Читать книгу Die Köchmüller-Papiere - i.A. - H.T.K. - Страница 5
K1 - Fachmann a.D.
ОглавлениеDatum: Montag, 24. Januar.
Wetter: Matschiger, nasskalter Winter-Schmuddel.
Lage: Nördliches Stadtgebiet. Malocherviertel.
Innerstädtische Nebenstraße. Schlaglöcher. Asphalt-Flicken.
Hier: Der Abzweig zur buckeligen Sackgasse.
Links und rechts des Abzweigs: Zwei reichlich übermannshohe, rußrote Ziegelmauern. Vielfach be- und überklebt. Blickschutz, gegen „...die `Einbahnstraße´ der Entbehrlichen...“ Die Gasse: Fast einen halben Kilometer lang, schmal, merklich abschüssig. Die Gasse hinab: Beiderseits 60er-Jahre-Flachdach-Wohnblocks, vier links, vier rechts. Jeder knapp 100 Meter lang, sechs Etagen, fünf Eingänge. Je Eingang zwölf Wohneinheiten. Rötlich-beigefarbene Fassade. Brüchiger Putz. Graffiti-Schmierereien. Unter den Fenstern: Dunkle Streifen aus Staub, Ruß und den Korrosions-Partikeln der metallenen Fensterbänke, das Ergebnis jahrzehntelanger Verwitterung. Zwischen Bröckel-Fassade und Kippel-Bürgersteig: Kaum fünf Meter schmale, räudige Grünstreifen, teils noch bedeckt mit schwarzen Schneefetzen. Zwischen den Bauten: Fleckige winterliche Grasflächen. Darauf überleben verrostete Teppichklopfstangen die nagenden Jahrzehnte, mitten im Matsch großer, kahlgetretener Stellen. In den hintersten Winkeln: Ein wenig Unrat. Nicht so viel, dass es - zur heimeligen Abendbrotzeit - für die Darstellung eines fernsehgerechten Slums ausreicht, aber es ist doch gerade genug, dass das Auge - welches nicht durch Betriebsblindheit abgestumpft - unwillkürlich daran hängen bleibt. Das Ende: Ein großflächiger, dicht zugeparkter Wendekreis. Um den Kreisel: Vier weitere „Karnickelställe“, strahlenförmige Anordnung. Äußerlich in Ausmaß, Machart und Zustand mit den anderen Gebäuden vergleichbar, jedoch als `Kleinwohnungs-Blocks´ ausgelegt, folglich sogar vierundzwanzig Klingelknöpfe pro Eingang. Diese maroden Gemäuer vervollständigen, das Ensemble des Niedergangs. Der Eindruck dieser „…Sackgasse der Gestrandeten…“, wie sie auch genannt wird, vermittelt ein bedrückendes Bild von Armut - auch über die Grenzen der Stadt hinaus. Weggemauerte Armut, die man zwar schamhaft, aber doch allzu offensichtlich, zu verbergen sucht.
Hier unten, ganz unten, direkt an der runden Matsch-Parkfläche, im Block 6, stehen ihm etwas mehr als vierzig Quadratmeter zur Verfügung. Seine „Schlichtwohnung“ befindet sich im obersten Stockwerk dieses abrissbedürftigen Bimsquaders, ohne Balkone und ohne Aufzug. Wohnküche. Schlafzimmer. Minidiele. Winzigbad. Schimmelflecken. Die festverbaute Kompaktküche hat schon viele Vormieter erduldet. Sie offenbart weit mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem abgegriffenen, ehemals weißen Furnier. Der Boden in der Diele und vor dieser Andeutung einer Küchenzeile: Schachbrettmuster, Plastikfliesen, hellgrau-schwarz. Kratzer und Abplatzungen offenbaren dem Betrachter die bald 50jährige Dienstzeit. In Wohn- und Schlafbereich, stets klebriger PVC-Boden, ebenfalls grau. Scheinbar im gleichen Jahrzehnt installiert, wie dieser Anflug von Küche. Das Bad ist, bis auf den Spiegelschrank, noch im verwohnten „Original-Badeofen“-Zustand der beginnenden 1960er. Der Rest: Spärliche Einrichtung, aus einem Gebrauchtmöbelladen. Hier haust er nun seit knapp zwei Kalenderleben. Ein so genannter „Gestattungsvertrag“ bildet die dürftige Rechtsbasis.
Seine beiden Sprösslinge - nach der Scheidung, in ein nobles Internat verpflanzt - verbringen zumeist die Ferien in der Firmenvilla seiner Ex-Frau. Dort umfasst jedes einzelne Kinderzimmer nahezu die Größe seiner jetzigen Wohnung. Die Villa: Seine damalige ruhige Nische des Daseins. Ehedem sowohl von ihm entscheidend mitgestaltet, als Ruhepol und friedliche Wallstatt geplant, als auch nachher – ohne ihn – weiterhin als solche existent und wahrlich zu keiner Zeit geprägt, vom erbittert geführten, steten Kampf der Subalternen; deren Überlebenskampf um Alles und Jedes, jenseits dieser hohen, schützenden Hecke um den übergroßen Garten. Eine gesicherte und zufriedene Existenz, die er sich kaum noch vorstellen kann, nach den zurückliegenden zwei Jahren. Insgesamt sind diese, seine verflossenen Lebensumstände erheblich anders, wesentlich unbeschwerter als das aktuelle Dasein. Doch das ist Vergangenheit! In jenes untergegangene Leben gehört er längst nicht mehr. Dieses „Damals“ – obwohl es anderthalb Jahrzehnte seines Lebens bedeutet und erst vergleichsweise wenige Monate zurückliegt – dieses „Damals“ kommt ihm nun, immer mehr, wie die schnell verblassende Erinnerung eines Traumes vor. Immerhin: Das realexistierende Sorgerecht für Tochter und Sohn liegt bei seiner Ex-Frau. Sie sind bei ihr gut versorgt… – zumindest materiell.
Am eingangs genannten, nebelnassen Winter-Nachmittag steht eine kleine Gäste-Runde um den Tisch der kargen Wohnküche. Im Hintergrund verdudelt ein Radio-Wecker das Musikprogramm des werbebeladenen Regional-Senders. Es wird gekichert, applaudiert, beglückwünscht und Schulter geklopft. Auf einem Tiefkühlkuchen bilden vier Kerzen ein Quadrat, zusätzlich, in dessen Mitte, leuchtet eine Fünfte von halber Länge.
Der Geehrte: Heinrich T. Köchmüller
Physis: eins-fünfundachtzig, schlank, trainiert
Augen: eisblau.
Haare: gelichtet, mittelblond, kurz
Familienstand: seit fast fünf Monaten geschieden, zwei Kinder
Beruf: diplomierter Bankbetriebswirt
Berufsstatus: seit zweieinhalb Jahren nur branchenfremde Jobs
„Ex-Bankbetriebswirt!“ So knapp klärt er sowohl seine aktuelle Situation, als auch seine geänderte Berufsauffassung, seit seinem Jobverlust, unmittelbar zum Beginn der Finanzkrise. Köchmüller versucht die Kerzen auszublasen, doch die Flämmchen tun ihm den Gefallen nicht... – natürlich nicht! Er blickt schief in die Runde: „Tjaaa... nu' ist's geschafft. Jetzt gehöre ich offiziell, arbeitsmarktpolitisch zum unvermittelbaren Alteisen.“ Er schaut wieder auf die weiterhin brennenden Lichter: „Na Klasse! Scheinbar reicht's beim Tattergreis nicht mal mehr, diese Dinger zu löschen!“ Das Geplauder der um ihn Stehenden erstirbt in Peinlichkeit. Eine der Anwesenden, Marianne, seine Wohnungsnachbarin aus Etage fünf, löscht die Scherzartikel mit einer Pinzette: „Nun mach mal nicht unsere gute Stimmung kaputt!“ Köchmüller verstummt, seine Augen folgen den dünnen Rauchfäden über den Kerzen.
Im Vorfeld der Feier steht der Tiefkühl-Kuchen viel zu kurz neben dem Eisschrank, folglich ist er jetzt noch nicht genügend aufgetaut. Nicht das erste Mal. Köchmüller kennt „…eigentlich nur frischgebacken“. Er lächelt verlegen, angesichts des allgemeinen Kaffee-Geschlürfes nach jedem Bissen. Sechs Erwachsene und ein Kleinkind, mampfen tapfer die Eisstücke in der Torte hinunter.
Der gerissene Plauder-Faden über Köchmüllers „…beißend-medienwirksamen Auftritt im `Konsumtempel´…“ wird wieder aufgenommen. Marianne legt, gegen die verständlichen Abwehrbewegungen der Betroffenen, die restlichen Stücke nach. Sie stellt die endlich geleerte Kuchenplatte auf die Arbeitsfläche der knappen Küchenzeile. Ihr Blick fällt auf den graublauen Recycling-Umschlag. Dieser lehnt, hinter den Kochplatten, an der Wand, ist noch verschlossen. Sie ergreift ihn, entziffert das Adressfeld durch das Sichtfenster. Absender ist eine öffentliche Einrichtung. „Mann, von der Arbeitsverwaltungsstelle! Der ist ja schon 'ne Woche alt und du hast ihn nicht mal gelesen!“
Wieder Totenstille. Die Blicke der Anwesenden erfassen Köchmüller. Dieser lehnt sich verärgert zurück: „Ja und? Was soll schon drinstehen? Laut GB-Soz.–leck-mich-mal, laden wir sie zum 3.000sten Motivations-Modul ein. Bitte kommen Sie zu dieser `Maßnahme´, in der vorletzten Woche des Monats, damit wir sie, während des Erfassungszeitraumes, nicht als Arbeitssuchenden in der Statistik erscheinen lassen müssen. Bla, bla, bla… - und wenn Sie nicht freiwillig kommen, nachdem Sie vor ein paar Tagen so einen Aufstand im `Konsumtempel´ gemacht haben, dann kommen wir Sie holen...“ Aus dem Radio scheppert ein Oldie über eine entführte junge Frau: „♫...werden dich nicht finden!...♫“ Köchmüller übertönt die Musik mit Sprechgesang: Ihn würde keiner von denen finden, denn er sei dann, schlicht, nicht hier!
Er schaut sich in der Runde um, blickt Marianne an. Seine Stimme ist reine Resignation: „Du, ich brauch kein `Bewerbungstraining´! Ich brauch 'n richtigen Job! Nix ZBV-Fahrer in dem korrupten Verkehrsladen.“ Seine Augen wandern zu dem Schreiben in ihrer Hand. „Wann soll's denn sein?“ Sie reißt den Umschlag auf, entfaltet die Blätter: „…Kein `Leergang´! Morgen, neun Uhr. Du sollst bei deinem Berater antanzen. Und denk dran: Nimm 'ne Zeitung mit, oder 'n Buch!“
Zu Heinrich T. Köchmüllers Ehrenrettung ist zu erwähnen, dass er sich, seit der Entlassung aus seinem bisherigen Berufsleben, redlich bemüht, wieder Fuß zu fassen. Landesweit bewirbt er sich, nicht nur, bei den verschiedensten Unternehmen des Geldgewerbes und streicht, bei der Gelegenheit, stets seine weit überdurchschnittlichen und ehrbaren Kenntnisse im Finanzmilieu heraus. Nach dem Motto „Zwei Jahre sind schnell vorüber!“ sammeln sich prall gefüllte Aktenordner bei ihm an, fünf mit Kopien der Anschreiben, zwei mit Absagen. Letztlich ist sein, wenige Tage zurückliegender, „Aufstand im Konsumtempel“ nur der situationsbedingte Versuch einer öffentlichkeitswirksamen Selbstverteidigung...
*******
Blasenökonomisches Immobilienkarussell
Köchmüllers Reise in ein neues Leben begann fast zweieinhalb Jahre vor dieser kärglichen Feier. Der Ausgangspunkt lag im Oktober jenes Jahres, in welchem, weltweit, die Banken implodierten. „Ausgerechnet die angeblichen Gold-Hengste aus unseren Investment- und Privatpensions-Abteilungen...!“, ätzte Köchmüller. Die von ihm Gescholtenen sollten den nachfolgenden Personalabbau zumeist unbeschadet überstehen. Sie würden wieder benötigt werden, sobald es erneut losgehen sollte, mit dem Vorlauf der nächsten und der Planung der übernächsten Finanzblasen, wusste Köchmüller: „Und das gewöhnliche Banker-Fußvolk? Wir ungeadelten Grubenarbeiter der verschwitzt kreuchenden, gemeinen Realwirtschaft?“ Seine Frage war rhetorisch, die Antwort erfolgte in Form praktischer Durchführung: Die Unnützen wurden schnellstmöglich vom Joch der Arbeit befreit. Damals eine klare Sache, aus Sicht seines Brötchengebers. Quell dieser Erkenntnis waren die Auswürfe des dreifaltigen Hyper-Computersystems der Finanzindustrie, dieser globusumspannenden, komplex verknüpften Informations-Verarbeitungs-Maschine. Ebenjener verkabelte Finanzfruchtbarkeitsgott spottete in seiner schieren Datenkapazität jedem Vergleich, mit nahezu jeder, in nationalen Kategorien agierenden, Regierung. Und allem voran, waren dessen streng abgeschottete Welt-Analysen stets aktueller, als die Daten-Grundlagen der allzeit unterfinanzierten Beamtenapparate.
Aus Sicht der Geld-Industrie ließ die Weissagung ihrer absolut unfehlbaren Elektronen-Pythia nur eine logische Schlussfolgerung zu: Es war absehbar, dass ein Teil der normalen Klein-Kunden, bis zum nächsten Aufschwung, aus dem Rennen geschieden sein würde. Ihre – bisher - existenzsichernden Jobs würden forciert wegfallen, hernach all ihr bisher Erspartes aufgebraucht sein. Damit würde sich die Kreditwürdigkeit von Otto Normalverbraucher in Luft aufgelöst haben, und folglich auch dessen Privileg, sich als potentielle Profitquelle betrachten zu lassen.
Schulden! – Das war seit Anbeginn des Geldes die Basis, auf der man reichlich - und vor allem: zeitlich unbeschränkt! - Geld verdiente, in Köchmüllers Metier. Dagegen hatte er nicht das Geringste, soweit es Schulden waren, die etwas Produktives bewirkten. Köchmüllers Meinung: Sein ehemaliger Arbeitgeber sollte mittendrin stehen, in den realwirtschaftlichen Finanzströmen und mit Nachdruck der Aufgabe als verantwortungsorientierter, kapitalistischer Koordinierungseinrichtung nachkommen. Als leicht verständliches Beispiel führte er stets Fremdkapital an, das zur Ergänzung der Betriebsmittel diente: Eine neue Werkshalle beispielsweise, ausgestattet mit neuen Maschinen. Doch welcher Kleinbetrieb verfügte über liquide 500.000 Euro, welcher Mittelständler über zehn, zwanzig oder gar fünfzig Millionen? Auch wenn Existenzgründer und „…stinknormale Häusle-Bauer…“ anklopften, dann war für Köchmüller grundsätzlich alles in Ordnung: „…Nicht als wohlhabender Senior sondern als kapitalschwacher Junior gestaltet man seine Zukunft.“
Was er, über die Jahre hinweg, zunehmend verabscheute, gar als gefährlich erachtete, das waren die immer hektischer eingesammelten Gelder, mit denen nur völlig substanzlose finanzökonomische Blasen aufgepumpt wurden. Die Herde der involvierten Kleinsparer fühlte sich, im Nachhinein, als vorsätzlich übertölpelt. Deren Argwohn war, nicht selten, wohlbegründet, jedoch das einseitige Spiel von außen kaum nachweisbar. Intern war nur die Unterschrift des Kunden wichtig. Den Verkauf eines windigen Anlageplans im „Dach-Fonds-Segment“, im „Derivate-Bereich“ herbeizufabulieren, konnte, exorbitante „Gebühren-Einnahmen“ bedeuten – und das jahrelang! Erkannten die, bis dahin, völlig unbedarften Sparer das verschleierte Risiko endlich, liefen sodann, mit rot bedruckten Depotauszügen, an die Tresen der teuer geölten Berater-Schar, dann verwiesen ebendiese – standesbewusst ihre Hände in Unschuld badend - zu allererst auf die klosterähnliche Diskretionspflicht in den heiligen Hallen des Geldes.
Der Grund für die noble Zurückhaltung der Fachleute: Je länger das Spiel lief, desto steiler entwickelten sich, hinter wallenden Wortschleiern verborgen, die Boni. Jedoch, bedeuteten die vorprogrammierten Blasen-Platzer – die bis zum letztmöglichen Zeitpunkt aufgeschobenen Zusammenbrüche im „Spiel“ - für die Allgemeinheit: Maximaler Schaden.
„Altbackener Bank-Beamter“, so wurde er von seinen jüngeren Kollegen aus der Vorsorge- und Invest.-Abteilung immer öfter bezeichnet, weil er „…das Ende jeglicher Fahnenstange…“ erreicht sah, wenn die jungen Geldhengste gegen ihre eigenen Kleinkunden wetteten und sich darüber auch noch, in höhnischster Weise, lustig machten. Das hieß konkret: Kursmanipulierende Gegeninvestitionen zu Gunsten Dritter, also im Auftrag ganz bestimmter, freigiebiger Großinvestoren. „Unser System“, versuchte Köchmüller seine vorgestrig erscheinende Arbeitseinstellung zu verteidigen, „…ist nicht nur auf Betrug und Verarsche aufgebaut. Meine Kunden sind auch nach fünf oder zehn Jahren mit meiner Arbeit zufrieden!“ Nicht selten folgte seinen Feststellungen das verächtliche Gelächter der werten Kollegen. Die $-förmige Blume der Raffsucht in ihren Augen, galt ihnen die asymmetrische Risikoverteilung zwischen Geldpriester und Finanzhaus diesseits versus Dumm-Kunde jenseits des Bankschalters als natürliche Grundlage: „...Fünf Jahre? Da bin ich doch längst nicht mehr hier!“ oder „...bei Ponzi müssen wir uns alle rechtzeitig umorientieren!“
Signore Ponzi, der italo-amerikanische Anlage-Guru der 1920er Jahre. Sein „Geschäftsmodell“: Gesetzesverspottende Giga-Schneeball-Systeme mit Phantasie-Renditen. Köchmüller bekam immer mehr den Eindruck, dass jener, bei seinen jungen Kollegen, zum heimlichen Säulenheiligen aufgestiegen war. Vergleichbares, im Sinne Ponzis, nachzubauen, selbiges, sodann, geschickt und legalisierend zu verschachteln, um es, anschließend, „…um drei Ecken…“, in die Prospekt-Auslagen neben dem Info-Tresen zu integrieren, das schien, fast unübersehbar, zum inoffiziellen, zentralen Lehr-, Prüfungs- und Beförderungsfach geworden zu sein, meinte Köchmüller vermehrt feststellen zu müssen. Den blanken Gegenpol dazu bildete seine überholte Einstellung zur Nachhaltigkeit. Diese realwirtschaftliche Ausrichtung seiner Arbeitsauffassung hatte jedoch, bei genauer Betrachtung, nur ein Ergebnis: Sie ließ ihn in die Nähe der Pole-Position vorrücken, auf der innerbetrieblichen „Abschussliste“.
Im Nachhinein bestritt Köchmüller nicht, dass der allgemeine Personalabbau im analogen Geldgewerbe, auch ohne Finanzkrise, rein auf der Grundlage der technischen Entwicklung, grundsätzlich schlüssig war. Für ihn war augenfällig, dass die Privatkunden-Berater, in dieser zunehmend vernetzten Umfeld-Entwicklung, künftig nicht mehr genug Realkunden-Kontakte haben würden. So musste also rechtzeitig
„...überflüssiger Mitarbeiter-Ballast fachgerecht entsorgt werden...“;
eine wörtlich überlieferte, unverhohlene Feststellung aus der Vorstandsebene, während der alles entscheidenden Bereichsleiter-Sitzung, an der er zufällig teilnehmen durfte.
Heinrich T. Köchmüller, damals Anfang 40, gehörte schon zu den „älteren Herren“. Sein emsiges Tun schlug sich in den Auswertungstabellen und Graphiken seines Arbeitgebers, Jahr für Jahr, als Zahlung eines Gehaltes, knapp im sechsstelligen Bereich plus Lohnnebenkosten nieder, ohne aber – mindestens und jederzeit! - das Vierzigfache einzubringen. Auch aus diesem Grund war er einer der ersten, die auf der Straße standen. Ernsthafte Fehler, gar grobe Fahrlässigkeiten konnten ihm niemals vorgeworfen werden. Jedoch, seine umsichtige Einstellung, seine stete Abwägung auf der Basis „…ist hier eine nachhaltige Win-Win-Situation für uns UND den Kunden?…“, störte schlicht das zur rasanten Exponential-Wirtschaft mutierte Profit-Getriebe im Hause. Dieses „Old-School-Verhalten“ gegenüber den Kunden – von höherer Stelle nie direkt kritisiert – bildete die wahre Begründung für seinen Rauswurf. Er wollte einfach keine Anlagezertifikate verhökern, die auch im Kollegenkreis - freimütig - als höchst windig qualifiziert wurden, und keine Kredite bis zum Geht-Nicht-Mehr aufschwatzen. Vielmehr stand er, bezüglich inhabergeführter Unternehmen, für individuell geschneiderte Vorsorge und solide, weitgehend krisenfeste Finanzierungen. Und für `Familie Jedermann´ fertigte er die nachhaltig bezahlbare Hypothek. Dieses Markenzeichen seiner Berufsauffassung wurde erst zum Spott, dann zum Mühlstein. Die schnell wechselnden Kollegen nannten ihn zeitweise nur „Mister Warentest“, ohne zu ahnen, wie sehr der Spott tatsächlich zutraf.
