „Denisovaner“, auf Flores „Hobbits“. Und es ist nicht auszuschließen, dass sie in verschiedenen Teilen Asiens auch auf Populationen des H.erectus trafen (obwohl die Sedimente im Gebiet Ngandong auf Java, wo H.erectus soloensis gefunden wurde, von dem angenommen wurde, dass er die Ankunft moderner Menschen erleben konnte, doch etwas älter sind als ursprünglich angenommen, ca. 150–500 tya). Für einen intensiven Kontakt mit sehr altertümlichen Menschentypen in Asien spricht überdies ein merkwürdiger indirekter Hinweis: während die Kopf- und Kleiderläuse (Pediculus humanus) aller Menschen der Alten Welt eine homogene Gruppe bilden, sind die Kopfläuse amerikanischer Indianer ganz unterschiedlich und haben sich genetisch von den Altweltläusen schon vor mehr als einer Million Jahre getrennt. Damals gab es natürlich noch keine modernen Menschen (geschweige denn Indianer) in Amerika. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es sich um die Folge eines Austausches von Läusen zwischen den Vorfahren der Indianer und unbekannten Menschen (nach der Datierung der Divergenz wahrscheinlich H.erectus) in Ostasien handelt; diese letzteren Menschen sind ausgestorben, aber ihre Läuse haben in den Haaren jener Vorfahren der Indianer überlebt, die sie später mit nach Amerika brachten.
Die traditionelle Vorstellung der Entwicklung einer modernen menschlichen Population, die in Afrika entstanden ist und dann den ganzen Planeten besiedelte („Out-of-Africa“), muss sich daher auch mit der Tatsache einer langen Koexistenz des modernen Menschen mit archaischen Formen in Afrika und Eurasien auseinandersetzen. Gegenwärtig können wir über die Interaktionen der verschiedenen Menschenarten einiges aus den genetischen Daten ableiten, denn wir kennen z.B. die kompletten Genome von Neandertaler und „Denisova-Mensch“). Darüber hinaus liefert auch die Paläoanthropologie einige beunruhigende Funde, die das klassische Szenario zumindest zweifelhaft machen. Einer der bekanntesten dieser Funde ist der sogenannte Mungo Man aus Südostaustralien (40–50 tya), der eine moderne Anatomie und modernes Verhalten (Kremation von Toten, rituale Nutzung vom Ocker) aufweist, aber eine archaische mitochondriale DNA besitzt. Dies hat alte Spekulationen neu belebt, dass auch die sogenannten robusten Australier (Kow Swamp, 9–13 tya) Spuren einer alten Kreuzung mit den indonesischen Populationen von H.erectus tragen könnten. Man muss jedoch zugeben, dass alle australischen Ureinwohner, gegenwärtige und subfossile, „robuste“ und sonstige, auf Basis ihrer mitochondrialen DNA in dieselbe Gruppe gehören, wie die anderen modernen Menschen, und dass gerade die besonders „erectoid“ wirkenden Australier viel jünger sind als der Mungo Man. Außerdem wird die zeitliche Überlappung von H.sapiens und H.erectus auf Java inzwischen stark angezweifelt.
Eine andere merkwürdige Tatsache ist das Auffinden von menschlichen Fossilien mit einer mehr oder weniger „modernen“ Anatomie in China (Lokalität Zhirendong in der Region Guangxi), die einer Zeitperiode um 110 tya zugeordnet werden, also 60000 Jahre bevor unsere Vorfahren aus Afrika eintreffen sollten.
Auch die traditionelle Interpretation von modernen, aber sehr alten (115–135 tya) menschlichen Überresten in Israel (Qafzeh and Skhul) als Hinweis auf einen ersten aber erfolglosen Auswanderungsversuch aus Afrika, wird durch aktuelle Molekulardatierung angezweifelt. Demnach scheinen diese Funde ein Beweis für eine frühe Phase erfolgreicher Migration heutiger Menschen aus Afrika zu sein. Darüber hinaus zeigen neue Funde von einander ähnlichen alten Werkzeugen (leider bisher nicht von Skelettresten) offensichtlich nordafrikanischer Herkunft aus weiten Gebieten des Nahen Ostens (bis nach Jebel Faya in den Vereinigten Arabischen Emiraten), dass sich der Mensch dort schon zu einer Zeit erfolgreich ausgebreitet hatte, als er den vorherrschenden Theorien gemäß noch ausschließlich Afrika hätte bewohnen sollen – allerdings ist die Beziehung dieser Population zur heutigen Menschheit ganz rätselhaft. Und auch das umgekehrte Phänomen gibt es, nämlich dass sich Menschen, die morphologisch eher dem „archaischen“ H.sapiens entsprechen, erstaunlich lange gehalten haben: sie überlebten bis ins Holozän in Afrika (Nigeria: Iwo Eleru, 12 tya), und erstaunlicherweise auch in China („Rotwild-Menschen“ aus den Lokalitäten Longlin und Maludong, 11–14 tya), wo sie vielleicht eine eigenständige, in gewissem Sinne parallele Linie zu den europäischen Neandertalern bildeten.