Zu Beginn seiner Tätigkeit, in diesem Fachbereich, war er natürlich noch reichlich unbedarft. In jener Anfangszeit, als in der Kunden-Beratungs-Kabine noch beiderseits des Schreibtisches „Greenhorn-Tage“ vorherrschten, hatte er vorab nicht exakt geklärt, woher die Exposés für die Objekte der Kunden stammten. Erschwerend kam hinzu, dass viele Köpfe der Kundschaft, wie eh und je, mit selbst zusammengebasteltem Halbwissen verkleistert waren, während ihre Münder mit euphorischen Aussagen über das „...wärmstens empfohlene, günstige Immobilien-Angebot, zur Ergänzung der Altersrente...“, um besicherte Kredite ersuchten. So kam es in jenen Anfangstagen seiner Berufsausübung, auf Kundenseite, zu Missmut und Erstaunen, wenn er vom Kauf abriet: „Aber Ihr Kollege… – in Ihrem eigenen Hause… – der hat uns das Ding doch angeboten!“ „Äh, ja?...“ eierte er damals herum und richtete, unter den zornigen Blicken der Gegenseite, erst jetzt seine Augen auf die allerletzte Seite des Exposés: Tatsächlich!! Zwar war die Zusammenstellung unter dem Signet einer der vielen, verschachtelten Immobilien-Töchter seines Arbeitgebers erfolgt, doch der Stempel, am Ende, stammte ausgerechnet von einem Kollegen aus den benachbarten Büros. Er beschwichtigte geschwind, log über den Vorsatz der Kollegen hinweg, sprach von einem Versehen, von einem Angebot auf der Kalkulationsgrundlage großer Invest.-Projekte. Ein Angebot, dass für einen Privatanleger mit einer oder zwei vermietbaren Einheiten ungeeignet sei.
Seine Halbwahrheit: „…Und deshalb möchte ich Sie auch dringlichst bitten, unter keinen Umständen ein böses Wort über meinen Kollegen zu verlieren. Der Schaden für Ihre Ersparnisse ist doch abgewendet und der Kollege bekommt nur unnötig Ärger. - Sie haben ja mich, als Kontroll-Instanz.“
In den folgenden Jahren machte Köchmüller, ca. ein- bis zweimal pro Monat, für besondere Fälle, Kunden-Termine nach Feierabend. Seine reichlich angewachsene Erfahrung und eine Vielzahl entsprechender Lehrgänge bildeten dafür die wohl-eingeübte, objektivierende Grundlage. Mit dieser Kenntnis nahm er sich die Zeit für diejenigen, die offensichtlich völlig überfordert waren, beim Thema: „Die ersehnte eigene Hütte.“ Dies tat er privat, sowohl ohne Behelligung derjenigen Kollegen, die in den Immobilien verhökernden Töchtern der Bank ihr Unwesen trieben, als auch ohne Information an seinen Chef. So lernte er, im Laufe der Zeit, einen Großteil des Immobilienbestandes der Region kennen. Und doch: Auch nach Jahren zögerte er manchmal, zum Ende dieser informellen Rundgänge, in die Augen der erwartungsvoll blickenden Möchtegern-Investoren zu schauen. Auch wollte ihnen Köchmüller nichts sagen, über die wahren Hintergründe mancher Angebote in den Hochglanzprospekten. Darin wurden: Die Lage schöngeredet, verdeckte Bauschäden übergangen, die tatsächlichen und langfristigen Kosten ausgelassen. Miese Offerten, in viel-etagigen, >blender-sanierten< Wohnmaschinen, an der Peripherie einer x-beliebigen Schlafstadt. Kaum ein Thema war das, im hinreichenden Maße, notwendige Eigenkapital. Dafür wurde, in großsprecherischer Weise, der Begriff „Steuerspar-Modell“ in Zusammenhang gebracht, mit dem vergleichsweise mickrigen Arbeitseinkommen eines doppelverdienenden 47.283-Euro-Facharbeiterhaushalts. Jedoch kein einziges Wort über die faktische Unmöglichkeit einer durchgehend kostendeckenden Einzelbewirtschaftung. Derlei Angebote und deren übertölpelnde Handhabung hatten nur einen simplen Existenzgrund: Wilde Provisions-Gier der kurzlebigen Kollegen, auf der Grundlage zwielichtiger Verbindungen zwischen Verkäufer und Vermittler, unter Inkaufnahme blanker Interessen-Kollisionen. Und das kreditgebende Geldhaus lächelte zu alldem nur milde.
„Alles schmutzige Interna. Nichts für die Ohren der Kunden“, glaubte der fleißige Mitarbeiter Heinrich T. Köchmüller für sich feststellen zu müssen. Obwohl er, in ehrlicher Weise, abriet, vom überhasteten Kauf, so belog auch er, letzten Endes, seine Kundschaft, durch wiederholtes Verschweigen der tatsächlichen Hintergründe. Allerdings tat er es reinen Gewissens und zum Schutze von Tante Friedas Sparstrumpf.
Gern bemühte er immer wieder seinen Lieblingsvergleich: „…Ach wissen Sie, wenn Sie zur Geldanlage eine Wohnung kaufen, dann ist das wie bei einem Bauern, der alle Eier in einen Korb legt und über den Hof in seinen Laden läuft. Was von den Eiern übrig ist, wenn er den glitschigen Kuhfladen auf seinem Weg übersieht, können Sie sich sicherlich ausmalen. Und jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie haben Ihre langersparten Eierchen in diese eine Wohnung gesteckt und stolpern eventuell über die Tatsache, dass Sie das Ding, in dieser ambitionierten Randlage, nicht langfristig und dauerhaft vermieten können, während die Kosten weiterlaufen.“
In manchen Fällen half nur „Gegenfeuer“, um die von Politik und Medien propagierte Panik vor Altersarmut und Inflation in den Griff zu bekommen. Dann malte er ein Bild von Miet-Nomaden, Verwüstungen und den daraus folgenden hohen Sanierungs-Kosten, denen – logischer Konsequenz folgend - keinerlei Einnahmen gegenüberstehen konnten. Er bot, als Alternative, knochen-konservative, breitgestreute und totlangweilige „offene Immobilien-Sparfonds“ an oder Vergleichbares aus den windgeschützten Ecken, die der Geld- und Aktienmarkt, in vielen Varianten, zu bieten hatte. Dankbarkeit der Kunden? Freude über seine Offenheit? Das war direkt nach seinen Ausführungen ehr selten. Im Gegenteil. Der Zorn mancher enttäuschter Immobilien-Stichlinge, die sich, mit ihren geplanten „…75m²-Großinvestitionen…“, wie die Hechte im Karpfenteich wähnten, schlug ihm entgegen. Meistens konnte er nur mit dem Hinweis, „…bedenken Sie, ich mache das hier nach Feierabend, in meiner Freizeit…“, für einsetzendes Nachdenken beim weiblichen Teil der Kunden und somit für Besänftigung der grantig daneben sitzenden „Hecht-Stichlinge“ sorgen. Erst mit einiger Verzögerung, wenn es um die abschließende Bewertung, um die Messung der Kundenzufriedenheit ging, trug sein Engagement, weit sichtbar, leuchtende Früchte.
Besonders heikel war seine Lage bei ein oder zwei Prozent seiner Kunden. In diesen Fällen ging es nicht um simple Wohn-Immobilien, sondern, in bodenloser Blauäugigkeit, um „DAS EIGENE TRAUMSCHLOSS“.
Kamen diese besonders realitätsresistenten Bau-Eltern, zum Gesprächstermin und schleppten ihre Kinder mit, weil angeblich „...die Omi heute beim Friseur ist. Und einer muss ja aufpassen...“ dann war höchste Vorsicht geboten. Diese Gelegenheit wurde dann zumeist genutzt, um zu behaupten, dass die Zwerge „...ganz überraschend...“ etwas gemalt hatten, „...für den lieben Onkel von der Bank...“. Voller Stolz und mit leuchtenden Augen hielten ihm die gedungenen Racker ihre fröhlichen Krakel-Bilder vom künftigen Märchenschloss, unter die Nase. Bis zu dem Punkt spielte Köchmüller das Spiel natürlich mit und pinnte die neuen glubschäugigen Häuschen mit den schiefen Schornsteinen neben die vielen anderen. Bereits dieses Vorgeplänkel warnte ihn: Die suggestiv beeinflussten Bildchen der „Kleinen“ korrelierten nur allzu sehr mit dem Smalltalk der „Großen“. Das naive Vorstellungs-Niveau der „Eltern“ wich nicht allzu sehr von dem der mitgeschleppten „Kinder“ ab. Wurde ihm dann sogar offenbart, dass die Kaufverträge bereits verbindlich unterschrieben waren, ohne vorherige Rücksprache mit der Bank – also, ohne Hypothekenzusage – dann befand sich das reale, zu aufwändig geplante 158Komma73-Quadratmeter-Reihenhaus, nicht selten, mit samt seiner vermeintlich künftigen Bewohner, im freien Fall in den Brunnen des Familien-Bankrotts. Seinem Stirnrunzeln folgten Erwiderungen, die sich stets ähnelten: „...Aber wieso? Wir arbeiten doch beide. Und wenn der Kevin im Kindergarten und die Chantal in der Schule sind, dann kann ich auch wieder ganztags...“ Auch die Vorstellung, dass häufige Überstunden eine nachhaltige und somit anrechenbare, Bemessungsgrundlage für eine Hypothek darstellen konnten, war weiter verbreitet, als sich Köchmüller das jemals, in einem Alptraum, hätte ergruseln können. Ein kleiner Bruchteil dieser „Sonderklientel“ war so beratungsresistent, dass sie ihm ernste Probleme bereiteten. Diese – nach seiner Meinung – „unverbesserlichen Volltrottel“, erkannten nicht, in ihrem Wahn vom (Alp-)Traumhaus oder getrieben von Inflationsangst, dass sie einem Berater gegenübersaßen, der gutwillig handelte. Sie beschwerten sich bei seinem Chef, weil er ihnen keine Hypothek auf ein ausuferndes Wohnprojekt bewilligen wollte, welches – im schlimmsten Fall – wieder einmal von ebendieser Bank angeboten wurde. Köchmüller hatte natürlich Recht und Gesetz auf seiner Seite, wenn er ungerührt den Rüffel vom Bereichsleiter kassierte; diesen, durch knallharte Expansions-Vorgaben geplagten, direkten Vorgesetzten, wiederholt auf „...Gefahr der Überschuldung...“ oder gar auf „...die Grauzone zur strafbewährten vorsätzlichen Überschuldung...“ hinwies. Seine, bei Kollegen und Vorgesetzten, wohlbekannte Einstellung „... Ich bin nicht die Amme meiner Kunden, aber ein Wegweiser, notfalls ein blinkendes Warnschild, an das man sich halten kann oder nicht...“ konnte man ihm nicht, in aller Offenheit, als Geschäftsschädigung vorwerfen. Aber ebendiese, seine strikte „...Ablehnung der überbordenden Umsatzreiterei auf Teufel-komm-raus...“, wie er sie nach Feierabend nannte, war sinngemäß in seiner Personalakte verklausuliert. Er störte schlicht den zentral geschürten Leistungswettbewerb zwischen den Niederlassungen und damit den unausgesprochenen „ROI – Return on Invest“, das >Dreiunddreißig-Ein-Drittel-Prozent-Eigenkapital-Rendite-Ziel< des Gesamtunternehmens.
Ein besonderes, exklusiv von seinem ehemaligen Arbeitgeber durchgerechnetes und aufgebautes, Geschäftsfeld der Abzocke, war das legendäre „Immobilien-Karussell“. Die Finanzierung dieser Aktivitäten stellte einen kleinen Bruchteil jenes Geschäftsbetriebes dar, der direkt neben Köchmüllers steinigem Berufs-Acker abgewickelt wurde. Außerhalb der reinen Investment- und Vorsorge-Geschäfte, seiner Kollegen, war diese Spielart der „Kreislaufwirtschaft“, innerhalb des Doppel-Geschäftsbereichs „Immobilie & KMU“[KMU = Kleine und Mittelständische Unternehmen], ein keiner Teil, und doch der einträglichste und in stabiler Kontinuität laufende Gold-Esel. Aber dieses kleine, hausinterne Spiel war auch das schmutzigste.
Zehn Jahre zuvor hatte Köchmüller seiner Frau einmal das damals neu installierte „Immobilien-Karussell“ erklärt. Die beiden Kinder waren gerade zu Bett gebracht, die Eltern saßen am Küchentisch. Was er ihr erzählte, war damals für beide der klar erkennbare Auswuchs des nun auch in ihrem Lande entfesselten Finanzkapitalismus. Ihr zustimmendes Nicken war ihm zu dem Zeitpunkt noch sicher, als er sagte, dass diese Entwicklung ausgerechnet unter einer Regierung geschah, die sich „…total kackfrech…“ als arbeitnehmernah bezeichnete. Den Ausgangspunkt des `bankeigenen Gewinnspiels´ bildete eine reichlich banale Tatsache, so Köchmüller: “Am ertragreichsten sind Objekte aus Zwangsversteigerungen!“ Zur Durchführung des Spiels bedurfte es zweier Grundvoraussetzungen, die nur eine größere Organisation bieten konnte: Den Part der Zuspieler übernahmen die getarnten, unter den reichlich vorhandenen Tochterunternehmen der Bank. Diese rechtlich weit ausgelagerten Kraken-Arme sorgten, zur vorgegebenen Gewinnziel-Erreichung, für einen steten Strom billigen Nachschubs dieser ausgehämmerten Immobilien. Zweitens war, der aufmerksamkeits- und risiko-dämpfende Effekt des Massenumsatzes wichtig. Dadurch gingen Widerspenstigkeiten der betroffenen Kunden im Rauschen der allgemeinen Betriebsamkeit unter, aber auch anderweitige Störungen im Ablauf und, vor allem, so genannte „Ausfälle“ konnten aufgefangen werden.
„Und glaub' mir“, so Köchmüller, „im Zusammenhang mit diesem Spiel ist mit >Ausfall< keineswegs der Zusammenbruch einer Finanzierung gemeint. – Ganz im Gegenteil...!“
Dieses Spiel zu realisieren, erforderte noch eine weitere, ganz zentrale Kleinigkeit: Die, zwar geschickt getarnte, aber doch systematisch ausgetüftelte Überschuldung dieses vorbestimmten, ehr winzigen Prozentsatzes der Kundschaft.
Köchmüllers Boss: „...Laufkundschaft natürlich. Stammkunden tut man sowas nicht an... – falls die sich wehren können...“
Krankten tonnenschwere Hypothek und schöngerechnete Betriebskosten endlich, nach vier bis sechs Jahren, auf dem überdimensionierten „Traumhaus“, so wurde schnellstmöglich die Zwangsversteigerung auf den Weg gebracht. „Rein zufällig“ wurden die langfristig werthaltigsten Immobilien, soweit möglich, von einer der – bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbeteiligten - Schachtel-Töchter des Kreditinstituts zurückersteigert.
„Im günstigsten Fall,“ so Köchmüller, nachdem er den restlichen Kakao der Kinder getrunken hatte. „Im günstigsten Fall ist der Hammer-Preis so niedrig, dass der Kunde bei uns noch Restschulden hat, also weiter Zinsen zahlt. Derweil ist sein ehemaliger >Lebenstraum mit Gartenzaun<, von unserer verkappten Tochtergesellschaft, bereits wieder, zum wesentlich höheren Marktpreis, dem nächsten Opfer auf den Rücken gepackt worden. Selbstverständlich wieder finanziert vom >freundlichen Partner, bei der Verwirklichung Deines Lebenstraumes< “
Er berichtete ihr, dass er während seiner Ausbildung in Abteilungen gearbeitet hatte, die später aufgespalten wurden. Die herausgelösten Teile waren zum Aufbau des „Spiels“ vorgesehen und wurden zu diesem Zweck rechtlich komplett ausgelagert. Was er nicht erwähnte, war die Tatsache, dass er auch in diesen Abteilungen ein stets gefügiger, wissbegieriger und fleißiger Lehrling und somit Zuarbeiter gewesen war.
Ein paar Jahre später, am sonntäglichen Frühstückstisch: Mittlerweile Bankbetriebswirt mit eigenem Aufgabenbereich. Unter dem Einfluss seines gewachsenen Wissens, sagte er seiner Frau, dass es ihm jedesmal eiskalt den Rücken herunterlaufe, angesichts des „Hütten-Kreislaufs“, der da ganz speziell und exklusiv in seinem Hause entwickelt und betrieben worden war. Dies sei auch der Tatsache geschuldet, so sein Befund, dass dieses „Abzock-System“ so einfach wie gewinnbringend und trotzdem weitestgehend unauffällig sei. „Es gibt natürlich, bezogen auf die einzelnen Objekte, einige Unwägbarkeiten.“ Er räumte gedankenverloren das Geschirr zusammen. „Ein Risiko ist dieser >Ausfall< eines Kunden“, fuhr er fort. Dieser Begriff sei blanker Zynismus, werde er doch genutzt, zur Umschreibung, dass es einem „Karussell-Kunden“ tatsächlich und wider aller Planung gelungen war, unter Aufbietung aller Kräfte, die Hypothek über den Berg zu zerren und ins vertraglich vereinbarte Ziel der Schuldenfreiheit zu bringen. Köchmüller fand das garstige „Spiel“ mindestens fragwürdig, da, ausschließlich zu Lasten der Betroffenen und ab einer bestimmten, kritischen Umsatzmenge, mindesten 100% Gewinn zu erwarten war. „…wohlgemerkt: 100 Prozent bei uns, auf einen Kaptaleinsatz, der ausschließlich im Verantwortungsbereich des Kunden liegt...“
Als Köchmüller nun, zehn Jahre später, nach seinem Ausscheiden aus dem Job, noch einmal das Thema anschnitt, da hatte sich Elkes Einstellung merklich geändert. Sie war nur noch interessiert, am eigentlich simplen Aufbau des hausinternen Hebelproduktes und an der erfreulich hohen Profitabilität, ohne ernstlich zu beachtende Risiken. Seinem Einwurf der billigenden Inkaufnahme von Existenzvernichtung, bis hin zur Obdachlosigkeit, stellte sie nur entgegen: „Welches Problem? Die sind doch alle volljährig.“
Oberflächlich beruhigte sich Köchmüller dadurch, dass zumindest einige Fälle die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit erhielten. Einmal im grellen Rampenlicht der Öffentlichkeit vorgeführt, dauerte das allgemeine Gemunkel über eine abgezockte Familie jedoch kaum länger als das unglaublich kurze Blitzlichtgewitter. Sein Ex-Arbeitgeber nutzte diese Phase, gab sich öffentlich zutiefst zerknirscht „...über so eine Tragödie. Über so eine bedauerliche Ausnahme, die auch einmal vorkommt, wenn sich beim Immobilien-Erwerb unglückliche Umstände verketten. Aber wir helfen in solchen Fällen, ganz unbürokratisch, wo wir nur können...“ Selbstverständlich wurde geholfen...! Wenn es eine ruinierte Familie tatsächlich schaffte, öffentlichkeitswirksam, die Kameras für sich einzuspannen. Die Grundbedingung, der wie auch immer gearteten Hilfe, war eine unterschriebene Verschwiegenheits-Klausel, die vor allem über das „Wie“ dieser Hilfe getroffen wurde. Der zentrale Punkt, aus Sicht der beteiligten Unternehmen: Die Glücklichen waren und blieben nur ein heller Fall pro tausend anderer, die im Dunkeln festsaßen. Die Chef-Etage hatte bereits sehr früh, in Kenntnis von Köchmüllers Charakterstruktur, diesen „…hässlichen Ast…“ aus seinem Verantwortungsbereich herausgeschnitten. Sie wussten: Er fuhr nicht gern „Karussell“ mit seinen Kunden.
Und er selber? Heinrich T. Köchmüller war über diese „…Entscheidung an blö… - äh… höherer Stelle…“ niemals und keineswegs traurig...
In Bezug auf Kundennepp stand Köchmüller, über die Jahre, sogar den medienöffentlichen Vorgängen, in seiner Region, höchst skeptisch gegenüber. Er vermutete imagepolierende Absprachen zwischen so manch einem Investor oder Bauträger und den in kippelig gestalteten Vertragsverhältnissen Beschäftigten, in den Funk- und Printhäusern. Aus seiner Jugendzeit, bei einer Schülerzeitung, leitete er einen Sachzwang ab: Gab es bei den Profis nicht ein symbiotisches `Geben und Nehmen´, unter dem Motto: „Ich habe jeden Tag viel Sendezeit…“ – „…die weißen Seiten meiner Zeitung zu füllen!“ Waren dies nicht die ewig gleichen Klagelieder der verantwortlichen Redakteure, fragte er sich. Auch wehrten sich die Sprecher der betroffenen Interessen-Verbände, in professioneller Rollenausübung:
„Innerhalb unseres erfolgreichen Verbandes gibt es keine Pfuscher. Ob es in unserer Branche überhaupt schwarze Schafe gibt, ist uns nicht bekannt. Selbst knappe Kalkulationen hindern unsere Mitglieder nicht daran, auf der Grundlage der Gesetze, das zu liefern was der Kunde bestellt. Und falls es außerhalb unserer Organisation einen Unredlichen geben sollte, der die Grenzen der Rechtschaffenheit überschreitet, so existieren in unserem Rechtsstaat Behörden und Gerichte, die sich dieses Typen annehmen...“
Aus diesem Spannungsfeld zwischen „Kunde“, „Hersteller“, „Kapitalgeber“ und „Weißen Seiten“ ließe sich sicher eine entsprechende Artikel-Serie krèieren, vollzog Köchmüller die möglichen Gedanken in der Redakteurs-Ebene nach. Natürlich sollte der Inhalt so gestaltet sein, dass die entsprechenden Unternehmen nicht wirklich in die Bredouille kamen. Von dieser informellen „Schutz-vor-Bankrott-Regel“ waren sicherlich jene Unternehmen ausgenommen, deren einziger und ausschließlicher Gründungszweck der Betrug war, vermutete er. Selbstverständlich gab es Ausnahmen von dieser Ausnahme: Branchenunabhängig fand die Justiz keinerlei Zugang zu kriminell organisierten Unternehmen, die aufgrund ihrer schieren wirtschaftlichen Größe „systemrelevant“ erschienen. Unternehmen, die sich somit, „zurecht“, außerhalb der irdischen Gerichtsbarkeit wähnten – zum Beispiel Köchmüllers ehemaliger Arbeitgeber.
Die Rollenverteilung und der Ablauf öffentlich abgewickelter Kulanzverfahren hatten, in Köchmüllers Augen, klare und vor allem finanziell kalkulierbare Spielregeln: Für die „…reumütig…“ auftretenden Unternehmen blieb deren „…kulante Hilfe…“ nur dann kostengünstig, wenn es ein konkret abgrenzbarer Einzelfall war, der keine juristischen Hebel für andere Betroffene darstellen konnte. So hatten, nach seiner Erfahrung, z.B. die Erwerber von Eigentumswohnungen, wegen der Vergleichbarkeit innerhalb des Gebäudes oder Bauabschnittes, stets wesentlich schlechtere Karten, trotz Medienhilfe. War es aber ein - nach Möglichkeit - freistehendes Einfamilienhaus, so konnte man immer auf der Finanz- und Bauträgerseite von einem klar abgrenzbaren „...unglücklichen Einzelfall...“ sprechen. Die Geschäftsführer der angeprangerten Unternehmen gaben sich dann, vor laufender Kamera, zutiefst zerknirscht und „…überwachen selbstverständlich persönlich!!!“ die Reparatur-Arbeiten. Am Ende noch ein aufgeplusterter Präsentkorb für die Ehefrau im zugigen Alptraumhaus und Schluss-Klappe.
Daraufhin konnten dann auch die Medienvertreter im Studio, breitgrinsend, in die Kameras brabbeln, wie toll und hilfreich, gerade in diesem Fall, das eifrige Team aus der überragenden Verbraucher-Sendung gewesen war. „Quote! Quote! Quote!“ so hieß die Leistungs-Karotte für so manch ein „…Kompetenz-Team, das auch nach Jahren und Jahren…“, wie Köchmüller unter zynischem Gelächter feststellen musste, nicht einmal die Begriffe „Besitzer“ und „Eigentümer“ oder „Gewährleistung“ und „Garantie“ korrekt zuordnen konnte.
Das reguläre Geschäft, mit den wenigen hundert Häuslebauern, welches sowohl durch Köchmüllers Hände ging, als auch in seiner direkten Umgebung alljährlich ablief, stellte, in seiner geringen Menge, auch nur einen winzigen Teil des Immobilien-Geschäftes dar, an dem sein Arbeitgeber kräftig mitverdiente. Den Löwenanteil in diesem Geschäftsbereich machten, selbstverständlich, die so genannten „Kooperationspartner“ der Bank. Da ging dann richtig die Post ab. Auf dieser Ebene, die geradezu unter der regierungsamtlichen Überschrift „Altersvorsorge durch Beton-Gold“ auftrat, engagierten sich Köchmüllers Bosse – bis zum lukrativen Seitenwechsel – selbstverständlich nur als ganz seriöse Kapital-Makler. Wer will sich schon die eigenen Finger schmutzig machen?! Dort, in der hochglanzpolierten Ecke, emotionsgeladener Invest.-Produkte, ging es nicht um 500 bis 600 Fälle pro Jahr, also um kaum 250Mio. Euro. Diese Größenordnung erreichte der gemeinschaftliche, regionale Immo.-Umsatz der umliegenden Niederlassungen von Köchmüllers Arbeitgeber. Bei den Kooperationspartnern lag die Latte wesentlich höher. Wohnbauten. Büros. Hallen, grenzüberschreitende Projekte. 1.000 oder gar bis zu 2.000 Einheiten, und das Monat für Monat. Hier galt als einzig achtbare Rechnungseinheit nur noch die Milliarde.
Wenn es um die besonders halbseidenen unter den Kooperationspartnern ging, also um ganz bestimmte, abgebrühte Bauträger, um Anbieter geschlossener Fonds für Immobilien und regenerative Energie oder wenn das Verramschen zentral gelegener Gewerbe-Immobilien zu Lasten des normalen Einzelhandels in den Innenstädten projektiert wurde, dann hielt sich Köchmüller, so weit es irgendwie möglich war, heraus. Er wollte nachts ruhig schlafen, und nicht Albtraumnächtens von den ruinierten Tante Emmas besucht werden, die nach abgearbeiteten Jahrzehnten, im gekündigten Fachgeschäft, den finalen Ausweg in der selbstgeknüpften Schlinge fanden.
Sein Arbeitgeber war natürlich gleichermaßen vorsichtig. Lief irgendetwas schief und war der Faden, möglicherweise, bis ins eigene Kontor zurück zu verfolgen, dann wurden schleunigst alle Geschäftsverbindungen gekappt. Und zwar genau so lange, bis „...dieser besonders kriminelle Investor, der hier in der Region seine schmutzigen Geschäfte abgewickelt hat, aber nie unseren ausgezeichneten Ruf schädigen konnte...“, mit frisch gewaschenem Kragen, unter neuem Namen, wieder am Markt war und wieder half, die hereinströmenden Spargroschen-Millionen in ertragreich erscheinende Hypotheken-Fonds umzuwandeln.
Für die andere Seite, die geprellten Invest.-Kunden, die sich auf – mündliche! - Empfehlung des Geldhauses, vertrauensvoll, an einen solchen Bauträger gewandt hatten, hörte sich das Schreiben der Bank, hinterher, meist sehr vernichtend an:
„...haben wir, aufgrund der Unregelmäßigkeiten, von denen Sie uns berichten, die Finanzierungsfähigkeit von Projekten dieses Unternehmens auf Null gesetzt. Es tut uns sehr leid, dass Ihnen durch mögliche Fahrlässigkeiten Ihres Bauträgers Unannehmlichkeiten entstanden sein könnten. Eine Verantwortung oder Mitverantwortung, für mögliche Baumängel, können wir leider nicht übernehmen, da wir, als reiner Kapital-Makler, auf die Bauausführung, weder direkt noch indirekt, irgendeinen Einfluss hatten…“
Eines hatte Köchmüller auch gelernt: Die übergroße Mehrzahl der meistergeführten Handwerksbetriebe waren von ihm als äußerst seriös und gewissenhaft arbeitend eingestuft worden!!!
Aber mit der kleinen Gruppe der mafiös gestrickten Unternehmen unter den „Grauen Investment-Gesellschaften“, mit samt ihrer zwielichtigen, auf Schwarzarbeit basierenden Entourage, sowie gefälligen Gutachtern, Anwälten und Notaren, aber auch und vor allem, mit diesen hochprofessionellen, gewissenlosen und schönfärberischen Verkaufsprofis war ohne Zweifel - in kürzester Zeit - der größte Reibach zu machen. Die selbstherrliche Chef-Etage, von Köchmüllers ehemaligem Brötchengeber, wähnte sich, ganz selbstverständlich - und, wie konnte es anders sein: zu Recht! - im Besitz eines extra-langen Löffels, für diese Umsatz treibende, trübe Kreditschöpfungssuppe.
Aus eigener Anschauung, bedingt durch den verschwägerten Kontakt zum wohlbetuchten, im Baugewerbe tätigen Schonhoff-Clan, aber auch als Banker mit formal gehobenem Aufgabenbereich, wusste Köchmüller, wie jeder andere, der im Finanzmilieu arbeitete: Wer dieses „Spiel mit der Angst vor der Altersarmut“ im besonders großen Maßstab – also mit tausenden, zehntausenden, oder gar über hunderttausend Kunden – durchführte, galt als „...systemrelevanter Vorzeige-Manager...“ Diese Kaltherzigsten unter den Betrügern und Abzockern wurden von den einschlägigen Klatsch-Medien auch noch als rechtschaffende Leistungsträger gefeiert. Durch seine angeheiratete Unternehmer-Verwandtschaft hatte Köchmüller selbst erlebt, dass man, in dieser Liga, mit den ergaunerten Millionen, sogar politischer Sponsor werden konnte:
Mit Handsalbungen im fünf- bis sechsstelligen Bereich gelang der Zugang zur B-Liga der Ausschuss-Vorsitzenden, vielleicht sogar zu langgedienten Provinz-Platzhirschen.
Waren es jedoch Heil- und Hilfssalben in millionenschweren Gebinden, eventuell gar verbunden mit „…finanz-therapeutischen Ruhestandsposten für Ex-Politiker…“, dann konnten sich die edlen Türen zu den gesetzgebenden Freundeskreisen öffnen, in denen gewisse, empor gekommene, vom eigenen Wahl-Erfolg besoffene Regierungs-Leute verkehrten; auf der Provinzebene, oder sogar auf Staats- und EU-Niveau.
Köchmüller höhnte nach Feierabend, in seiner Auto-Schrauber-Clique, ganz offen. Er bezeichnete manche Promi-Party als Treffen von „…zwielichtigen Finanz-Jongleuren mit `ehrbaren´ Politikern und altbekannten Wirtschaft-Führern samt deren, nicht selten, austauschbar angeheirateten pömpel-lippigen Botox-Nutten...“
Einziger Zweck von derlei Veranstaltung seien Fotos in der klatsch-abhängigen Regenbogenpresse. Diese freundliche Glamour-Erwähnung bedeute schlicht: „Man hat es geschafft, mit der Abzocke!“
Eine besonders probate und willkommene Eintrittskarte, in diesen erlauchten Kreis, war, nach Köchmüllers Meinung, die offensichtliche, aber per Gesetz „…chemisch gereinigte…“ Betrügerei mit privaten Pensionskassen. Die „Aufnahmeprüfung“ bestand, wer Giga-Provisionen durch Vermittlung so genannter `geschlossener Investmentfonds´ generierte, diese bundesweit unter der Weihe-Überschrift „...erweiterte Altersvorsorge...“, letztlich jedoch nur betrugsmotiviert, an Heerscharen argloser Privat-Anleger verhökerte. Dieser „…legal-kriminelle X-1000-Millionen-Umsatz sauber eingefädelt und durchgeführt…“ bedeute gefüllte „…Geldschubkarren im Kreise der Richtigen…“ und somit „…für diese außergewöhnliche Persönlichkeit…“: Zugang zum Promenaden-Deck.
Diese Umverteilung in die Taschen der Wenigen galt, in jenen Kreisen, stets als anerkannte „...Leistung, die sich lohnt!!!“ und wurde zudem zynisch überhäuft, mit Titeln à la „Dr.-hc.“ und Honorar-„Prof.“, sowie Ehren-Preisen und Verdienstorden.
Schmückte, am Ende, gar der Adelstitel „Milliarden-Deal“ die Schlagzeilen, dann hatte man es wirklich geschafft, höhnte Köchmüller. Die damit zumeist verbundene, millionenschwere Steuerhinterziehung sei rechtlich so abgedichtet gewesen, dass es nicht zu juristischen Konsequenzen kommen konnte.
Hilfreich, so Köchmüller, sei allem voran, der „schlanke Staat“. Überlastete Staatsanwaltschaften und Richter ließen die Invest-Piraten, nur allzu gern – durch Verschleppung entsprechender Verfahren – in den ordnungsgemäßen Hafen der Verjährung segeln. Komplexe Fälle würden mit zeitsparenden „Deals“ geregelt, dozierte er. Die Elite kaufe sich, auf der mittelalterlichen Basis des Klassen-Rechts, mittels „Buße-Scherflein“ von Urteil und Gefängnis frei. „Somit stehen den >Unbescholtenen Ordensträgern< die handgeschnitzten Türen in die erlesenen Bereiche weit offen. Dort schütteln sie sich, unter Blitzlichtgewitter, die gegenseitig gewaschenen Hände, die Mitglieder der >achtbaren Leistungselite des Gottes Mammon<.“, legte Köchmüller nach. „Vollends aus der Niederung der `Schnittchen-mit-Cervelat´-Prominenz…“ so seine weiteren Worte, entschwebe und somit Aufnahme in den heiligsten Kreis des „...finanzgesalbten Klerus auf dem Oberdeck...“ finde zumeist nur derjenige, dessen Name auch noch – hinter öffentlich vorgehaltener Hand oder gar ganz offen, in den Medien – mit Selbstmorden unter den Geprellten in Verbindung gebracht werde: „…Dann sind die Abschäumigsten unter diesem Abschaum wahrhaftig ganz oben angekommen! – Und unter sich!“
Bei Gelegenheit, im Kreise seiner Youngtimer-Kumpane, in der, von ihnen gemeinsam, angemieteten Großgarage, auf einer Getränkekiste sitzend, hatte Köchmüller, mit bierseliger Bitterkeit festgestellt, dass die weltweit vorhandenen Grabsteine der Abgezockten und Ausgebeuteten, sowie die machtlose Verzweiflung der Hinterbliebenen - am Rande der medialen Aufmerksamkeit angesiedelt - für den übergesetzlichen Kron-Adel des Geldes, die höchstmögliche aller Auszeichnungen darstelle.
„Wer sich dieser >steinernen Pur-le-Merite-Orden der Habgier< sicher ist und sie mit juristisch blanker Weste vorweisen kann, wird auf den Partys der so genannten >ehrbaren Gesellschaft< in die Loge des engsten Kreises aufgenommen.“, grantelte er. „Diese schlimmsten aller Abzocker dürfen sich dann in die Goldenen Bücher zwischen Husum, Hannover, Hildesheim und Hintertupfingen eintragen, bekommen Orden angehängt und können, anschließend, in trauter Gemeinsamkeit mit Ihresgleichen und natürlich mit systemhörigen Regierungsmitgliedern, sowie mit gefügigen Staatsanwälten aus der weisungsgebundenen Strafjustiz, und ihren gleichgültigen bis karrieresüchtigen Richtern auf den geglückten Coup anstoßen.“
Köchmüller hielt seine Bierflasche grüßend hoch. „Ein Prosit auf das perfekte Verbrechen, inmitten des einäugig gehaltenen Rechtsstaats!“ Zwar verbiss er sich namentliche Nennungen, zur Untermauerung seiner Positionierung zu „…diesen Arschlöchern…“, die auch bei seinem ehemaligen Arbeitgeber ein- und ausgingen. Auch verschwieg er, ihm wohlbekannte, direkte Beziehungen zwischen Abzockern einerseits und, andererseits, ihm persönlich bekannte Vertreter der selbsternannten, hochglanzpolierten Nobel-Journaille.
Yellow-Press-Berichterstatter, die, zu allem Überfluss, die dreisten, nicht selten aus Steuertöpfen finanzierten Jubelfeiern der Lorbeer-überschütteten Abzocker, für das untertänig zuschauende Fußvolk ins rechtschaffende Licht einer so genannten Spenden-Gala rückten.
„Wer spendet hier wem?“, war seine spöttische Frage, wenn er entsprechende Fotos erblickte, „Die Abzocker dem guten Zweck? Oder berappt der Steuerzahler das Doppelte und Dreifache für die Glitzer-Partys am >Loch Neunzehn< und für das Hummer-Wettfressen zu Gunsten der armen Negerkinder??? Ausgerichtet von den - als gemeinnützig deklarierten - Luxus-Vereinen!“
In Wirklichkeit - so seine, auf eigener Anschauung basierende, Feststellung in der geselligen Runde der Auto-Bastler - in Wirklichkeit sei das Erklingen der goldgeränderten Sekt-Gläser nur das unverfängliche Erkennungszeichen, auf dem Promenadendeck des Staatsschiffs, gerichtet an diejenigen, die wahrlich von allem befreit seien. In der Endphase seines Anstellungsverhältnisses, am Tage des Erhalts seines Kündigungsschreibens, im Kreise der Autoschrauber, auf seinen Standpunkt angesprochen, ließ er sich die Klarstellung nicht nehmen:
„Dort oben schmeichelt der Duft von Geld und übergesetzlicher Macht. Dort weht er, der vielzitierte >Wind der Freiheit<. Das von höchster Stelle gelobte Flair der wahren Freiheit der Wenigen. Wohlwollend aufgebaut auf karibischen Postfach-Betrieben, geschützt durch Spezelwirtschaft, wird die Maximierung von Anlagebetrug und Steuerhinterziehung betrieben; bis hin zu Sozialbetrug und Lohnunterschlagung, bei den Wehrlosen, den Eingeschleppten, den scheinselbständigen Schwarzarbeits-Sklaven auf halbstaatlichen PPP-Großbaustellen. Dort, auf dem Oberdeck, das könnt ihr mir glauben, dort herrscht sie generell nicht mehr, die stickige Enge von >Recht und Gesetz< in unserem Sinne. Jenes bleierne Korsett für uns, die wir hier sitzen. Das Stachelhalsband, geschmiedet aus Gesetzesschlüsseln, gilt nur für uns, die gängelungsbedürftigen, subalternen Frauen und Herren Jedermann, ohne goldene Fahrkarte In deren Kreisen zählt nur noch jener Leitsatz, der für diejenigen gilt, die sich als wirkliche Leistungs-Elite wähnen, das so genannte >Zehnte Gebot des Oberdecks<“.
Und wenn dieses „Zehnte Gebot“ einmal nicht anwendbar sei, so zücke man eben hemmungslos, vor Gericht, das Scheckbuch und erkundige sich ungeniert bei Staatsanwaltschaft und Richter nach dem Preisschild, am bequemen Urteil für die Passagiere in der allerersten Ober-Klasse. Köchmüller, in Imitation einer merklich schweren Zunge:
„Sind 100Mio. genug, Herr Richter? Ist ja auch viel Geld, Herr Richter! Für Sie! Und das Fußvolk! Prosit, Herr Richter…! Aber… pschschschttt… mir bleiben ja die restlichen 900Mio., Herr Richter! Pschschttt… Wir sehen uns dann… - morgen… – nach dem Rennen… - auf meiner Yacht, Herr Richter!“
Er habe mehrfach die ungewollte Gelegenheit gehabt, zu sehen, wer in diesem freiheitlichen Ambiente bedenkenlos aufeinandertreffe. Wie man sich ebenso völlig unbefangen mit Despoten unterhielt, die ihr gestohlenes Geld sicher gebunkert hatten, wie mit hochbetagten Alt-Nazis, die auf diesen „Hähnchen-Feder-Partys“ stolz ihre Orden trugen; sowohl das anrüchige Blech aus der Zeit vor, als auch jenes aus der „...hoffentlich nur vorübergehenden, führungslosen Phase nach dem schmachvollen Zusammenbruch...“ „So reden die, wenn sie sich unter Ihresgleichen befinden. Den - zurzeit - anrüchigen Teil der Abzeichen tragen diese Tattergreise zeitweise verdeckt, auf der Innenseite des Jacketts, den anderen stets offen vor der Brust“, fügte er hinzu. „Die Jüngeren, die Gegelten unter den Anwesenden blicken geflissentlich darüber hinweg. Ein nicht unbedeutender Teil schaut gar ehrfürchtig und neidvoll. Aber Widerspruch: Fehlanzeige! - 's Maul aufmachen, Gewissen zeigen ist dort nun wirklich die falsche Stelle. Kostet nur Renommee, Umsatz, Beförderung, Geld.“
Alle, auch die in betrogener Gefügigkeit dienenden Unter-Decks, wüssten in einer ihm unbegreiflichen Selbstverständlichkeit um die „Gesamtkollektion in Blech und Korruption“. Viele der indirekt Geplünderten, viele von denen die ihre Kinder in verfallende Schulen schickten oder sich über gekürzte Zuschüsse für das Stadtbad wunderten oder „sozialverträglichen Massenentlassungen“ zum Opfer gefallen waren, bewunderten ihre eigenen Schlächter und Abzocker auch noch voller Debilität in Unterhaltungs- und Talkshows. Ja, sie applaudierten diesen „Unantastbaren“ auch noch, ob deren „…gewissensfreier, gewindehälsiger System-Flexibilität.“ Köchmüller betonte, dass er auch aufgrund seiner angeheirateten, familiären Bindungen, hinreichende, wenn nicht sogar im Übermaß, Möglichkeiten gehabt hatte, um mit eigenen Augen die widerwärtigen Siegesfeiern dieser Freibeuter zu betrachten.
Egal, ob diese Herrschaften nun irgendwelche akademischen Grade ergaunert, Kleinsparer ruiniert, öffentliche Großbauten zu ihren Gunsten sabotiert, Steuern hinterzogen, Gerichtsurteile erkauft, oder gar Menschen verschachert und Kindersklaven für sich, in Rohstoffminen bis zum Tode hatten rackern lassen. Egal, ob sie ganze Völker mit Waffen versorgt hatten, damit diese sich in unzähligen, angezettelten Bürgerkriegen gegenseitig abschlachten konnten, um letztlich – als das eigentliche Ziel - in aller Seelenruhe, von den Überlebenden, die Bodenschätze stehlen zu können. „Das ist denen völlig egal! Kinder als Minenarbeiter! Völlig egal!“, stellte der Ex-Banker Heinrich T. Köchmüller nach der dritten Flasche Bier, nun mit wahrlich belegter Stimme fest.
„Beim gewissensbefreiten Raffen, ist stets das >Zehnte Gebot des Oberdecks< einzuhalten, um als ein höchst ehrbarer Leistungsträger der all-erhabenen Indemnitäts-Gesellschaft zu gelten...“
Das oberste Gebot... – es umfasste, nach Köchmüllers Meinung, nur vier Worte:
„Lass' – dich – nicht – erwischen!“
Heinrich T. Köchmüller hatte sie einmal notiert; hatte sie aus seiner Sicht zusammengestellt, die
„Zehn Gebote der ehrbaren Leistungsträger“
Jenes Grundgesetz, das jedem Neuankömmling und Bediensteten auf dem Oberdeck, in ungeschriebener Form umgehend verdeutlicht wurde.
Und wehe der oder die Neue hielt sich nicht daran!
Waren diese Regeln doch so einfach zu befolgen:
§I
Du sollst niemals einem and'ren die Hand in wahrer Freundschaft reichen, als jenen, denen es ebenfalls in eitlem Häufen und Haben gelungen ist, das Oberdeck des Staatsschiffs zu erreichen! Hier kennt man einander, hier hilft man einander.
§II
Ehre den Gewinn und die Rendite, damit Du und die Deinen lange leben, auf dem Oberdeck! Doch fürchte, auch Du, die Regel für alle Decks: `Was und wer sich nicht rechnet, muss weg!´
§III
Stets wohlwollend neiget sich Justitias Waage auf uns're Seite. Aus uns'rem Bestand sei ihr auch das Schwert geliehen. So eigne Dir, in ihrem Schutze, an, ohne jede falsche Scham. Dein Wunsch sei Befehl. Gott Mammon ebne Dir dazu den Weg. Entbehrung sei das allzeit gerechte Los der Nied'ren. Auch berappe nur, wenn Dir jeder and're Weg versperrt. All, was dein Begehr – Grundstück, Maschine, Arbeitskraft, Eigentum jeglicher Art – nimm nach Bedarf.Doch nimm nur und ausschließlich von den nied'ren Decks!
§IV
Lass', wer des Oberdecks nicht würdig, durch Dein verbrieftes Recht arbeiten, an sieben Tagen in der Woche, zu jeder Zeit, das ganze Jahr. Nenn' es `Heil'ge Flexibilität´. Und dann Nimm von dem Geschaff'nen! Nimm reichlich!! Nimm Dir Deinen Profit! Und! Deren Lohn!!! Diese Art der Leistung sei Uns ein besond'res Wohlgefallen und soll stets Dir zu edlem Ruhme gereichen!!!!
§V
Die Last der Steuern sei nur geschaffen für die Dummen! Leistungen der Allgemeinheit an Uns, seien reichlich und in edler Weise gewährt. Das garst'ge Wort `Geld´ sei stets verpönt. Vermerk' diese wohlfeilen Mittel stets und getreulich uns'rer erhab'nen Stellung als wohllöbliche `Subvention´. Leistungen, zur Unterstützung der Nied'ren und Bedürftigen, seien stets als `Geld der Steuerzahler´ kompromittiert und aufs schärfste verflucht.
Sie seien fortwährend und mit Vehemenz als Einnahmen aus Leistungslosigkeit gescholten und stets vom Schwefelgeruch der `leistungsfeindlichen Gleichmacherei´ umnebelt!!!
§VI
Verschweige immerdar die Kenntnis über Interna! Eine Befragung hiernach, sei durch Hinweis aufs geringe Gedächtnis abgewehrt. Und sei es, dass die schiere Wahrheit das Licht erblicken möge, so sei Dein allehrbares Zeugnis: Die Lüge! Die Lüge! Die Lüge!
§VII
Treib´ Deine Gegner in endlosen Ruin oder gar Freitod.
Auf dass sie auf ewig ohn' Gefahr seien, sowohl für das Oberdeck, als auch für Deinen Ruhm und Deine Habe.
§VIII
Niemals weiche ab, vom Kurs und der ehernen Haltung des Oberdecks! Ein Verstoß gegen die Regeln sei nicht toleriert! Niemals! Daher bedenke fortwährend: Das Oberdeck ist sich stets gewahr, um Deine „Achilles-Ferse“.
§IX
Wende Dich ab, von jedem der es wagt, gegen diese güld'nen Regeln der ew'gen Macht zu verstoßen! Verfluche jeden, der Zweifel sähet, am System, sowie an Sinn und Erscheinungsbild des Oberdecks.
§X
Lass' Dich Nicht Erwischen!
Blickte man hinab, auf die niederen Ränge, beispielsweise auf Köchmüllers gehobene Fußvolk-Ebene, so wurde offenbar, dass nicht nur er, sondern auch seine ehemaligen Kollegen, sich stets des Folgenden bewusst waren: Gleichgültig, ob man sich als ehrwürdiges Mitglied oder nur als mausgrauer Bediensteter auf dem „Oberdeck des Staatsschiffes“ aufhielt, wer gegen die oben genannten, einfachen Regeln verstieß, offen ein Mitglied der eigenen Kaste anschwärzte, oder, insbesondere, gegen das alles bestimmende „Zehnte Gebot“ handelte, sich also unwiderlegbar inflagranti erwischen ließ, der würde schnellstmöglich über Bord geworfen. Der oder die Verstoßene träfe sodann, binnen kürzester Frist, erneut auf die, zuvor sekttrinkenden, Richter und Staats-Anwälte. - Nun jedoch, für die Gestürzten, aus der unbequemen Position der (fast) Normalsterblichen. Die wenigen endgültig Verlorenen der modernen Aristokratie erwartete, standesgemäß, eine Doppelverurteilung nach dem `Siebten Gebot des Oberdecks´ – „…sicher ist sicher“. Die Hinabgestoßenen trafen nämlich zusätzlich und insbesondere auf die Hofschranzen-Journalisten - diese, grad eben noch „aufstiegsbehilfliche Freunde“, nun zu Kannibalen mutiert – diese diktierten ungerührt, die gesellschaftlich tödlichen Schlagzeilen, während der Verurteilung jener aus dem Olymp Verjagten, wegen Steuerhinterziehung, Drogen-Missbrauchs, Anlage- und Prozess-Betrugs, offener Vetternwirtschaft, korrupter Luxusreisen oder irgendeiner anderen – bisher allseits wohlgeschützten – „Achilles-Ferse“.
Selbstverständlich galten die, aus der obigen Gebote-Liste, abgeleiteten Regeln, in besonderem Maße, für das lebenswichtige Finanzgewerbe und damit auch für Köchmüllers Arbeitgeber und dessen Mitarbeiter. Da ein kleines Rädchen, mit dem Namen Heinrich T. Köchmüller, in diesem Räderwerk, bestehend aus „Wegnehmen und Übertölpeln“, bereits durch das bloße Vorhandensein von so etwas wie Gewissen, Überzeugung und Ehrenhaftigkeit, über die Jahre, immer mehr an diesen Regeln gekratzt hatte, wurde er, bei gutem Gehalt, stets auf Neben-Gleisen gehalten. Eine Karriere als Filial-/Bezirksleiter oder gar Direktor war, mit dieser Grundhaltung, völlig unmöglich, in einem Gewerbe, das, immer sektenähnlicher, an den „…totalen Endsieg…“ der unendlichen Gewinnmaximierung zu glauben hatte.
Ohne die fraglose Durchführung von Anordnungen, auf dem Niveau des Kadaver-Gehorsams, ohne der Huldigung des „Heiligen Ponzi“, ohne diese bedingungslose Grundeinstellung zum Exponential-Prozess, war, im Sprengel seiner Geldbruderschaft, kein Blumentopf zu gewinnen. Offene Häresie gegenüber Gott Mammon - oder sei es nur bloßes, agnostisches Mitläufertum – beides wurde nicht geduldet, in der Welt-Sekte. So bekam Köchmüller, mit Beginn der Finanzkrise, die Rechnung präsentiert:
Bei nächster, sich bietender Gelegenheit, nach fast zwanzig Jahren Unternehmens-Zugehörigkeit, wurde er über Bord geworfen. Aus hochwillkommenen, betriebsbedingten Gründen, sah er sich, fristgemäß, zum 31. März des Folgejahres, vor die Tür gekippt, exakt einen Monat vor seinem Dienstjubiläum.
Mit diesem Ende begann seine Vertreibung und zerbrach sein bisheriges Leben.
In Köchmüllers Ehe kriselte es schon seit geraumer Zeit. Sein Rauswurf, aus der Bank, hatte diese Entwicklung beschleunigt. Die fünfmonatige Kündigungsfrist, zwischen Anfang November und Ende März, verstärkte die bereits zuvor begonnene Drift in verschiedene Richtungen. Seine Frau ging arbeiten, ihren Hobbies und gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, alles, offensichtlich, unbeeindruckt von Köchmüllers Entwicklung. Für ihn, jedoch, war die Situation neu und ungewohnt. Mit der Entgegennahme der Arbeitszeugnisse war er, schlagartig, vom Dienst und somit, das erste Mal in seinem Leben, von jeglicher, von außen, vorgegebener Struktur freigestellt.
Elke, sein ihm angetrautes Weib, eine geborene Schonhoff, arbeitete als Landesbeamtin im höheren Dienst. Sie war die stellvertretende Direktorin des örtlichen Gymnasiums. Ihre nebenberufliche Tätigkeit als Stadträtin, nahm, auch bedingt durch ihre Ambitionen auf die politische Landesebene, einen immer größeren Raum in ihrem Leben ein. Durch ihren wohlhabenden familiären Hintergrund gehörte sie auch den notwendigen Clubs in Stadt und Region an. Sie war knapp fünf Jahre jünger als Köchmüller, trug ihr gelocktes, dunkelbraunes mittellanges Haar offen. Insgesamt würde man, dem ersten Eindruck ihrer Ausstrahlung folgend, ihr die Rolle der umschwärmten Landadeligen, in einem plüschigen Landschaftsdrama, überlassen. Wer, jedoch, die Möglichkeit bekam, sie näher kennenzulernen, der erkannte, sehr schnell, ihre durchsetzungspotente Kinderstube. Sie war, wenn es darauf an kam, ihren Geschwistern ebenbürtig, eine toughe Geschäftsfrau in eigener Sache.
Die Kinder, Michelle, dreizehn Jahre, und Michael, elf Jahre jung, gingen beide in die rund 1.500 Schüler umfassende, altehrwürdige Lehranstalt, deren Vize-Chefin die eigene Mutter war.
Die Familie lebte in einer 420m²-Villa. Zweieinhalb Etagen, umgeben von über 6.500m² Garten. Sie zahlten eine sehr günstige Miete, für die generalsanierte, ehemalige Firmenzentrale. Vermieter war eine der verwinkelten Bau- und Liegenschaftsgesellschaften des Schonhoff-Konzerns.
Das fünfte „Familien-Mitglied“ war Schnuffi, der Golden Retriever. Sein Lebensmotto: >Leckerlis: Ja – Wachhund: Nein.<
In Elkes Verwandtschaft, dem Schonhoff-Clan, spielte, seit sechs, sieben Generationen, Geld wahrlich keine Neben-Rolle. Im Gegensatz dazu: Köchmüllers Elternhaus. Wie Elke heute, so waren seine Eltern, ehedem, ebenfalls Beamte. Doch damit erschöpften sich die gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten auch schon restlos. Es gab und gibt nämlich Beamte und Beamte. In Elkes Stammbaum waren, neben Unternehmer-Persönlichkeiten, diese Art der „edlen Amtsträger“ zur Genüge vertreten: Stabs-Offiziere, Staatssekretäre, Botschafter, Professoren, ein Oberbürgermeister und sogar ein General, etc. Personen, die „...früher oder später aufgehängt wurden, in Essig und Öl, mit Goldrahmen...“ wie Köchmüller Senior über die Familie seiner Schwiegertochter stets zu spotten wusste.
In Köchmüllers Sippschaft waren es Arbeiter, mittlere Angestellte und Staatsdiener; wie sein Onkel, der als Brandinspektor und Wachleiter der örtlichen Berufsfeuerwehr seinen aufreibenden Schicht-Dienst, im Bewusstsein seiner Leistung für die Allgemeinheit, doch nur knapp ein Pensions-Jahr überlebte.
Köchmüllers Vater hatte seinen Dienst als Hauptlokführer geleistet. Voller Stolz verbrachte er, befördert zum Bahnbetriebsinspektor mit Zulage, die letzten fünf Jahre, bis zur Pensionierung, als Lehrlokführer und technischer Prüfer. Mit einem halben Duzend Auszeichnungen und einer besonderen Anerkennung vom Verkehrsminister wurde er schließlich, mit 58 Jahren, in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Zwei Jahre danach war auch er tot. Das entsprach ziemlich genau dem durchschnittlichen Lokführerschicksal, dank der brutal unregelmäßigen Wechselschicht; organisiert nach so genannten Dienstplan-Nummern.
„Plan Sechs“ war der aufreibendste Wechsel-Dienst. „Plan Eins“ der leichteste, für die alten, verschlissenen Hasen. Durch diese Knochenmühle ging er nahezu vier Jahrzehnte.
Wenige Monate nach der Pensionierung des Seniors wurde diese Dienstplan-Ordnung ersatzlos abgeschafft. Die dahinter stehende Forderung: „Jeder soll für sein Geld die volle Leistung erbringen.“ Als der Alte das hörte, wurde er mit einem Male ungewohnt laut: „Diese Privatisierungs-Irren wissen nicht, was sie tun!!! Wenn das umgesetzt wird, brechen die 55Plus zusammen!“ Köchmüller Senior irrte sich und hatte doch Recht: Die „Irren“ wussten genau, was sie taten – und warum. Durch diese Maßnahme stiegen die Personal-Ausfälle im zuvor geplanten Umfang. So konnte auch hier „…überflüssiger, schwächlicher und überalterter Mitarbeiter-Ballast – schnellstmöglich! - sachgerecht entsorgt werden...“ Die Kostensenkung wurde erreicht, indem man das nachrückende Führerstands-Personal nicht mehr auf Meister-Niveau ausbildete und bezahlte. Stattdessen bekamen die „Triebwagen-Fahrer“ nur noch die minimal notwendigen Schulungen und wurden mit Einzelstrecken-Zulassungen ausgestattet. Sie konnten somit, knapp über dem Existenzminimum, als angelernte Hilfsarbeiter eingestuft werden. Auch griff man zunehmend auf kostengünstige Drittanbieter und deren Leih-Lokführer zurück.
Köchmüllers Mutter, war bis zu ihrem vorgezogenen Ruhestand, als leitende Hauptsachbearbeiterin, im städtischen Rechnungsprüfungsamt, tätig. Ihre Personalakte hatte einen überdurchschnittlichen Umfang. Das Füllmaterial dieser Akte bestand vorwiegend aus schriftlichen Ermahnungen, Abmahnungen und aus einem gerichtlich ausgefochtenen Disziplinarverfahren. Derlei Ungemach - immer wieder aus den gleichen niederen Beweggründen gegen sie angestrengt - endete fast immer mit einer Einstellung des Verfahrens. Sie war eine gefürchtete Fachfrau, „Kompetenzüberschreitung“ ihr zweiter Vorname. Dieser war erarbeitet durch die jahrzehntelange, meist erfolgreiche Jagt auf Verschwendung öffentlicher Mittel und Durchstecherei. Schlussakkord war ihre Recherche im Zusammenhang mit der Aufdeckung eines Multi-Millionenschadens, entstanden bei dem städtischen Sanierungspaket „Kommunale Sportstätten und Hallenbäder“. Ihr Einsatz brachte ihr schließlich dieses Disziplinar-Verfahren ein. Das Ergebnis ihrer Arbeit: Die Betrüger und Korrupteure wurden ebenso verurteilt, wie sie selbst! Der Recht-Staat gegen die ehrwürdigen Täter, zwinkernden Auges: „…denkt an Paragraph 10: Passt nächstens besser auf!“ und gegen die kleinen Rädchen: „Was deren Recht ist, muss deren Vorrecht bleiben!!!“ Die Urteile bestanden aus Bewährungsstrafen für die Gangster. Sowie für die Beamtin – ohne Bewährung! – die Degradierung zur Sachbearbeiterin, plus einer fünfjährigen Beförderungssperre. Natürlich meckerte sie lautstark gegen das Urteil. Der Richter reagierte auf ihren Einwurf mit einem Ordnungsgeld und der kalten Feststellung: „Sie haben gegen dienstliche Anweisungen ihrer Vorgesetzten verstoßen. Dadurch haben Sie zwar einen Millionen-Betrug zu Ungunsten der Steuerzahler aufgedeckt, aber es bleibt bei der fortgesetzten Missachtung der eindeutigen Anordnung, die Bearbeitung des Falles einzustellen. Denken Sie künftig daran: >Wer Zivilcourage an den Tag legt, muss auch mit den Folgen leben können...!<“
Dieses Urteil rauschte besonders lautstark durch die Amtsstuben.
Die Staatsdienerin hielt man fortan dauerhaft auf Nebengleisen, beförderte sie jedoch so rechtzeitig erneut zur „Hauptsachbearbeiterin mit Zulage“, dass dieser „Gnadenakt“ pensionswirksam wurde… - für die Mutter des frischgebackenen Schwiegersohns vom Baukonzern. Die komplexen Fälle wurden ihr endgültig vom Schreibtisch genommen, bis zu ihrer – wahrlich allseits ersehnten – vorzeitigen Pensionierung.
Köchmüllers Eheweib, der Studiendirektorin, Elke Schonhoff-Köchmüller, war, aus ihrer unkündbaren Position heraus, völlig unverständlich, dass ihr Mann Schwierigkeiten haben konnte, einen neuen Job bei einem anderen Geldinstitut zu bekommen. Nicht finanziell, sondern atmosphärisch hatte die Tatsache Folgen, dass derjenige ausfiel, der traditionell als „Ernährer der Familie“ galt. Insbesondere in der angeheirateten Großbürgersfamilie stieß Köchmüllers Situation auf keinerlei Verständnis. „Wer arbeiten will und etwas kann, der findet auch gut bezahlte Arbeit – wenn er schon nicht in der Lage ist, etwas Eigenständiges auf die Beine zu stellen.“, so der Boss des Schonhoff-Clans, Elkes Vater.
Der Clan war schon eine Hausnummer, in der Stadt und darüberhinaus. Dass Elke eine Ehe mit diesem Niemand, Heinrich T. Köchmüller, einging, war von den Mitgliedern des Clans nie wirklich akzeptiert worden. Die Beiden begegneten sich erstmals, äußerst flüchtig, in der Schule. Er war damals am Ende der Oberstufe angekommen und nicht nur streitbarer Chef der Schülerzeitung. Sie, vier Jahrgänge dahinter, wollte einen Artikel über die Renovierung des Schulgebäudes in dem Blättchen unterbringen. Nach der Redaktionskonferenz hatte Köchmüller den Text so redigiert, „...dass dieser Werbeblock für den elterlichen Bau-Laden, zu einer vernünftige Reportage über die durchgeführten Instandsetzungen an unserer Schule wird...“ In diesem Sinne brauchte er nicht allzu viel tun. Durch ihn wurden, schlicht, die überzähligen Nennungen des Firmennamens, sowie die umfangreiche Auflistung des eingesetzten und vorhandenen Maschinenparks gestrichen. Abschließend stellte er ein paar Absätze um. Das bedeutete natürlich erheblichen Ärger mit ihr, als sie, in der Folgewoche, ihren „...völlig verstümmelten Mini-Artikel...“ auf der dritten Seite im „Trüffelschwein“ vorfand.
Nach Köchmüllers Abitur hatten sie sich sofort aus den Augen verloren.
Es verging ein knappes Jahrzehnt, bis sie sich wieder begegneten. Der Anlass war die Einweihung der neuen Zentralwache der Feuerwehr, samt dem Gerätehaus des Löschzuges „Abschnitt Süd“. Das Bauunternehmen Schonhoff hatte, als Spende an die Stadt, diesen schmucken Baukörper, bezugsfertig errichtet. Die Kommune musste nur für das moderne Innenleben sorgen. Das Grundstück, für das neue Gebäude, hatte der Bau-Firma gehört und wurde, im Einvernehmen mit dem Stadtparlament, gegen das großzügige, alte Feuerwehrgelände getauscht. Für die Einsatzleitung war nur wichtig, dass der neue Standort, Ausgangs eines Gewerbegebietes, wesentlich verkehrsgünstiger lag, in Bezug auf Wachbereich und Stadtgebiet.
Den Anstoß für das Projekt gab der Stadt-Brandinspektor der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr, Dr. Ing. Joseph von Wälgern; rein zufällig der jüngere Bruder von Elkes Mutter.
Am Standort der ehemaligen Wache, sank durch die Maßnahme, vor allem, die Lärmbelastung der Anwohner ganz erheblich. Und die Schonhoffs waren auch nicht unzufrieden: Nach schnellstmöglichem Abriss, des alten Brandschutzkomplexes, konnte auf diesem, nun verkehrsberuhigten Standort, der somit zur gehobenen Wohnlage emporgestiegen war, ein ganzer Schwung teurer Eigentumswohnungen errichtet werden. Alles in allem, stand am Ende – wieder einmal – ein bescheiden verschwiegenes, siebenstelliges Plus auf der Unternehmens-Seite.
Bei der Einweihung dieser „...großzügigen Spende, an die Vaterstadt...“ wie der Oberbürgermeister betonte, kam es zwischen Köchmüller, damals frischer Brandmeister in der Freiwilligen-Truppe, und der Tochter „…des edlen Spenders…“ zu einer erneuten Begegnung. Er hatte in der Zwischenzeit, parallel zu seinem Wehr-Ersatzdienst bei der Feuerwehr, eine handwerkliche Ausbildung zum Installateur gemacht. Doch statt der geplanten Meisterschule, mit anschließendem FH-Studium, musste er, unmittelbar im Anschluss an seine Lossprechung, wegen der angespannten Arbeitslage, eine weitere Ausbildung absolvieren und wurde „Bankmensch“, also Bankkaufmann; der sich einige Jahre später diplomierter Bankbetriebswirt nennen konnte. Alle Abschlüsse hatte er „... sauber, mit Eins-Komma-Irgendwas hingelegt...“ wie seine Eltern immer voller Stolz Kund taten.
Elke schloss, nach dem Abitur, ein Pädagogik-Studium, mit beeindruckenden Ergebnissen ab, und war nun, direkt nach dem Referendariat, auf der Suche nach einer Anstellung. Wenn man aus dem richtigen Stall kam und so manch einen Oberbürgermeister persönlich kannte, war die Suche natürlich ein höchst kurzfristiges Unterfangen. Und der Schonhoff-Clan kannte in dieser Provinz, und darüberhinaus, scheinbar Gott und die Welt.
Köchmüllers Großvater, Opa Heinz-Willy, kam – Jahre zuvor - aus irgendeinem Grund, im Kreise der Familie, auf die Geschichte der Schonhoffs zu sprechen. Der kleine Köchmüller war damals in der fünften oder sechsten Klasse. Den tiefergehenden Anlass für Opas Bericht konnte er damals nicht nachvollziehen, jedoch erinnerte er sich daran, dass, an jenem späten Abend sein Vater ziemlich wütend vom Dienst kam. Er erzählte, dass irgendetwas mit einer „…altbewährten Schrebergartenanlage…“ geschehen sollte. Das Gespräch war eigentlich nichts für die Ohren von Klein-Heinrich. Man wähnte ihn im Bett, doch er stand an diesem Abend im dunklen Flur, neben der Wohnzimmertür... Aus dem Fernseh-Sessel heraus, stellte Opa Heinrich-Wilhelm Köchmüller fest, dass man gegen die Schrebergarten-Angelegenheit nichts machen könne; allein schon aus dem Grund, weil die Schonhoffs, bereits in der Kaiserzeit, etwas darstellten, „…seit Ewig und drei Tagen mit Geld, mit viel Geld…“, zu ihren Gunsten, Beschlüsse herbeigeführt hatten. Zwar sei, nach den Wirtschaftskrisen, in den 1920ern, auch deren Bar-Vermögen zum Großteil weg gewesen, aber der eilige Wiederaufstieg gelang, im Frühjahr '33, mit den richtigen Beziehungen. Ein Mitglied, aus einem Nebenzweig der Unternehmer-Familie, stand damals, wie Großvater Köchmüller berichtete:
„...als `Alter Kämpfer´ in der Partei-Hierarchie der Hauptstadt verdammt weit oben. Und als es dann ans Rüsten und Bauen ging, konnte man gar nicht so schnell gucken, wie die wieder aus dem Dreck waren. Mit Vitamin-B und zuvor billig arisierten Maschinen. Und das Beste war: Nach dem Krieg, wie das Manna vom Himmel, regneten über deren Köpfe die Persilscheine herab. Sogar der `Alte Kämpfer´ hatte es so gedreht, so gekonnt den naiven, unpolitischen Volltrottel gespielt… – in dem heillosen Hick-Hack zwischen den Zonen der Alliierten… – dass er schließlich nur als eine Art `besserer Mitläufer´ eingestuft wurde...“ Opa schaute sich in der Runde um, versicherte sich der ungeteilten Aufmerksamkeit, übersah willentlich seinen schlecht getarnten Enkel, fuhr fort: „Auf der anderen Seite können wir dankbar sein, dass keiner von uns, irgendwelche Eisenbahn-Weichen für die Viehtransporte in die Todeslager stellen musste. Wenn das befohlen worden wäre, wer weiß... – wahrscheinlich hätten wir es wohl getan. Alltäglich-kleinteiliger Verantwortungs-Nebel macht das Hebelumlegen, im Stellwerk, sogar mitten im industriellen Morden, verdammt abstrakt... – `Ich hab' doch nur…´ - `…es waren doch Anordnungen und Befehle…´ – Tsss, jaja...“ Der Rentner atmete tief durch, blickte in die schweigende Runde: „Na ja… – Auf jeden Fall, als dann die Vernichtungs-Hölle in Europa vorbei war, und, drei Jahre später, die frische Währung kam, dauerte es höchstens fünf Minuten, da schwammen die Schonhoffs schon wieder obenauf. Das war logisch: Die haben zwischen '45 und '48 viel für die Tommys gebaut. Und zwar nach dem Muster: `Zehn Steine für die, ein Stein für uns´. Das `gesicherte´ Baumaterial, sowie massenhaft geklaute Steinkohle haben die gegen Baumaschinen getauscht und schon damals Grundstücke gesammelt, wie Briefmarken. Wer, zu der Zeit, die richtigen Leute schmierte, konnte sich so richtig sanieren. Tja, das hat sich ja bis heute nicht geändert. Das war schon immer so und das bleibt auch immer so: Wer gut schmiert...“ Er prustete abschätzig. „Jaaa, jaaa… – mit dem neuen Geld, quollen die Regale in den Läden schlagartig über. Von wegen Wunder! Die Hersteller und die Groß- und Einzelhändler hatten auf Teufel-komm-raus gehortet. Den Plunder - im Falle der Schonhoffs, hieß dass Stahlträger, Zement und Backsteine - mit dem ollen, kaputten Geld bezahlt und dann, nach der Umstellung, für die neuen kostbaren Scheine verkauft und verbaut… – kalter Kaffee...“ Opa Köchmüller lud gedanklich nach: „Hmm… nuuun… – Ach ja: Die Schonhoffs waren mit ihren, aus den britischen Vorräten `gesicherten´ Baustoffen so richtig dick im Geschäft. Logisch! Kaum einer konnte auf einen kompletten Maschinenpark zugreifen – aber die. Wer zuvor für den `GröFaZ´ Bunker und Kasernen gebaut hatte, der musste nur schauen, dass er rechtzeitig auf seinen Gerätschaften die alten Embleme überpinselte und sie zerlegt, in Schuppen, auf dem Land verteilte und, natürlich, die Bedarfsbögen für Arbeitssklaven, mitsamt den Parteibüchern, im Feuer verschwinden ließ. Und dann ging es los: Wiederaufbau. Mietskasernen. Werkshallen. Reihenhäuser. Bonzen-Villen. Schließlich ganze Straßen, Brücken und Tunnel. Die haben sich übrigens auch so eine schmucke Jugendstil-Villa auf einem schönen großen Grundstück unter den Nagel gerissen. Das Ding haben die… - '49 oder '50, so um die Zeit… - direkt von den Briten erworben, und ihren ersten guten Firmensitz nach dem Krieg draus gemacht. Bis Anfang der 60er ging das wohl, dann sind die ja rausgezogen, aus dem Zentrum, dahin wo die jetzt immer noch sitzen, im riesigen Palais Schonhoff. Sechzehn Hektar Garten und eine Baugenehmigung vom Allerfeinsten. Und direkt nebenan weitere achtundzwanzig Hektar Betriebsgelände. Zusammen ist das exakt soviel, wie die Fläche vom Vatikan. Naja, was wir von alldem heute noch sehen, ist die über einen Dreiviertelkilometer lange, gut drei Meter hohe Hecke. Eine fein säuberlich eingefriedete Straßenfront.“ Der Alte rutschte in seinem Sessel hin und her und sprach weiter: „Ha, was haben wir alle gelacht, als die, Anfang der Fünfziger, draußen vor der Stadt, die ganzen Flächen ackerweise aufgekauft haben. Da war ja nix. Und plötzlich stand auf über 450 Hektar, rund um die Stadt und in den Nachbargemeinden, immer wieder nur ein Name: Schonhoff, Schonhoff, Schonhoff. Knapp 10% der Fläche haben sie für das Palais-Grundstück und ihren Bauhof genutzt, mit dem Rest, über 400 Hektar, später so richtig Kasse gemacht. In anderen Regionen, rund um die großen Städte, sollen es mindestens noch einmal doppelt, wenn nicht gar dreimal so viele Flächen gewesen sein. In Summe an die 1.500 bis 1.800 Hektar. - Das sind achtzehn Millionen Quadratmeter!“ Er ließ die Zahl wirken. „`Was wollen die damit?´, haben wir uns gefragt. `Bauernhöfe aufmachen?´ `Auf den Kuh-Wiesen?´ Aber dann... – Vor zehn Jahren.. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ging es so richtig los, erst mit den vielen Häuschen im Grünen und später mit den Gewerbe-Parks. Fünf bis fünfzig Pfennige haben die Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger für einen Quadratmeter Wiese bezahlt. Jetzt, Ende der 1970er Jahre liegen wir bereits bei 180 Mark. Ihr werdet es sehen: In den 80ern werden die letzten Bau-Grundstücke sicherlich für 300 Mark pro Quadratmeter, oder für noch viel mehr, verkauft. Überlegt mal: 100 Mark mal 10.000m² mal 1.000 Hektar Baugrund, das macht eine Milliarde. - Plus die Gewerbeflächen!!! Und in den Gewerbegebieten hat kein Investor auch nur ein einziges Grundstück bekommen, ohne Bedingungen. Es ging immer nur nach dem Motto: >Ich geb' das Grundstück und du das Gebäude und dann machen wir eine gemeinsame Betreiber-Firma daraus. Diese gemeinsame Firma verpachtet dann an Dich.< Diese Vorgehensweise spart, nicht nur - aber auch und vor allem! - die Grunderwerbs-Steuer. Aus diesen Hunderten von Beteiligungen hat der alte Fuchs... [gemeint war damals Elkes Großvater] ...vor zwei, drei Jahren so 'ne... – wie nennt sich das? - Ach ja, so eine Trust-Holding hat er draus gemacht. Und nun, wenn jemand sein Gewerbeobjekt wieder verkaufen will, dann nur an denjenigen mit Vorkaufsrecht – also, an die Schonhoff-Holding, das heißt: an ihn. Schaut euch doch um! Wie bei Familie König, in London! Dem... - Seinem Trust gehören hier eigentlich ganze Stadtteile, die nach dem Krieg hochgezogen wurden. Kaum einer weiß das. Und so läuft das nicht nur in dieser Stadt... – Fußball-Stadien, Kur-Hotels und so weiter… - Figaro hier, Figaro da. Was ist da schon ein schöner Schrebergarten, der zur Baugrube wird?“ Aus Großvater Köchmüllers Erzählungen konnte man erkennen, dass er, als ehemaliger, stellvertretender Abteilungsleiter im Katasteramt, nicht nur die Struktur „...des Schnittmusterbogens der Stadt...“, im Kopf hatte. Und das auch noch viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst. Darüber hinaus, hatte er sich auch, über den Gartenzaun hinweg, intensiv für etwas interessiert, das in Fachkreisen „Wirtschafts-Geographie“ genannt wurde. Daraus zog er immer wieder seine, weitestgehend zutreffenden, Schlüsse...
Köchmüller Juniors berufliche Kontakte, direkt zum Schonhoff-Clan, tendierten fast gegen Null. Hingegen waren sowohl Auftraggeber als auch Zulieferer des Konzerns regelmäßig in seiner Terminplanung vertreten. In der Zeit, als Elkes Sippschaft ihn als Kontaktmann zur Finanzwelt nutzen wollte, wäre auch wesentlich mehr gegangen, aber die Ansichten bezüglich Geschäftsgebaren waren doch zu verschieden, als dass diese Phase länger hätte dauern können. Insgesamt war die zurückhaltende Zusammenarbeit zwischen Köchmüllers ehemaligem Arbeitgeber und dem Konzern darin begründet, dass der Geldladen nicht zu den Hausbanken der Familie gehörte; obwohl sie natürlich auch in seiner Bank ein Geschäfts-Konto unterhielten. Es war jedoch kaum mehr als ein Proforma-Konto, auf Guthabenbasis. Indirekte Kontakte zur Bank, über Kooperationspartner des Konzerns, waren natürlich unumgänglich und gerne genutzt. Wie Köchmüller bereits vor Jahren herausfand, war das Finanzgebaren des Bau-Unternehmens weitgehend einmalig im Lande. Trotz vieler duzend Millionen des wöchentlichen Umsatzes, den die Schonhoffs über ihre Hausbanken abwickelten, war ihnen kaum mehr als jeweils 25.000 Euro Kontokorrent eingeräumt – der Gegenwert einer besseren Doppelgarage - und auch dieser betriebliche Mikro-Dispo-Rahmen wurde nur sehr selten genutzt. Man weigerte sich schlicht und ergreifend, auch nur zwei Euro Zinsen für Fremdkapital zu bezahlen. War eine Rechnung zu begleichen oder eine Anschaffung zu tätigen, dann erfolgte der Forderungsausgleich immer aus den höchst üppig vorhandenen Guthaben. Stand eine größere Anschaffung an, also ab Asphaltmaschine oder Bagger aufwärts, so wurde, während der regelmäßig durchgeführten „Betrieblichen Sachstands- und Entwicklungs-Konferenz“, in der Familie beraten. Fasste dieses Gremium den Beschluss, die Anschaffung durchzuführen, so wurde „...im Keller der Hausbank der claneigene Geldspeicher geöffnet und eine oder zwei Paletten eigenen Geldes herausgefahren...“, wie Köchmüller mehrfach stichelnd anmerkte. Nahezu niemals wurden Kredite aufgenommen. Das hatte Elkes Urgroßvater, als Erfahrung aus den Krisen der 1920er Jahre, so festgelegt und die Nachfolger hielten sich an diese eherne Regel, als einem unabänderlichen Faktor... Bis, ein kurzes Menschenleben später, die erste ernsthafte Ausnahme von diesem Konzern-Gesetz gemacht wurde: Es ging nicht um die Erhöhung der Kreditrahmen von 25.000 auf 50.000. Nein! Bei den Schonhoffs wurde niemals gekleckert! Aus gegebenem Anlass wollte man mehrere Unternehmens-Anleihen herausgeben. In Summe, umgerechnet, fast 2.200Millionen Euro. Der Auslöser, für diese doppelte Milliarden-Entscheidung, war ein welthistorisches Ereignis - der Zusammenbruch des Sowjetsystems. Die Kreditaufnahme war kein mächtiges Abweichen vom bisherigen, soliden Kurs, sie war eine riesen Revolution. Wochenlange Diskussionen gingen der Entscheidung voraus. Konferenzen auf Konferenzen folgten. Nicht eine Minute ging es um das „Wie“. Der Durchführung stand, aufgrund der Potenz des Unternehmens, nichts im Wege und würde letztlich eine Entscheidung von Spezialisten sein. Es ging schlicht um das „Ob“. Es ging um die Frage, ob man sich „…durch Schulden seiner Freiheit berauben lassen will…“ und „…ob man in die jahrzehntelange Knechtschaft der Zins-Hyänen geraten will…“ Nach einem Vierteljahr war die Entscheidung gefallen. Die Jahrhundertgelegenheit sollte genutzt werden; die Großinvestitionen innerhalb der wiederaufzubauenden Ostgebiete sollten stattfinden. Vor allem im Küstenbereich und in den künftigen Speckgürteln sollten die Gelder Verwendung finden. Der Erwerb der Grundstücke geschah mit eigenen liquiden Mitteln, die Erstellung der ersten Baukörper mit dem Fremdkapital. Die langfristigste Anleihe hatte eine Laufzeit von 22 Jahren, endete also genau zum 125.Jubiläum des Unternehmens. Sie umfasste umgerechnet knapp 410Millionen Euro. Die Ablauffrist dieser Anleihe und das Jubiläum waren auf denselben Tag festgelegt worden. Dieser Tag sollte somit „…zum Tag der Wiedererlangung der Freiheit der Familie von der Schuldknechtschaft…“ gefeiert werden – so zumindest die Planung.
Köchmüllers einzig relevanter, direkter, beruflicher Kontakt zum Dickicht des Unternehmens war ehr zufälliger Natur. Zudem betraf er nicht die allgemein üblichen Vorfinanzierungs-Fragen von irgendwelchen Kunden-Projekten: Der „Konsumtempel“ – die Shopping-Mall der Stadt – war zu diesem Zeitpunkt nahezu eröffnungsreif fertiggestellt und rückte somit auch immer mehr in den Fokus der Berichterstattung. Die Durchführung des, mehrere hundert Millionen umfassenden, Projektes, war in sogenannter Partnerschaft zwischen Privatinvestoren und der öffentlichen Hand organisiert. Der Baukörper, mitsamt seiner dauerhaften, nur unter großem Aufwand zu ändernden, Ausstattung, lag in der Finanzverantwortung der Stadt, beziehungsweise der zu diesem Zweck gegründeten städtischen `Bau- und Schulden-GmbH´. Zur Überraschung des Bankers landete damals ein Antrag, für eine Gewährleistungs- und Vertragserfüllungsbürgschaft, auf seinem Schreibtisch. Dieser Antrag, so stellte er fest, gehörte in den Bereich der Bauausführung, den die Stadt zu verantworten hatte, also zum Baukörper und der damit verbundenen festen Installation. Für die im Gebäude montierten Rolltreppen sollte die fünfjährige Gewährleistung des Herstellers und des Montageunternehmens abgesichert werden, falls jene, im genannten Zeitraum, z.B. durch Insolvenz, vom Markt verschwinden würden. Die in diesem Falle entstehenden Mehrkosten sollte der Bürge tragen, als eine Art Versicherung. In diesem Falle sollte es also Köchmüllers Arbeitgeber sein. Über insgesamt zwölf Jahre sollte ein Wartungsvertrag laufen. Auch diese wiederkehrende Leistungserbringung samt der notwendigen Ersatzteilbevorratung des Erstellers war durch Bürgschaft, gegen die Folgen einer Insolvenz und ähnliche Risiken abzusichern. Für Köchmüller, war, schon allein bezogen auf die Gebäudegröße, die überbordende Anzahl von gut drei Dutzend Rolltreppen, nicht so recht nachvollziehbar. Auch die übermäßige Laufzeitlänge, dieses zweiten Teils der Bürgschaft, war doch sehr außergewöhnlich. Normalerweise wurden die Vertragslänge, und damit der beantragte Bürgschafts-Zeitraum, mit der Garantiezeit synchronisiert, eventuell ein oder zwei Jahre darüberhinaus abgesichert und danach alles neu ausgeschrieben. Mit der Bitte um Bestätigung der Daten, schrieb er den antragstellenden Montagebetrieb an – eine verschachtelte Schonhoff-Tochtergesellschaft. Diese Querverbindung war für ihn jedoch, zum damaligen Zeitpunkt, nicht erkennbar und auf die kurzfristig zu erstellende Beantwortung seiner Fragen wartete er ebenfalls vergebens. Stattdessen wurde, wenig später, der ungewohnte Vorgang, von seinem Tisch genommen. Es war der Bezirksdirektor persönlich, der „...ohne jeden Kommentar...“ die Unterlagen einsammelte. Damit war der Fall für Köchmüller erledigt und schnell vergessen.
Viele Wochen später ergab sich für ihn eine Gelegenheit, während der er sich bei einem Mitglied des kommunalen Bauausschusses erkundigen konnte, ob derartige Vertrags-Laufzeiten im öffentlichen Raum neuerdings üblich waren und ob die angegebene Anzahl der Rolltreppen mittlerweile korrigiert worden sei. Er habe ja nun, nach der feierlichen Eröffnung, die Anlage in Augenschein nehmen können, und nur die Hälfte dieser Menschen-Förderbänder vorgefunden. Bei Gelegenheit, so wurde ihm versprochen, würde die Angelegenheit geprüft. Es wurde ihm auch versprochen, dass er informiert werden würde, sobald es nennenswerte Erkenntnisse geben sollte. All das geschah natürlich nicht. So vergaß Köchmüller den Vorgang wieder; seinen einzigen direkten, jedoch unbewussten, beruflichen Kontakt mit dem Schonhoff-Laden, beziehungsweise einer der vielen x-fach verschachtelten Tochter- und Enkelgesellschaften.
Seine privaten Kontakte, zur Schonhoff-Sippe, beschränkten sich, zunehmend und wohlbegründet, auf das Notwendige. Die Beziehung zwischen der Tochter des Clans und Köchmüller wurde, von Beginn an, vom Clan nicht gerne gesehen. Zunächst stand die Enttäuschung im Raum, dass sie, als jüngster Spross der Familie, sowieso schon „…aus der Art geschlagen…“ war. Ihre Entscheidung, nicht aktiv ins Unternehmen einzusteigen, stieß auf keinerlei Verständnis, da „…hier, im Konzern, so viel zu tun ist, dass jede Hand gebraucht wird…“, so die Feststellung ihrer Mutter. Obendrein würde sie, absehbar, im Rahmen ihres bildungsbezogenen Staatsdienstes, auch nichts mit der Baubranche zu tun haben. Das wurde nach dem Studium zunehmend akzeptiert, befand sie sich doch bereits damals, erkennbar, auf dem Karriere-Weg zur Studiendirektorin, und somit wenigstens „…in leidlich gesicherten Verhältnissen…“ Als, jedoch, in der Zwischenzeit erkennbar wurde, dass der mögliche Ehemann kein Architekt, Bauingenieur oder wenigstens ein bau-naher Handwerksmeister sein würde, da wuchs das Befremden in der Sippschaft, zur geballten Faust in der Tasche. Dass der Erwählte, schließlich und zu allem Überfluss, in Schonhoff Seniors Augen „...eine professionelle Zinshyäne...“ sein würde, da war der Boden für offene Ablehnung bereitet. Später änderte sich die Einstellung, ein wenig, ohne den Graben gegenüber „...dem aus dem raffenden Finanz-Milieu Stammenden...“ wirklich zu überbrücken. Und doch setzte sich Pragmatismus durch; man erkannte und akzeptierte neue Potentiale, im Rahmen der Kundenbindung, und deren Fremdkapitalausstattung, die so ein „…echter Insider des Juden-Gewerbes…“ eröffnen konnte. Köchmüller hatte, der ihm gegenüberstehenden Front, mehrfach zu erklären versucht, dass „…Wirtschaftskrisen, Finanzblasen und Kriege grundsätzlich religionsunabhängig und/oder religionsübergreifend organisiert waren und sind…“ – völlig vergebens. Sogar sein Hinweis, er selber sei kein Jude und trotzdem Banker, erwies sich als Eigentor, da daraufhin, hinter dürftig vorgehaltener Hand, nur abwertend diagnostiziert wurde: „Deshalb bringt der's ja auch zu Nix… - bei denen!“ Er erlaubte sich den fast schon verzweifelten Hinweis, dass niemand, in der Hierarchie-Pyramide über ihm, Gold-, Fein- oder Finkelstein oder ähnlich hieß, und dass die Mehrheit der „Erfolgreichen im Exponentialgewerbe“ vielmehr einer kranken Religion genannt „Charakterlosigkeit unter der Herrschaft von Gott Mammon“ anhing. Seine, auf die gierigen Privat-Anleger bezogene, Gegendiagnose „...pathologische Raffsucht, auf Kosten der Allgemeinheit...“ verkniff er sich wohlweislich, angesichts des massenhaft angehäuften Reichtums im hochherrschaftlichen Ambiente des „Palais Schonhoff“.
Köchmüller musste es hinnehmen, dass, abgesehen von seiner Frau, die ignorante Clan-Einstellung eine Art Tradition bildete. Trotz der Tatsachen, dass zwischen den Krisen der 1920er Jahre und ihrer Hochzeit ganze Generationen lagen; die wahren Ursachen der zurückliegenden politischen Explosionen erforscht und für jedermann offen erkennbar waren, und er die Schonhoffs, zumindest formal, ausschließlich als großbürgerlich, akademisch gebildetes Umfeld identifizierte; so hätte der claneigene Antisemitismus, von ebenjenen, doch als völlig unlogisch erkannt werden müssen. Dieser Erkenntnisfähigkeit standen - scheinbar unverrückbar - die stets präsenten Überlieferungen und die damit verbundenen Verlustängste aus den Krisenjahren der Zwischenkriegszeit im Wege. Aus dieser „Familien-Tradition“ war die Einstellung gegenüber den Banken abzuleiten: „Kontakt – Ja! Aber nur über den gut gesicherten Gartenzaun hinweg. Und nur zu den juristisch abgesicherten Bedingungen des Clans!“ Freiwillig und ohne klar strukturierte Planungen und Hintergedanken ließ man normalerweise keinen Vertreter dieses Berufsstandes aufs Gelände.
Nach der großangelegten Hochzeit - die selbstverständlich im `Palais Schonhoff´ stattfand! - wurde man gegenüber Köchmüller und seinem Arbeitgeber auch sehr schnell sehr deutlich. Der Clan und die Chefetage der Bank wurden sich binnen Kurzem einig, als es um Bauherren-Modelle, Immobilien-Fonds und weitere Arten der Kapitalausstattung von Bauwilligen ging. So dauerte es auch nicht lange, bis Köchmüller zu seinem Chef gerufen wurde, und man ihm überraschend mitteilte, dass „...Ihre geänderten Familienverhältnisse uns die Möglichkeit geben, Ihnen ein adäquates, neues Betätigungsfeld zu übertragen...“ Auch sein Jahressalär stieg durch diesen neuen Aufgabenbereich in erheblichem Maße und ungefragt. Er sollte nun einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf die großvolumige Finanzversorgung geschlossener Fonds im erweiterten Schonhoff-Umfeld setzen, ohne direkt den Konzern zu tangieren. Auch deren Bau-Kundschaft stand nun vermehrt mit Hypotheken-Anträgen auf seinem Dienstplan. Seine geliebten Existenzgründer, die ihm, teils tollpatschig, teils hochfliegend gegenübersaßen, sollten erheblich in den Hintergrund treten. Diese ganzen Änderungen in Köchmüllers Leben, die, zum Wohle der Bank und des Schonhoff-Imperiums, auf ihn niederprasselten, waren Veränderungen in seinem Berufsleben, die ihm nicht recht behagten. Sie entsprachen weder seinem Naturell noch seiner Berufsauffassung. Für irgendwelche aufgemöbelten Schrottimmobilien gab Köchmüller keine Hypotheken heraus, wenn er feststellte, dass eine Kreditierung die Käufer mittel- oder langfristig ruinieren würde. So blieb für ihn weiterhin das einträgliche „Häuserkarussell“ ein ungeliebtes Minenfeld. Diese Grundsatzentscheidung seines Gewissens würde er auch für die teure Sippschaft nicht ändern, stellte er für sich fest. Als er nach einem guten Jahr immer noch nicht begriff, oder begreifen wollte, was man von ihm verlangte, er, stattdessen, weiterhin in naiv wirkender Redlichkeit seine Kunden beriet, da versuchte man es zuerst mit Zureden, dann mit Druck. Als aber sowohl die Bank, als auch der Clan feststellten, dass er für die „...wirklich lukrativen Geschäfte völlig unbrauchbar...“ war, da nahm man ihn, ohne jede falsche Sentimentalität, aus dem Rennen. Ihm zu kündigen, wagte niemand, zu diesem Zeitpunkt, einerseits wegen der – trotz allem - zunehmend einträglichen Geschäfte mit den Schonhoff-Kunden, aber auch, weil er mittlerweile zu viel wusste, von den aktuellen Projekten, die auf Kosten der Innenstädte, sowie zu Lasten der entsprechenden Arbeitsplätze und inhabergeführten Läden gemacht wurden.
So wurde er, ohne Gehaltseinbußen, auf einen „ungefährlichen“ Posten versetzt. Ungefährlich für die Ziele der Bank. Dort durfte er nur noch „Maßgeschneidertes“ für Klein- und Mittelbetriebe und für Häuslebauer anfertigen. Nach Ansicht seiner stets wechselbereiten, aufstrebenden Kollegen, wurde er zum „...Leiter vom Bällebad der Bank...“ hinauf-degradiert. Das war sein Abstellgleis für die folgenden zehn Jahre, bis zu seinem endgültigen Rauswurf.
Fachlich oder bezogen auf sein Verhalten gegenüber der Kundschaft konnte man ihm nichts, absolut nichts vorwerfen. Die Kundenbewertungen über ihn waren im ganzen Unternehmen einzigartig. Hopp oder Topp – dazwischen gab es so gut wie nichts. Entweder „Eins“ oder „Sechs“. Fast 90% der Kunden gaben ihm die sehr gute Note. Nicht selten waren handschriftlich zusätzliche Plus-Punkte vermerkt. Die schlechten Bewertungen kamen von den Immobilien-Stichlingen und dem „hunderttausendsten“ enttäuschten Hausmeister-Service-Möchtegern-Gründer. All diejenigen, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten, weil Köchmüller ein „Abgelehnt“ unter den `Imbiss-Stube-neben-der-Imbiss-Stube´-Kreditantrag schrieb. Die Noten zwei bis fünf tauchten fast nie auf. Durch seine intensive Beratung hatte er viele Unternehmen, die ins Straucheln geraten waren, vor dem Absturz bewahrt. Existenzgründern, die zwar fachlich befähigt, aber doch zögerlich und furchtsam vor ihm saßen, hatte er Mut zugesprochen und Kontakte zu wirklich guten Gründungs-Beratern vermittelt. Kurz, in Punkto Kundenorientierung konnte ihm keiner das Wasser reichen. Was er anpackte, flutschte fast immer komplikationslos. Und diese seine sorglose Sorgfalt, seine honorige Akribie bei Entwicklungs- und Risikoabschätzungen, wurde zwar grundsätzlich anerkannt, war aber, wegen seines gemächlichen Gewinntaktes, sein zentrales Karrierehemmnis.
Auch in seinen Augen war die von ihm verrichtete Arbeit „nur“ normales Alltagsgeschäft. Daher war er sich seiner hervorragenden Service-Fähigkeiten nicht einmal bewusst: „Ich entscheide jeden Tag, auf exakt erarbeiteter Datenbasis, nur nach bestem Wissen und Gewissen. - Mehr nicht.“
Die markante Kehrseite dieser nachhaltigkeitsbasierten Berufsauffassung war, dass er den kurzfristigen, exorbitanten Gewinnerwartungen seines Arbeitgebers niemals und in keiner Weise voll entsprach. „Win-Win-Situation“ wurde nämlich in der Chef-Etage ganz eindeutig definiert: „Den Großteil des Gewinns für die vielfältigen Schachtel-Töchter, damit ebenjener Ertrag, standesgemäß in die Steuerparadiese entfleuchen kann; der zu versteuernde Rest direkt für die Bank.“ Der Normal-Kunde kam, wenn überhaupt, in deren Welt, nur als tumber Lastesel vor.
Weitere Ereignisse und Verhaltensmuster aus der Endphase von Köchmüllers früherem Leben, vertieften den Graben zwischen den beiden Weltverständnissen in zunehmendem Maße. Dass er sich beim Schonhoff-Clan nur noch sehr selten sehen ließ, nachdem er sich als „unbrauchbar“ erwiesen hatte, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Warum auch?! Oder sollte er sich den Spießrutenlauf unnötig antun? Aber auch in seiner Ehe, wurde sein mangelnder Karriere- und Standes-Ehrgeiz mehr und mehr zu einem Hindernis, dass sich bald als unüberbrückbar darzustellen schien.
„…So ein Blödsinn!“, rief seine Angetraute eines Abends. Ende der ersten Januar-Hälfte. Kurz vor der Halbzeit von Köchmüllers fünfmonatiger Kündigungsfrist. Graupelschauer. Windböen ließen die Eiskörnchen immer wieder gegen die Sprossen-Fenster prasseln. Deutlich war der Klang beim Auftreffen der Tiefkühltropfen auf das Fensterbrett, die Holzsprossen oder die Butzen-Scheiben zu unterscheiden. Elke war wenige Minuten zuvor nach Hause gekommen. In letzter Zeit erreichte sie die heimatliche Villa ehr selten vor acht, neun Uhr. Nach dem regulären Unterricht nahm sie regelmäßig an wichtig erscheinenden kommunal- und regional-politischen Konferenzen teil. Sie teilte ihm an diesem Abend mit, dass „...heute Nachmittag, neue Bildungspolitik in Public-Private-Partnership, mit den freien Bildungsunternehmen, auf der Agenda stand. Und das Projekt `Geisenwies-Krankenhaus´, da sind die Vorverträge bis März unterschrieben. Kann übrigens sein, dass der Investor uns nach Malta einlädt, wenn der Deal so weit über die Bühne ist. Die ganze Fraktion...“ Die Kinder waren um diese Zeit, standesgemäß, in ihren Räumen, im Dachgeschoss; hockten noch über ihren Aufgaben oder „...quälten die Computer...“, wie Köchmüller immer spöttisch kommentierte. Während Elke sich mit ihrem Mann, an diesem Abend, unterhielt, hatte sie parallel und in aller Eile, einen Joghurt gegessen, einige E-Mails mit ihrem neuartigen, sündhaft teuren Smartphone beantwortet und war daraufhin, eiligen Schrittes, die Treppe hinauf, in die „Belle-Etage“, Richtung Bad gelaufen. Was sie während ihres Tuns als „Blödsinn“ abqualifiziert hatte, war Köchmüllers Feststellung eines faktisch schrumpfenden Arbeitsmarktes in seinem Metier, sowie sein Bericht über die Absagen, die im Laufe des Tages in seinem Mail-Account und im realen Briefkasten eingetrudelt waren.
Es war wieder so ein Abend, an dem Elke die Villa nur betrat, um sich umzuziehen. Deshalb wurde die müßige Job-Diskussion im Obergeschoss, der „Bell Etage“, durch die fast geschlossene Badezimmertür fortgeführt.
„Wir haben Fachkräfte-Mangel!!“, rief sie, „Lies die Zeitungen oder geh' ins Internet – überall steht, dass die dringend und händeringend Leute suchen. Zeit genug, zum Lesen, hast du ja.“ Das plätschern der Dusche setzte ein. „Ja, sicher.“ Köchmüller hatte sich zwischenzeitlich in die gleiche Etage begeben und in seinem kleinen Arbeitszimmer an den Computer gesetzt. „Die suchen Fachkräfte. Du hast Recht. Pflegehelfer. Leiharbeiter. Für 7Euro35, auf Basis von irgend so einem halblegalen Sklaven-Tarif.“ „Ach Gottchen.“, kam es zurück, „Die Pleite der Lehmänner ist jetzt vier Monate her. Auch im Geld-Gewerbe ist wieder was los. Investment, BRIC-Staaten, Emerging-Markets, Rohstoffknappheit, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Da werden wir mit unserer Partei sowieso den Dampfhahn noch weiter öffnen. – Privat vor Staat – das ist der Weg!!! Als Banker muss man doch nur das viele Kleingeld von den vielen, blinden Kleinanlegern mit ihren gierigen Grabbelfingern einsammeln, in entsprechenden Fonds unterbringen und die Provisionen kassieren. Der Rest ist Sache des Marktes. Das weiß ja sogar ich.“
Köchmüller schüttelte genervt den Kopf: „BRICS-Staaten… - Ja, genau!!! Bandenkriminalität-Raubtierkapitalismus-Investruinen-Corruption-Schulden. Der Handel mit Träumen. Alles nur Schaumschlägerei. Egoismen-Großhandel auf nicht regenerativer Ressourcen-Basis. Im ausgeräumten Bestechungsgeldkoffer liegt nun die Genehmigung, mit dem dicken Bagger durch die Strukturen der kleinen Leute, und die verbliebenen Urwälder walzen zu dürfen. Ergebnis: Kurzfristige Gewinne der Wenigen und Vernichtung für die Vielen. Wart's nur ab: In zehn Jahren kommt das böse Erwachen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Wir züchten uns eine Völkerwanderung. Mein Schwerpunkt bleibt hier, in der Region. Mein Beruf ist die Vergabe von soliden Unternehmerdarlehen, Hypotheken und Krediten. Wenn ein Handwerksmeister investieren will, dann wird die geeignete Finanzierung passgenau konstruiert.“
„Kleinkram!“
„Aber nicht für einen Acht-Leute-Kleinbetrieb. Da kann man nicht eben mal 250.000 Euro oder gar 'ne Million in den Sand setzen. Wenn dann noch, wie es der Teufel so will, genau zum unpassendsten Zeitpunkt, von ein paar Kunden fette Rechnungen verspätet bezahlt werden, oder gar streitig werden, dann ist so ein Betrieb ganz schnell im Eimer. Und als Folge fünf, zehn oder gar 50 Arbeitsplätze futsch – einfach so.“
Das Wasser wurde abgestellt. „Du mit deinem ewigen >alles solide<, >alles mit Hand und Fuß, sonst geht der pleite<. Na und? Dann geht der eben pleite! Dann ist das 100 Quadratmeter Märchenschloss für Familie Jedermann eben unterm Hammer! Das nennt man Eigenverantwortung tragen! Die Leute, die zu dir in die Bank kommen, sind erwachsen. Also kann man von denen erwarten, dass sie wissen, was sie tun. Das sind Kunden, die zu dir in den Laden kommen und Geldgeschäfte machen wollen. Nix, >gute Kunden<. Nix, >die muss man gut beraten, dann kommen die auch wieder<. Hat irgendeiner deiner `guten Kunden´ auch nur ein einziges Mal hier angerufen und gefragt, wie es in deinem nicht vorhandenen, neuen Job geht? Das ist wie beim Metzger oder Bäcker: >Zwei Pfund Gehacktes, 250 Gramm Schinken – aber den im Angebot.< >Vier Brötchen und ein Bauernbrot, aber bitte geschnitten.< >Macht 12Euro80.< – Geld in die Kasse. Der Nächste, bitte! Wenn die Käufer auf die Straße treten, können 50% nicht einmal mit hinreichender Sicherheit bezeugen, ob sie von einem Mann oder einer Frau bedient wurden; geschweige denn, Gesicht oder Haarfarbe beschreiben. Aber die Sonderangebote und Spar-Preise können die runterbeten, wenn du sie nachts um drei weckst.“ Der Föhn wurde eingeschaltet.
„12 Euro und 120.000 oder gar 1,2Millionen sind ein riesen Unterschied.“, rief Köchmüller gegen den Lärm der Windmaschine an. - Keine Antwort. Es dauerte einige Minuten bis der Gebläselärm abgestellt wurde. Köchmüller nutzte die Zeit, um einen Blick in seine Mail-Box zu werfen. Nun versuchte er es noch einmal: „Zwölf Euro oder Eins-Komma-Zwei Millionen, das macht einen riesen Unterschied.“
Es dauerte etwas, bis seine Frau, ins Badetuch eingewickelt, in den Türrahmen des Arbeitszimmers trat: „Ich habe dich bereits beim ersten Mal verstanden. Wollte dir nur Gelegenheit geben, zu erkennen, dass das Unsinn ist. Ob 1.000 oder eine Million Euro, das macht absolut keinen Unterschied, wenn man das Geld dringend benötigt und es nicht hat oder nicht bekommt, beziehungsweise wenn man die Beträge in Form von Schulden hat und sie irgendwann partout nicht zurückzahlen kann.“ Köchmüller legte die Stirn in Falten, sie fuhr unverwandt fort: „Es geht letztlich auf beiden Seiten nur um die Risikoabwägung: Profitgier versus Verlustangst. Der Kapitalgeber fragt sich: Was ist in der Vorstellungswelt des Kunden los? Passt sein Wollen zum finanziellen und persönlichen Können? Der Kreditnehmer fragt sich: Komme ich an die Kohle des anderen? Können sich die Wünsche, Pläne, Projekte in Realitäten wandeln? Und – wem sag ich es: Als Kapitalgeber tritt, primär, deine Ex-Bank auf, als Sachwalter von deren Spar-Kunden, den eigentlichen Investoren. Wenn man den besserverdienenden Otto Normalverbraucher dann mit `Goldenem Lebensabend´ lockt und die mögliche erzielbare, vom Staat künstlich gepäppelte Rendite in den Vordergrund stellt, dann ist der windige Fonds-Sparvertrag über 1.000 Euro pro Monat, mit Laufzeit 30 Jahren unterschrieben und du hast die 3 – 4 – 5 Prozent Provision auf das Gesamtvolumen im Sack. Oder der Kreditvertrag über 500.000 Euro ist unterschrieben, für... - für... – ach, was weiß denn ich, für was man, in so einem Kleinbetrieb, das Geld versenken kann. Was ist in dem Moment für dich wichtig?! Hat er Sicherheiten? Unterschreibt er? Wenn du beides bejahen kannst, dann klingelt es in deiner Kasse und in der deines Arbeitgebers. Wenn der Bittsteller pleite macht, bekommt die Bank auf jeden Fall das Geld aus der Verpfändung von Haus und Hof. Damit ist dein Gehalt gesichert. – Falls du jemals wieder arbeiten solltest.“
Köchmüller schluckte die verbale Spitze, schüttelte ungläubig den Kopf, unter dem Eindruck ihrer Kaltschnäuzigkeit: „Das ist es ja. Dann sind Haus und Hof weg. Und das alles, gegebenenfalls, nur aus provozierter Gier.“
„Falsch!!! Weder Haus noch Hof sind weg! Die gehören dann jemandem, der klar denken kann; zuvor klar plante und sich hinterher sein Eigentum nicht stehlen lässt, wie man einem Dreijährigen sein Förmchen wegnimmt. Das… - genau das nennt man: >Verantwortung tragen!<“ Elke verschwand aus dem Türrahmen, um sich im Schlafzimmer anzuziehen.
Ihr Mann folgte ihr. Er wollte eine Frage stellen, deren Antwort er bereits zu kennen glaubte. Diesmal stand er im Türrahmen: „Willst heute noch einmal weg?“ Sicherlich würde sie wieder bis in die späte Nacht mit ihren Parteifreunden über der Strategie der künftigen Landtagswahl brüten. Sie war sich sicher, dass sie sich diesmal durch ihre Partei-Arbeit einen guten Platz auf der Landesliste würde erkämpfen können. Der Posten einer parlamentarischen, später gar beamteten Staatssekretärin im Bildungsministerium stand sogar ernsthaft im Bereich des Möglichen. Das bedeutete jetzt und künftig viel Abwesenheit von Zuhause. Mit dieser Situation hatten sich sowohl Köchmüller, als auch die Kinder bereits abgefunden.
„Klar muss ich noch einmal los! In gut einem Jahr ist Wahl. Jetzt muss man sich positionieren, wenn man weiterkommen will.“ Sie kleidete sich an, lief an Köchmüller vorbei ins Bad, putzte ihre Zähne, gurgelte mit Mundwasser, zischte unmittelbar darauf erneut an ihrem Mann vorbei, zurück ins Schlafzimmer, um am Frisiertisch ihrer Ausstrahlung mit etwas Farbe nachzuhelfen, und sowohl Ohrklipps und Kette, als auch die Armbanduhr anzulegen. Da stand sie nun, zog abschließend das Jackett des schwarzen Hosenanzugs über, betrachtete sich im Spiegel des Kleiderschranks und griff schließlich zu Wintermantel und Aktenkoffer. Während sie erneut an Köchmüller vorbeieilte, informierte sie ihren Mann: „Es wird wohl spät. Warte nicht auf mich.“ Neben der geschwungenen Eichentreppe stieg sie in ihre Schuhe und begab sich ins Erdgeschoß. Von unten herauf hörte Köchmüller, der noch immer in Richtung Treppe starrte, das Klappern der Auto- und Haustürschlüssel. Dann fiel die Tür ins Schloss.
„Ihr“, murmelte Köchmüller, „kommt nächstes Jahr nicht mal mehr über die Fünf-Prozent-Hürde.“
Im Dachgeschoss über Köchmüllers Kopf wurde eine Tür geöffnet. Michelles Gesicht erschien in seinem Blickfeld. „Ist sie schon wieder weg?“ Er schaute die Treppe hinauf. Seine Tochter hatte ein Schulheft und Blätter in den Händen. „Gibt es irgendwas Besonderes?“ „Wie kommst du darauf?“ Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn.
„Na, ohne Begründung bist du doch eh kaum von deinem Elektronik-Schrott loszueisen.“ „Ich raff das mit den Mathe-Aufgaben nicht. Und morgen will der Blödkopp die Hausaufgaben einsammeln.“ „Aaah ja.“ er grinste provokativ, „Es ist gleich halb Acht und da ist dir geeeeraaaaade jetzt, in diiiiesem Augenblick eingefallen, dass du morgen Mathe hast – bei dem äh... Blödkopp?!“
„Jiaahaa! Und ich raff das nicht!!!“
Köchmüller schlug seine Hand demonstrativ vor die Stirn: „Ahhh. Jiaahaa. Als hät' ich es doch geahnt. Ich hole 'ne Flasche Wasser, Gläser, 'ne Tasse Kaffee, Schmierpapier… und äh… … soll ich noch 'ne Peitsche mitnehmen?“
„Mensch, Papa, das ist gar nicht komisch!“
Sein Lachen hörte sich ehr wie das Meckern einer Ziege an. „Find ich woohool komischsch!“ imitierte er seine Tochter, „Ach... - und schalt' schon mal Computer und Handy ab!“
„Mensch!!“
„Nu mach!“ Köchmüller richtete sich auf zwei Stunden Gezeter ein, wegen ein wenig Trigonometrie, Binomen, Algebra oder ähnlicher Kleinigkeiten...
Einige Wochen später konnte er sich nicht darum herumdrücken: Er hatte seine Frau zur offiziellen Karneval-Veranstaltung ihrer Partei in die Landeshauptstadt zu begleiten. Wieder einmal, so wie jedes Jahr...
Im Frühling des Vorjahres, ein, zwei Wochen nach Aschermittwoch, streiften er und seine Kameraden im Youngtimer Club das Thema kurz. Es war schon zu vorgerückter Stunde. Köchmüller unterstrich seine Sicht, auf den Unterschied, zwischen „…Grill-Fest und Schicki-Micki…“ und betonte, dass Straßenkarneval ausschließlich und aus gutem Grund dem Fußvolk zustehe: „Wenn ich mir diese penetrant aufgesetzt-fröhliche Partei-Show angucke, die die Provinz-Weltenlenker jedesmal abziehen.“ Er zitierte das Begrüßungsgeheuchel in freier Interpretation:
„…>Ach, Frau Direktor Soundso, es ist so schön Sie hier zu sehen und nicht unter dem Tisch vom Vorstands-Chef!< - >Oh Herr Doktor Tralala, was macht Ihr Giftmüllskandal? Ich bin ja so froh, sie hier anzutreffen und nicht im Knast. Haben Sie die zur Geldbuße verstümmelte Haftstrafe dem Richter mit Kokain oder Schwarzgeld abgekauft?< - >Ja, der Herr Bischoff! Sie sind allein hier? Hat Ihre vierzehnjährige Begleiterin heute Stubenarrest?< - Nää, näää, hört auf! Ich geh' da ja nur hin, meinem Weibe zu liebe. Nää! Das ist was für Leut', die Vater und Mutter erschlagen und deren Organe verhökert haben.“
Köchmüller war der Kassenwart des Clubs. Er ertrug geduldig den milden Spott und das Gelächter seiner Kameraden: „So ist das eben, wenn Mister Superlegal in den Koben der Superreichen springt!“ - „Der einzige Mensch auf der Welt, der unter 'ner Schubkarre voller fetter Kohle leidet. Unser Köchi ist schon S-E-L - Sonderklasse!“
Lachend erhob nun der Clubvorsitzende seine Stimme: „Wem würdet ihr einen Koffer mit einer Million zur Aufbewahrung überlassen – ohne Quittung?“
Ein allgemeines „Na, wem schon?!“ folgte. Sie blickten auf ihren Kassenwart: „Natürlich unserem Köchi!“ „Immer alles legal, immer alles korrekt!“ „Immer alles beim TÜV eingetragen!!!“ Einhelliges Gelächter.
Köchmüller machte gute Mine zum Ulk auf seine Kosten. In fröhlicher Atmosphäre klackerten Bierflaschen aneinander...
Diesmal fand der Maskenball nicht in der Landesparteizentrale statt. Für den Abend hatte man das riesige Foyer einer Mediziner-Vereinigung angemietet. In der großen Marmorhalle drängten sich – gefühlt – 600 bis 700 Gäste auf drei Ebenen. Der Empfangsbereich war zum Buffet umgebaut worden. Dieses Jahr begleitete er seine Frau – demonstrativ - in einer Panzerknacker-Verkleidung zu dem ermüdenden Event. Er wurde einigen Personen vorgestellt, die er angeblich bereits im Vorjahr kennenlernen – „…dürfen musste“. Mit diesen verwickelte sich seine Frau schnell in Gespräche. Bereits nach zwanzig Minuten blickte er das erste Mal, unwillkürlich auf die Uhr. Unbemerkt entfernte sich Köchmüller von dem Grüppchen und schlenderte durch den Saal. Die Außenfenster waren blickdicht abgeschirmt. An den Stehtischen: Smalltalk. Einigen dieser Möbel waren Bar-Hocker beigestellt worden, für die Grazien. Ein Tribut an enge, untragbare, dafür superteure Designer-Pumps, samt der dazugehörigen Hühneraugen, vermutete er, fast schon gehässig. Auf der kleinen Tanzfläche wurden tatsächlich einige Paare in Bewegung gehalten; eine Sieben-Mann-Kapelle verströmte ihre „…dezenten Fahrstuhl-Musik auf gehobenem Panflöten-Niveau.“ In den hintersten Winkel der Halle hatte man die Sitzgruppen zusammengeschoben. Ein Rudel blasierter Jungmanager nutze die Möbel, hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, die Masken fallen lassen. Sie saßen wichtigtuerisch um die Couch-Tischchen. Smartphones und Tablett-Computer wurden fleißig bedient; scheinbare Konzentration auf unaufschiebbare Net-Konferenzen. Über diesen absonderlichen elektronischen Wisch-, Tipp- und Streichelzoo, der sich in diesem Bereich des Foyers bot, musste der gelangweilte Herr im Bankräuberkostüm nun doch herzlich schmunzeln: Alle, aber auch wirklich alle, in diesem Kunstleder-Ensemble, strichen mit ihren Fingern über die kleinen Bildschirme, tippten darauf herum oder hielten sich ihre Minicomputer ans Ohr, beziehungsweise hatten einen Knopf in selbigem. „Wir sind Borg! Widerstand ist zwecklos!“, grüßte Köchmüller mit erhobenem Glas in Richtung der verständnislosen Gesichter. Die künftigen `Chefs der Welt´ taten zumindest ihr Desinteresse bezüglich der Feier offen kund. Er blickte sich weiter um.
Eigentlich sollte er sich, als Bankbetriebswirt wohlfühlen, auf dieser Art Treffen der Bedeutsamen und der bedeutsam Tuenden. Doch die, nicht selten, aufgesetzte Freundlichkeits-Heuchelei, war für Köchmüller nahezu mit Händen zu greifen: „...Oh, Seuche! Typisch schleimige Bussi-Bussi-Gesellschaft.“ Er ließ sich weiter durch das Gewimmel treiben: Kammer-Präsidenten, Ärzteverbands-Chefitäten, Vertreter der Arbeitgeber-Vereine und sogar ein „echter Minister“. Allesamt in mehr oder weniger notdürftig, ungelenker geradezu hingepfuschter Verkleidung oder im Mietkostüm.
Und nun?... - „Oh Gott, nee…“, dachte er, als ihn ausgerechnet Landes-Wirtschaftsminister Dümpelfeldt am Ärmel zupfte und ihn „…leider…“ zu sich, an seinen umlagerten Stehtisch, zog. Die gesamte Runde, gut ein Duzend Maskierte, war schon etwas angeheitert. Teilweise sehr-spät-pubertäres Gekicher, schwebte über dem Trupp, dominiert von dieser massigen Eins-Neunzig-Halbglatze.
„Ihre Frau kniet sich ja kräftig rein.“, eröffnete der Würdenträger.
„Äh… - wie bitte?“ Köchmüller hatte den Minister tatsächlich nicht verstanden, hielt sich, ungewollt, die Hand ans Ohr.
„Ihre Frau hat mir gesagt, dass sie der Panzerknacker sind, Herr Köchmüller.“
„Ja, ja, ich bin's...“ Ein erzwungenes Grinsen leuchtete unterhalb seiner Augenmaske.
„Ihre Frau hat ja kräftig mitgewirkt und dafür gesorgt, dass dieses Fest, hier stattfinden kann, in diesem äußerst gelungenen Rahmen.“
„Ja sicher. Sie ist immer da, wenn die Partei sie braucht. Schließlich will sie ihren Verein demnächst im Landtag verstärken. >Ihren< klein und groß geschrieben. Sie sind doch hoffentlich auch eingetragenes Mitglied der Truppe, Herr Dümpelfeldt?!“
„Das sollte ich ja wohl, als politischer Amtsträger.“ Der Angesprochene lachte kurz, betrachtete Köchmüller intensiv prüfend, versuchte geradezu die Verkleidung zu durchdringen. „Aber, Sie habe ich noch nie auf einer regulären Parteiveranstaltung gesehen.“
Köchmüller lüftete seine Perücke einige Millimeter: „Ich erschein' stets unerwartet, dafür meist inkognito.“
Ohne darauf einzugehen, kam Dümpelfeldt zur Sache: „Mir wurde zugetragen, dass Sie ehr gemeinwirtschaftlichen Zielen zugetan sind. Das ist doch eine Mär, oder? Sie sind doch Mitglied, in den richtigen Vereinigungen?“
„Selbstverständlich.“, Köchmüller spielte den Naiven, „Seit bald 30 Jahren – ganz freiwillig – bei der Freiwilligen Feuerwehr.“ Das Lachen der Umstehenden konnte bedenkenlos der Kategorie „gequält“ zugeordnet werden. „Nun ja“, legte er nach, „vergleichbar mit Ihnen ist das natürlich nicht. Mein Verbleib hängt ausschließlich von mir ab. Während Ihre Verlängerung im Amt und die gewünschte Verstärkung durch meine Frau, einzig vom Wähler entschieden wird.“ Sein Seitenhieb verfehlte komplett die gewünschte Wirkung – zumindest nach außen hin, denn der Ober-Beamte lachte darüber hinweg und tauschte geschickt, auf einem vorbeigetragenen Tablett, das leere Sektglas gegen ein neues aus. Er leerte den Kelch zur Hälfte: „Als wenn der Wähler was zu entscheiden hat.“ Der Minister fragte den Bankräuber, was dieser wohl vermute, bezüglich des Durchschnittsbürgers: Ob das „…Stimmvieh…“ auch nur ansatzweise etwas von den Verästelungen des politischen Gewerbes verstehe oder Interesse an Informationen über die tatsächlichen Aufgaben eines Ressort-Leiters habe. Köchmüller holte tief Luft, beschrieb, in demonstrativ schulbuchmäßiger Betonung, die Aufgabenstellung eines Ministers. Sprach von Bindeglied zwischen Legislative und Exekutive und von fachlicher Unterstützung des Parlaments, bei der Entscheidungsfindung, sowie von der nachfolgenden Verpflichtung zur Umsetzung der Parlamentsbeschlüsse und endete mit der Feststellung: „…Aber, das weiß letztlich jedes Schulkind.“
„Pah! Haben Sie eine Ahnung!“ der Politbonze schüttelte den Kopf. „Gehen Sie raus! Gehen Sie in eine x-beliebige Fußgängerzone! Stellen Sie den Passanten ganz ernsthaft die Frage, nach dem Inhalt meiner Arbeit. Was ernten Sie? Ich sag's Ihnen: Zu 85 Prozent Schulterzucken, der Rest ist blanker Blödsinn.“ Köchmüller blickte in die Runde der phantasielos Maskierten: „Ich glaub', Sie haben eine etwas zu negative Grundeinstellung gegenüber der Neugier und den Interessen von Otto Normalbürger.“ Er nahm den Anführer ins Visier. „Oder ist's die Angst, vor den dürftigen Ergebnissen Ihrer höchst sparsamen Bildungspolitik, in bröckeligen Schulgebäuden?“
Eine venezianische Maske übernahm die Abwehr: „Nix Bildung! In Wahrheit ist diese Ahnungslosigkeit, für die Wähler, keinerlei Problem. Und die tun nicht etwa freiwillig etwas gegen ihr Halbwissen und machen sich kundig. – Nein!“ Eine Charly Chaplin-Maske rief dazwischen: „Feierabend, Füße hoch, 20Uhr die >Furznachrichten<, dann Flaschbier, Fußball gucken. Mehr ist nicht – im Durchschnitt!!“ Köchmüller gab Kontra: „Vielleicht liegt's daran, dass in der Politik zu viel leeres Stroh gedroschen, zu viel versprochen, zu wenig umgesetzt - und allem voran: - zu viel gelogen wird.“ Da abermals ein Servierbrett vorbeischwebte, griff er nun seinerseits ostentativ nach einem Sektglas.
In staatsmännischer Ruhe nahm Dümpelfeldt den Ball auf: „Gut 70 Prozent wählen ausschließlich nach Sympathie-Kriterien, statt nach Inhalten zu fragen. Die Wahlkabinen können doch nur deshalb so schmal gehalten werden, weil darin das vielbeschworene Allgemeinwohl eh keinen Platz findet. Und das - glauben Sie mir - das geht durch alle Bildungsschichten und über alle Nationen, die sich eine Demokratie leisten können und leisten wollen.“ Köchmüller blickte sich kurz in der Runde am Tisch um: „Mir scheint, dass Sie, als demokratisch legitimierter Chef-Beamter, nicht allzu viel von ebendieser unserer Demokratie-Veranstaltung halten.“ „Doch schon!“, verteidigte eine Graucho-Marx-Maske den Ressort-Chef, „Aber bitte, stellt vor den Wahllokalen Kabinen mit Fragebögen auf. Wer den rudimentären Intelligenz-, Demokratie-, Politik- und Parteiprogramm-Zuordnungs-Test besteht, bekommt eine Eintrittskarte und darf mitbestimmen. Dann ist es vielleicht ein wenig zurück gedrängt, dieses Wählen, nach >Tradition<, >Bauchgefühl<´ oder gar nach: >Der lächelt so sympathisch!<. Die, bei weitem, dümmste aller Entscheidungsgrundlagen.“
„Siehe Sokrates“, warf Köchmüller trocken ein, erntete jedoch nur Kopfnicken und gelangweiltes Schulterzucken. „Wie läuft's denn in der Praxis“, fuhr Graucho unbeirrt fort, „auf dem politischen Wochenmarkt? >Ich mag zwar Bananen, aber ich kaufe nur beim Apfel-Sepp, weil der sympatischer ist.< oder >Ist mir egal, was die anbieten. Ich kauf nur bei der Blondie-Elly, egal was die verschachert<. Doch wenn's dann um die Details geht: >Laaangweilig!!!<“ Der Chaplin in der Runde stellte nun kurzerhand ein komplettes Tablett mit Sektgläsern auf den Stehtisch. Es wurde fleißig zugegriffen. „Was unter den Entscheidungskriterien der Fußläufigen herauskommt, sieht man aktuell in den USA.“, meldete sich die venezianische Maske erneut, „Die letzten drei Präsidenten bilden eine Galerie der Groteske: Ein Niemand aus Arkansas, ein morphinistischer, texanischer Bankrotteur und schließlich – aller schlechten Dinge sind drei – seit Jahresbeginn, ein sozialistischer Phantast. Dieser hawaiianische Teilzeit-Afrikaner, der zu allem Überfluss, vom europäischen Sozialstaat abkupfern möchte, statt seine Finger von unserem verfaulten Hängematten-System zu lassen.“ Ein Napoleon unterstrich die Aussage seiner Nachbarin, indem er von, anfänglich, mangelnder Kompetenz der drei Präsidenten sprach. Ressourcen-Planung zu Gunsten der Würdigen, der Leistungsträger und der Notwendigen, sowie konsequente Machtausübung, seien zu Beginn, für das Trio, nicht deren Stärke gewesen. Wenn, so betonte der Möchtegern-Feldherr, hinter dem Texaner nicht der passende Vize, samt dessen Schatten-Crew, gestanden wäre, „...dann gäbe es die USA wahrscheinlich nicht mehr. – Ich mein': So wie wir sie alle kennen und schätzen.“
Köchmüller hob perplex die Augenbrauen: „Dieser... - Ex-Chef von der Zuliefer-Clique für Bohrtürme hat die Amis gerettet?“ Unter Eingrenzung auf „…den richtigen Teil der Amis…“ nickte die ganze Runde einmütig. Köchmüller lief es eiskalt den Rücken herunter, obwohl er wusste, auf welcher Geisterbahn er sich befand, welche wahren Fratzen hinter den Leih-Masken des Festes zu vermuten waren.
Venezia: „Hoffentlich bleibt der aktuelle, konzeptionslose Spinner nur vier Jahre! Sowas wie der, kommt eben heraus, bei >Sympathie< und >Bauchgefühl<. Obwohl, die Zeit wird's zeigen. Wir können sicher sein, die ewiggültigen Strukturen der Macht kochen auch den weich. – Den Bimbo kriegen unsere Partner, drüben, schon hingebogen.“ Graucho fasste das Gesagte, als seine Meinung, zusammen: „Wenn unsere amerikanischen Kollegen nicht, wie immer, im Hintergrund, die Fäden gezogen hätten, wäre unser Nordatlantik längst pleite.“ Er sprach den Panzerknacker direkt an. „Immer neuer, unnötiger Staatsballast! Forderungen des Pöbels ohne zu priorisieren! Alles gleichzeitig! Alles >Jetzt!< Aus beliebig wechselnden Entscheidungs-Kriterien folgen ineffiziente Ergebnisse! Gibt's sowas in der freien Wirtschaft? - Gänzlich undenkbar! Wir müssen uns klar sein: Dem Urnenpöbel ist völlig gleich, wer die Rechnungen bezahlt – so lange es ein anderer tut. >Vater Staat! Vater Staat!< Was machen die lieben Wähler, wenn sie nicht nach >Mehr Gerechtigkeit!< plärren, wie die Kinder >Mehr Sozialstaat!< fordern? Sie entscheiden in genau der Kurzfristigkeit, die sie den Unternehmern und Investoren fälschlicher Weise vorwerfen. Den aktuellen Pegelstand im eigenen Geldbeutel stets vor Augen; da geht's nicht um nachhaltige Entwicklungen. Ist dieses Verhalten sozial? >Jetzt! Sofort! Alles! Haben! Haben! Haben!<, das schreien Frau Sowieso und Herr Niemand täglich im Chor! Schulen, Brücken, Schwimmbäder, kostenlose, staufreie Autobahnen, es soll alles über Nacht geliefert werden, immer volle Regale und gleichzeitig soll die Eisenbahn nachts lärmfrei und tagsüber ohne Güterzug-Stau fahren und – natürlich - Rente mit 42 für alle, auf dem wohlbesonnten Seegrundstück. Selbstverständlich alles kostenfrei, für den kleinen Mann. Es lebe Robin Hood!!! Der lässt es die `Reichen´ bezahlen. Ist das sozial, gegenüber den Leistungsträgern? Und so denken und entscheiden rund 80 Prozent und bezeichnen gleichzeitig unsere Partei als ...“
Köchmüller fiel ins Wort: „Wer hat's denn erst richtig schmackhaft gemacht? Wer hat denn seine Raff-Sucht in aller Öffentlichkeit, als hehres Ziel, ausgelebt? – Etwa Tante Frieda???“ Dümpelfeldt leerte sein Glas und kam wieder aufs Thema: „Das sachverstandsfreie Wahlverhalten des selbsternannten >Mündigen Bürgers< ist doch die Wurzel des Übels. Ohne mediales Eingreifen wäre das Grundprinzip jeder Wahl der pure Zufall. Plumpe Ignoranz. Oder gar >Protest<, also eigentlich >Rache< als Triebfeder fürs Kreuzchen-machen. Protest, weil nicht vor jedem Haus eine Autobahnauffahrt ist und Rache, weil man im Verkehrslärm wohnt. Dem kann unser Berufsstand, zum Glück, vor und nach dem Urnengang, einerseits teure Medienkampagnen und andererseits system-stabilisierende Regierungs-Koalitionen entgegensetzen.“
Der Bonze kam in Fahrt: „Wissen Sie, Herr Köchmüller, was meine Traumvorstellung ist, in Bezug auf öffentliche Güter und deren Nutzung? >Verursacherprinzip!!!< Genau das brauchen wir! Auch Verkehrspolitik ist Wirtschaftspolitik. Folgendes würde ich sofort umsetzen: Jede befestigte Straße privatisieren. Wer vor die Tür tritt – zahlt!!! Pures Verursacher-Prinzip! Das nenn' ICH wahre Gerechtigkeit! Fußgänger für den Bürgersteig: Pro Meter Betrag X; Radfahrer für den Radweg: Betrag Y; Autos für die Fahrbahn: jeweils Z. Alles Strecken- und natürlich Verschleißabhängig.“ Er grinst. „Das gilt besonders für LKW. – Ich bin also auch ein Öko... - Mit den modernen Ortungsverfahren ist die Nutzung exakt nachweisbar – wie der Verbindungsnachweis beim Telefon.“ Köchmüller hielt dagegen: „Und wer nichts hat, kann die Fußgängermaut nicht bezahlen, kriegt also Hausarrest?“ Der Minister blieb ungerührt. Er war in diesem Punkt offensichtlich voll auf Parteilinie, hatte diese, wie es schien, sogar mit formuliert: „Man muss sich dieses komplexe und kostspielige Land eben leisten können. Für klamme Rentner ist in Thailand gut genug gesorgt. >Es gibt eben kein Menschenrecht, in der Mitte einer teuren Stadt wohnen zu dürfen!< Eine vollkommen richtige Bewertung durch den Hauptstadt-Bürgermeister, nicht nur in Hinsicht auf die natürliche segregative Entwicklung in seiner, konsequent, rasant aufstrebenden Kommune. Egal, ob schwul und reich, oder hetero und arm: Am Ende wird durch das Preisschild alles entschieden. Doch bleiben wir beim Thema: Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Diese angeblich `Mündigen Bürger´ wollen belogen werden!!! – Ja! Genau das wollen sie! Belogen werden wollen die! – Die lassen sich den >alles regelnden Vater Staat< vorgaukeln. Da wird ihnen von der Gutmenschen-Konkurrenz geschmeichelt: >Oh, lieber Wähler, du bist zu blöde, genügend Geld zu verdienen, sodass du dir keine vernünftige Wohnung leisten kannst? Kein Problem! Wir bauen Sozialwohnungen! Wie das finanziert wird? Mach dir keine Sorgen, lieber Wähler! Wir nehmen es den Reichen weg! Oder wir nehmen Kredite auf, damit du dich wohlfühlst. Alles kein Problem!!!< Von der Tatsache, dass die wahren Leistungsträger sich das nur bedingt gefallen lassen und nötigenfalls nach Singapur ausweichen, von dieser Tatsache natürlich kein Wort. Am Ende gibt's 100 Prozent Steuern von Nix, statt eines auskömmlichen Anteils von X, für die wirklich unvermeidbaren vier Aufgaben des Staates, plus diesen blöden Sozial-Klimbim. Doch die tumbe Masse will bequatscht werden! Aber was will man machen?! - Der Wähler ist König. Wenn die vor der Wahl veräppelt werden wollen... – Wir liefern auch das.“ Mit einem frischen Glas stieß der Minister mit Köchmüller an: „Auf den tumben Urnenpöbel!!!“
Zögernd leerte Köchmüller seines ebenfalls: „Ihre verbitterte Auffassung vom Durchschnittsbürger kann nicht die Basis für politisches Handeln sein.“ Wieder wurde ein Tablett mit gefüllten Sekttulpen vorbeigetragen. Köchmüller tauschte nun auch gegen ein Neues. „Ich bin nicht verbittert, nur Realist.“ korrigierte der Würdenträger. „Aber, Sie haben natürlich Recht. Zuerst geht's um die Verkaufe. Und dann, nachgelagert... - also die faktische Basis für politisches Handeln, ist natürlich eine andere. Schauen Sie sich um! Wer ist hier anwesend?“ „Tja, alles was Geld und Macht hat, in der Region, und ein bisschen Staffage, wie ich.“ „Ja und nein. Sie haben Recht, mit der Macht und dem Geld. Aber mit der Staffage liegen Sie falsch. Sie sind kein Füllelement, Herr Köchmüller. – Warum?“ Auf Dümpelfeldts Erklärung, in mittlerweile merklich angeheiterter Stimmlage, war Köchmüller nun wirklich gespannt. „Na, aus zwei Gründen. Sie sind Banker, wie mir Ihre Frau berichtet hat. Ich find' das mit der Panzerknacker-Verkleidung übrigens sehr passend. Sie kennen sich also mit der Wirtschaft aus und verteilen im urkapitalistischen Sinne Geld, ermöglichen Investitionen. Sie sind also, in Ihrem Berufsfeld ein hochqualifizierter Spezialist. Sie haben Familie, ein Haus, Hobbies, eventuell einen Hund. Und trotz dieser Belastungen versuchen Sie über den Tellerrand hinauszublicken. Sie, als Bürger, der sich außerhalb des politischen Schlachtfeldes aufhält, versuchen unser Berufsbild zu verstehen, es zumindest teilweise nachzuvollziehen. Sie stellen ohne falschen Respekt und ohne Umschweife, implizit, die richtigen Fragen. Sie bleiben zwar Laie in unserem Metier, aber Sie nutzen zumindest Ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit, um wenigstens die richtigen Fragen zu stellen. Das ist mehr, als nur „Graue Maus“; Ihre dezidierten Fragen, nach der tatsächlichen Machtverteilung in der Demokratie. Und genau darauf kommt es an!“
Köchmüller stolperte über die Ministerworte: „Auf meine Fragen kommt's an?“
„Nein! Auf die Machtverteilung! Na, dass - auch in der Demokratie - die Macht stets in den richtigen Händen bleibt. Professionalität! Sonst läuft der Laden nicht rund. Professionalität! Und nicht nur Geldvermögen. Stellen Sie sich vor, einer unserer beliebten Show- oder Quiz-Master nutzt seine Popularität, glaubt, dass das Ablesen von Moderationskarten genügt oder schlaues Daher-Reden weil er die richtige Antwort-Möglichkeit kennt. Und dann geht er in die Politik, ohne zu wissen „Was!“ und „Wie!“. Oder, noch schlimmer, so ein erbshirniger New Yorker Immobilien-Heini kommt auf den Gedanken: `US-Präsident ist so was, wie 'ne bessere TV-Show´, und dann kandidiert der in vier oder acht Jahren – und gewinnt auch noch! Nicht auszudenken, was da passieren könnte...“
„Sie sprechen also von einer genau definierten Führungselite – so 'ne Art `Herrenrasse´, die den Laden schmeißen darf?“ „Das schmutzige Wort bestätige ich in keiner Weise, nicht mal ohne Mikrophon. Ihnen bleibt es natürlich überlassen, die langfristig-strategische Führung des Landes so zu nennen, wie Sie wollen. Aber so, wie Sie es ausdrücken, hört es sich nach organisierter Verschwörung an. Das ist es aber nicht. Wir Politiker sind Fachleute in… - wenn Sie so wollen: Wir sind Macht-Mechatroniker zum Wohle des Landes. Wir sprechen hier wertneutraler von Vernetzung und Systematisierung der relevanten Subsysteme. Und dieses interessenbasierte Netzwerk bildet die so genannte >Politische Klasse< oder auch >Führungs-Elite<. Diese Elite ist somit - wahrlich - kein monolithischer Block. Denn es gibt eben diese vielen Einzel- und Grüppcheninteressen. Und die wirkmächtigsten der Subsysteme sind systemrelevant. Die Forderungen der Leistungsträger versucht unsere Partei zu strukturieren und zu fördern, weil sie, am Ende, auch der Allgemeinheit wirtschaftlich nützlich sein können.“ „Natürlich ohne direkte Einbindung des `Urnenpöbels´.“, stichelte Köchmüller. Er tat es jedoch vergeblich, da der Minister den Einwurf wortwörtlich nahm: „Ja sicher, `ohne´!! Deshalb: `Repräsentative Demokratie´.“ „Und die Gewerkschaften? Die Betriebsräte? Bürgerinitiativen?“ „Sie sind tatsächlich ein wirtschafts-politischer Romantiker. Immer gleich das Fußvolk im Blick. Naja, ich wurde durch Ihre Frau gewarnt. Ist aber im Grunde normal. Die meisten Laien im politischen Raum sind Idealisten. Ich war's nie. Deshalb trag' ich auch Verantwortung. Und ich red' gern mal Tacheles, wenn nicht gerade ein Schreiberling in Hörweite ist. - Also: Wenn es keine Subsysteme gäbe, die sich `Gewerkschaften´ und `Betriebsräte´ nennten, dann müssten sie erfunden werden. Notfalls von der Kapitalseite, weil sie für uns und unser marktwirtschaftliches System relevant sind. – Innerhalb der zugewiesenen Grenzen und Aufgaben natürlich.“ Er klopfte seinem untersetzten Nachbarn zur Rechten, diesem Möchtegern-Napoleon, auf die Schulter. „Unter diesem Zweispitz steckt ein Gesamtbetriebsrats-Vorsitzender. Einer von uns. Die höhergestellten Arbeitnehmervertreter gehören ins Spiel – auf deren Seite, in unserem Spiel! Lass dir 'n Dutzend Entlassungen vom Betriebsrat unterschreiben und sie sind weitestgehend gerichtsfest. Sie kennen das doch: Erst kommt die Jubel-Meldung über Synergie-Effekte bei einer Firmen-Fusion. Dann kommt der Jubel über so genannte `Job-Garantien´. Bezeichnenderweise fragt keiner, in der Öffentlichkeit, wie man Synergie und Job-Erhalt unter einen Hut bringen will! In einer zünftigen Diktatur könnte man den Betroffenen direkt reinen Wein einschenken und notfalls Knüppel drauf. Aber hier lässt man eben zwei, drei Jahre ins Land ziehen – genug Zeit dass jeder Depp selber merkt, was auf dem Spielplan steht – und dann lässt man die Wahrheit aus dem Versteck. Diese Zeitverzögerung ist die wahre Stärke der Demokratie. Ohne Schlagzeilen, ohne dass einer muckt, ohne Gummiknüppel im Hintergrund kommen dann die Anweisungen im Nachrichtenformat über den Ticker: >Aus Kostengründen und zur Sicherung der anderen Standorte werden beim `Unternehmen X´ 2.000 bis 3.000 Stellen abgebaut. Mit dem Betriebsrat wurde vereinbart, dass es zu keinen `betriebsbedingten Entlassungen´ kommt.< Das kennen Sie doch. Auch, dass der Abbau durch >natürliche Fluktuation in der Belegschaft<´ erreicht werden soll, ist nicht neu, aber für die Öffentlichkeit beruhigend. Und Dergleichen wird kaum noch wahrgenommen, weil man es ja immer wieder in den Medien hört oder liest. Was glauben Sie, wie hoch die tatsächliche Bereitschaft der direkt Betroffenen, der Überflüssigen ist, freiwillig in die eigene – aber systemnotwendige - Existenzvernichtung zu gehen?“ Der Minister starrte geierartig auf den Normalsterblichen herab: „Früher nannte man sowas >Heldentod<, aber den haben die Weicheier ja abgeschafft... – Also, wie viele Freiwillige findet man heute, die zum Wohle des Unternehmens ins offene Meer springen?“
“Nahe Null...“
„Genau. Und dafür hat man den `Betriebsrat´, den `Aufhebungsvertrag´ und die `Abmahnung´ erfunden. Dadurch ist das Gesundschrumpfen des Lohnkostenblocks in klar definierte, rechtsstaatliche Bahnen gelenkt.“
Der Aushilfs-Napoleon sprang dem Minister beiseite, zitierte in der vermeintlichen Stimmlage eines Personal-Chefs: „Entweder Sie unterschreiben den Aufhebungsvertrag und bekommen ein gutes Zeugnis und ein knappes Handgeld, für den anschließenden Weg unter die Brücke, oder...“
Der Minister ergänzte: „Die Aufhebung ist natürlich so formuliert, dass es keine Sperre bei der Arbeitsverwaltung gibt. Die ist sowieso, von höherer Stelle, über die Welle der verdeckten Massenentlassungen gebrieft.“
Napo fuhr sodann mit seiner Imitation fort: „...oder Sie bekommen Abmahnungen für jeden Dreck und die verhaltensbedingte Kündigung, mit drei Monaten Sperre, und können sich Ihr Zeugnis einklagen.“
Dümpelfeldts zufriedenes Grinsen begleitete die Worte seines Unterstützers. Er zog die Augenbrauen hoch: „So läuft das. Und kein Mikro, keine Kamera interessiert sich dafür, wie es in Wirklichkeit läuft. Und nun raten Sie mal, wo dann der hilfreiche Betriebsrat ist!“
„Im Urlaub!“ Köchmüller antwortete im Affekt, war nicht überrascht, über das vielfache, kaltschnäuzig bestätigende Nicken der anderen. Darum legte er in provozierender Weise nach: „Oder er versteckt sich auf einer wichtigen Konferenz am Pool der Vorstände.“
Der Minister setzte - ganz sachlich – einen drauf: „In großen Unternehmen liegt der Arbeiterrats-Chef sowieso am Strand, weil er - qua Amt - Mitglied im Vorstand ist. Aber grundsätzlich haben Sie es erfasst. – Fast so, als wenn Sie sowas schon mal erlebt hätten.“ Köchmüller musste schlucken. Kannte der Politiker seinen derzeitigen beruflichen Status? Er hoffte, dass sein Zögern nicht bemerkt worden war: „Das heißt ja, letzten Endes, dass die gesetzlichen Schutzmaßnahmen für die Arbeitnehmer nicht greifen.“
„Doch, das tun sie. Sie wirken in marktwirtschaftskonformer Weise. Hier und heute gelten mächtigere Gesetze, als das überkommene Verfassungs-Gewäsch von Anno Irgendwann. Fakt ist: Wenn den Kunden im Laden oder am Verhandlungstisch etwas zu teuer ist, dann kaufen sie den Ramsch nicht. An der Kasse geht es um Geld und nicht um Betriebsverfassungsgesetze, Menschenrechte oder Arbeitslager. Der Billigste macht das Geschäft - und Punkt.“
„So lange, bis wir wieder beim Lohnsklaventum angekommen sind?“
„Ach, jetzt kommen Sie mir doch nicht mit den Arbeitsbedingungen in Fernost. Nur so, wie es jetzt läuft, geht es! Politisch festgelegte Preise funktionieren nicht. Und am unteren Ende der Lohnskala hat sich doch nichts geändert – das heißt: nichts verschlechtert - in tausenden Jahren, vom Pharao bis Bangladesch. Erinnern Sie sich? Bis vor ein paar Jahren hatten wir die stalinistischen Gulags direkt an unserem Ostflügel. Die Billig-Produkte, von dort, haben wir doch sehr gern genommen. – Nicht nur die Kittelschürzen für drei Euro. Sklavenprodukte wollen wir alle haben, aber nicht durch den Schweiß und die Klagen der Bio-Roboter gestört werden.
Warum wurde die öffentliche Nutzung des Begriffs >Hühner-KZ<, höchstrichterlich, als Volksverhetzung gewertet? Die Begründung hat nur als juristische Schaufensterdekoration etwas mit >Humanität/Inhumanität< oder >Relativierung< zu tun. Es geht in Wahrheit um Lenkung. Lenkung falscher und gefährlicher Diskussionen über gewisse notwendige Kontinuitäten. Fragestellungen, die uns und unseren Lebensstandard teuer zu stehen kommen können, wenn die Antworten vielschichtig werden, nachhaltig differenziert durchdacht werden dürfen und somit aus dem Ruder laufen, bis sie unsere Fundamente bedrohen.
Fakt ist: Wir brauchen Sklaven, als Verschleißteile unserer Wirtschaft. Und das ist, mit Rücksicht auf das historisierend-jammernde Gutmenschentum, zu beschweigen – Punkt. Früher reichten Stacheldraht und Schießbefehl an der Grenze zu Stalins Reich. Heute schlägt das Pendel zurück. Zurück zur althergebrachten Kolonialismus-Struktur…. – die hatten wir ja immer, wenn es um Rohstoffe ging… - aber jetzt ist auch `Otto Normalverbraucher´ direkt involviert. Und für diese unsere Konsumenten müssen bestenfalls mehrere Zeitzonen, aber in jedem Fall Kulturschranken dazwischenliegen, zur Beruhigung des barmherzigen und doch grenzenlos ur-rassistischen Discounter-Gewissens, auf der täglichen Schnäppchenjagd.“
Köchmüller hatte noch nie in diesen Bahnen gedacht; und doch glaubte er spontan, eine offene Flanke des Ministers entdeckt zu haben: „Wir haben uns immerhin weiterentwickelt. Der geringe Lohnkosten-Anteil im Endproduktpreis, lässt uns daher reichlich Möglichkeit, für bessere Verhältnisse zu sorgen.“
Doch der Profi wurde nicht verunsichert, sondern nur eindringlich: „Hören Sie! Wenn wir die Näherinnen besser bezahlen, wird hier das Brot teurer. Und zwar soviel teurer, dass hier – mitten in Europa, beim Fußvolk – wieder Hunger herrschen wird. Oder das allgemeine Wohlstandsniveau sinkt. Im Extremfall auch Ihres und meines. – Wollen Sie das? Und wo wollen Sie anfangen? Volkswirtschaftlich betrachtet liegt der Lohnkostenanteil immer bei 100%, weil sich Kosten immer, an irgendeiner Stelle, als Lohnzahlung herausstellen! Wir haben mit unserer Politik Europa weitgehend vom Hunger befreit! Das ist das einzige, was zählt! Alles andere ist irreales und gefährliches Bolschewiken-Geschwätz. >Hunger für alle!<, wollen Sie sowas??? - Ich nicht!!!“
Der schlagartig zum Schulbuben eingedampfte Bankräuber schüttelte pflichtbewusst den Kopf, war sich bisher über eine mögliche Rückkopplung von Billig-Jeans zu seinem Brotkorb nicht im Klaren gewesen. Diesem Gedankengang ernstlich zu folgen, war ihm neu. Es war ihm anzusehen. Vor allem der Minister erkannte die Schwäche des Gegners, tauschte in souveräner Selbstsicherheit sein Glas erneut: „Na, ist doch ganz einfach: Natürlich könnten wir den Arbeitern in Südostasien den Lohn verdoppeln. Das würde, hier im Lande, erstmal für die Preise der Produkte nicht viel bedeuten. Aber die Folgen wären – mittelfristig – katastrophal.“ Köchmüller schüttelte verständnislos den Kopf, Dümpelfeldt fuhr unbeirrt fort: „Sie müssen vernetzt denken. Was würden die Menschen mit dem Geld machen?“ „Was zum Essen kaufen. Bessere Wohnverhältnisse schaffen.“ „Genau das ist es: Ein Nachfrage-Rebound. Die schlagen sich dann drei Mal am Tag die Wampe voll. Und womit? - Mit unserem Getreide! Die würden - für ihre Hütten - uns den Zement wegkaufen. Wir würden denen also – ohne Not - eine Waffe in die Hand drücken, mit der die uns unser Brot und unseren Beton streitig machen. Und diese Super-Waffe heißt Geld.“
Köchmüllers Hinweis auf die Möglichkeit, besser zu organisierender Ressourcen, wurde von der Gegenseite weggewischt: „Wenn man alle Ressourcen betrachtet: Keine Chance! Auch ich wollte es zuerst nicht glauben: Mittlerweile wird sogar der weltweit verfügbare Bausand knapp. Regionale Sandkrisen! Schmuggel! Mafia! Mord! - So weit sind wir bereits! Über 15 Milliarden Tonnen im Jahr! - Unser Sand!! Wenn wir unseren Ressourcen-Bedarf – nicht nur den Sand - zum Maßstab nehmen und für die ganze Welt zugrundelegen, so reichen die jährlichen Kapazitäten des Globus kaum bis Mai. Sobald die dunklen Pünktchen etwas besser leben… – Und `besser leben´ heiß eben: Etwas mehr, als genug zum Essen, an jedem Tag... – sobald die soweit sind, vermehren die sich, wie die Karnickel. Und das wissen die Akteure am Rohstoffmarkt, noch bevor unsere asiatischen Knechte, das erste, höhere Gehalt in der Hand haben und selbiges nicht mehr nur zum Reishändler an der Ecke tragen, sondern auch zum Metzger. Und so bringen höhere Löhne in Bangladesch, den Börsen-Kurs für Futter-Getreide in Chicago durcheinander. In der Folge kann der afrikanische Minenarbeiter kein Brot mehr bezahlen. Es kommt zu Hungerrevolten! – Irgendwo auf unserer vernetzten Welt. Durch Aufstände in Afrika kommt unsere Rohstoffproduktion ins Stocken oder gar zum Erliegen und wir sind die Gefickten!“
Während seiner Ausführungen, wurde von seiner Kohorte heftig und zustimmend genickt. Köchmüller assoziierte die einhelligen Kopfbewegungen mit den bekannten Wackel-Dackeln auf den Hutablagen einschlägig bekannter PKW.
Eine Mini-Maus rückte ihre Plastikmaske ein wenig nach oben, meldete sich in merkwürdiger Überbetonung mancher Worte: „Auch hier im Lande muss der Verbrauch gesteuert werden. Was beim Otto Normalverbraucher als Ausbeutung, Unterdrückung oder auch Plünderung von Sozialkassen angesehen wird, ist in Wirklichkeit Ressourcen-Management. Stellen Sie sich mal vor, vor welchen Herausforderungen wir stehen würden, wenn wir weder die Privat-Rente eingeführt, noch diese völlig überflüssige Sozialhilfe, zumindest teilweise, eingedampft hätten. - Sozialhilfe...! – überflüssiger Klimbim!“ Köchmüller lauschte den Ausführungen, nippte fast unwillkürlich an seinem Glas, antwortete dann: „Die Menschen würden beruhigt schlafen.“ „Stimmt!!!“ bestätigte Mausi. „Sie würden in aller Ruhe die Entwicklung der Welt VERSCHLAFEN! Notwendig ist Angst! Existenzangst!!! Im wahrsten Sinne des Wortes, die Angst vor dem Pappkarton unter der Brücke und Angst vor Chaplins weichgekochten Schuhen im Suppentopf! DAS spornt an! - DAS bringt uns weiter!“
Der Arbeiter-Napoleon setzte noch eins drauf: „Diese systematisch eingeimpfte und somit dauerhaft unterschwellige Angst, vor dem Absturz des Einzelnen, muß mit der automatischen Assoziation von den bedrohlichen Abgründen – links und rechts des vorgegebenen Pfades – mit der völligen wirtschaftlichen Unberechenbarkeit, dem Zusammenbruch unserer Gesamtstruktur verbunden werden. Ist das erstmal erreicht – schwer genug – dann sind unsere zwingend notwendigen Selektions-Reformen durch…-setz…-bar.“
„…Pfadabhängigkeit…“ und „…Selektion…“: Köchmüller traute seinen Ohren kaum. Diese Worte aus dem Munde eines Arbeitnehmervertreter-Bosses? So war seine Frage fast schon unwillkürlich: „Ja, aber was hat das mit der Privatrente zu tun?“
Die lakonische Antwort des Arbeitskaisers war für Heinrich T. Köchmüller nahezu ein Schlag in die Magengrube: „Strategische Abschöpfung und Verlagerung von überzähliger Kaufkraft. Unauffällige Lenkung von Finanzströmen und verdeckte Inflation zur Steuerung des Ressourcen-Verbrauchs - mehr nicht.“ Bereits in seinem engen Banker-Büro waren Köchmüllers Befürchtungen, zwar in diffuser Weise, aber doch grundsätzlich in eine ähnliche Richtung gegangen. Doch das hatte er nicht erwartet. In erschreckender Klarheit, wurden seine schlimmsten Alpträume bezüglich des wahren Fundaments des marktradikalen Neoliberalismus übertroffen: Es ging nicht nur um Abzocke!
„Der Lebensstandard“, bestätigte Mini-Maus seine Vorahnungen, „oder besser: der Güter- und Leistungsverbrauch, wird – aus vielerlei Gründen - in diesem Lande mengenmäßig kaum mehr gesteigert werden können - und dürfen. Also, was machen die Leute? Sie fraternisieren mit dem Feind, verschleudern die Finanzwaffe in falsch verstandener Nächstenliebe, zum Beispiel mit Fair-Trade-Produkten. Diese Organisation der Gutmenschen muss übrigens genau beobachtet, wenn notwendig, eines nicht allzu fernen Tages, durch adäquate Skandale, kalt gestellt werden.“
Köchmüller wollte den Argumenten nicht folgen. Ihm stand eine monolithische Bruderschaft gegenüber, die fest verwurzelt war, in einer geschlossenen, dystopischen Weltsicht: „Rette sich, wer kann!“ und bis dahin: “Jeder gegen jeden!“ Ihm klappte die Kinnlade herunter, angesichts dieser offenen Zurückweisung jeglicher effektiver Entwicklungshilfe, da es, wie es schien, in deren Augen, keinerlei, niemals und nirgendwo eine tatsächliche Entwicklung des Menschen gegeben hatte oder je geben würde... - Nur Plünderung, bis zum Knall.
Die Mini-Maus reckte ihren Kopf Richtung Napoleon und fuhr in kalter Reportage fort: „Unser Zweispitz sprach bereits von Strategie. Eine Strategie, damit die Regale hier, in diesem Lande, so lange noch irgend möglich, stets gefüllt sind und nicht in Burkina Faso.“
Köchmüller sah zum Minister und bemerkte erst jetzt, dass dieser mittlerweile an einen anderen Tisch gewechselt war. Die zwanzig Minuten umfassende, ministerielle Überprüfung der politischen Standpunkte des Ehemannes einer künftigen, führenden Landespolitikerin, dieser sinisteren Partei der Hoffnungslosen, war wohl endlich beendet. Die Kofferträger folgten ihrem Herrn nach und nach. Zum Schluss standen nur noch ein Panzerknacker und ein Napoleon an dem Tisch. Beide, der Ex-Banker-Arbeitnehmer einerseits und der monarchistische Arbeitervertreter andererseits, sie wurden an diesem Abend keine Freunde mehr. Im Gegenteil. Binnen weiterer fünf Minuten waren die konträren Meinungen über Menschenwürde, so weit zugespitzt, dass der Feldherr die, in diesem Umfeld, tödlichste aller Fragen stellte:
„Sagen Sie mal… - sind Sie eigentlich Kommunist???“
Köchmüller starrte, durch seine Augenbinde, abschätzig auf den fülligen Kaisertreuen hinab: „Nein! Diplom-Bankräuber, deshalb weiß ich ganz genau, wohin Ihre kurzsichtige Denke führt und...“
Ein lautstarker Tusch erfüllte den Raum. Endlich kam die Parteiveranstaltung zu ihrem Höhepunkt: Es begann die Ehrung besonders verdienter und eifriger Mitglieder. Auf der kleinen Musiker-Bühne, jenseits der Tanzfläche, standen Dümpelfeldt und der Landesvorsitzende. Der Partei-Chef sprach die üblichen wegweisenden Worte:
„… möchte ich den Blick nach vorne richten, auf das angebrochene Jahr und hoffe…“
„…das alle kranken Abschreibungskünstler, Anlagebetrüger und Steuerhinterzieher hier und in aller Welt einmal richtig arbeiten müssen!“, grölte Köchmüller mit merklich alkoholisierter Stimme dazwischen. Die Anwesenden starrten, in kurzer Betretenheit, auf den volltrunkenen Bankräuber mit der Nummer vor der Brust. Minuten später brandete besonders viel Beifall auf. Die Hoffungsträgerin der Hoffnungslosen – Elke Schonhoff-Köchmüller - wurde auf die Plattform gebeten. Während sie im Scheinwerferlicht lächelte, stand ein Bankräuber allein an seinem Stehtisch und versuchte mit den beiden verbliebenen Sektgläsern seinen Ekel vor dem frenetischen Publikum und deren Weltsicht herunterzuspülen. „Herr Ober, bitte zahlen! Ich möchte gehen!“, krakeelte er und begann zu kichern, „Ach nee, das kostet ja hier nix! Die Rechnung übernehmen die kleinen Käfig-Näherinnen in Ostasien!“
Ihm waren, in den vergangenen knapp zwei Stunden, gut eineinhalb Flaschen Sekt durch die Kehle gelaufen, ein Quantum, dass er bei Weitem nicht gewohnt war. So strebte er in „bewusst gerader Gangart“ zum Ausgang, zerrte seine Jacke vom Haken und ließ sich von der Security die Tür öffnen.
„Ah, Moment… – Äh… – Die Toilette?“
Der Schwarzgekleidete wies den zwingenden Umweg.
Endlich auf dem Vorplatz angekommen, fiel Köchmüllers Blick auf die nächtliche Szenerie. Ein gutes Duzend chromglänzender Gasfackeln erleuchtete das elegante Umfeld. Chauffeur-Limousinen der Prominenz und einige Taxen standen bereit. In ihm erwuchs eine diebische Freude: Während seiner Anwesenheit hatte niemand erkannt, dass sein Aufzug - speziell seine Augenmaske - nichts weniger darstellte, als eine Anspielung auf die Französische Revolution. Er steuerte, sichtlich um Balance bemüht, eines der elfenbeingelben Fahrzeuge an: „Bringen Sie mich bitte weg, von hier. – Schnell!!!“
„Aber nur, wenn Sie mir versprechen, weder meinen Auto-Safe zu knacken, noch den Wagen vollzukotzen.“
Köchmüller kämpfte mit seiner schweren Zunge: „Wird gemacht, Chef!“
„Ja, und wo genau soll's denn nun hingehen? Zu Onkel Dagoberts Geldspeicher...?“