Читать книгу Die Köchmüller-Papiere - i.A. - H.T.K. - Страница 6
K2 – Ein neuer Job muss her
ОглавлениеNatürlich bedeutete Heinrich T. Köchmüllers krakeeliger Abgang vom Parteifest und seine inkompatible Sicht auf die Dinge der Welt mehr, als nur ein Stirnrunzeln der Parteioberen. Für seine Frau war ein gewisser Imageverlust festzustellen. Da war nichts mehr mit ihrer Feststellung: „Mein Mann interessiert sich nicht so viel für politische Projekte. Aber er steht voll hinter mir und dem Partei-Programm! Auch wenn er politisch etwas romantisiert.“ Sein dekuvrierendes Verhalten ließ eine sorgsam gepflegte Fassade bröckeln. Dieser Kratzer, an Elkes makelloser politischer Arbeit, war für sie mehr als ärgerlich. Und das ließ sie ihren schmählichen Gatten deutlich spüren. Von ihm würde sie sich die Perspektiven nicht verbauen lassen, nur weil er selber nicht in der Lage sei, „…mit dem Arsch hochzukommen.“ Der Streit eskalierte in den folgenden Wochen so weit, dass Heinrich, Mitte März, vorläufig in sein kleines Arbeitszimmer umzog.
Wenige Wochen später war Elke für vierzehn Tage nicht im Hause. Ihre Fraktion im Stadtrat genoss, wie erwartet, den Oster-Urlaub auf der englischsprachigen Mittelmeer-Insel. Anfang März war der „geschlossene Bereich“ der städtischen Kliniken - ein großes, eigenständiges, über hundertjähriges Anwesen, vor den Toren der Stadt - tatsächlich und insbesondere auch auf ihr intensives Betreiben hin, an einen Investor aus der internationalen Sozial-Industrie verkauft worden. Und nun war es an der Zeit, die wohlfeile Ernte dieser Bemühungen, im milden Klima, abzufeiern.
Ebenfalls, in diesen Tagen, änderte sich Heinrichs Situation. Mit den ersten Blättern an den Bäumen, kam für ihn, am 1. April, der „Besuch beim Amt“. Es war nicht der erste Termin, den er wahrnahm. Pflichtgemäß hatte er sich, Ende Oktober, nach dem ihm gekündigt worden war, bei der Arbeitsverwaltungsstelle gemeldet und dort auch den ersten Papierkrieg erledigen dürfen, aber nun waren die Karten neu gemischt: Er war nun „Leistungsempfänger“. Nun lief die Uhr, für ihn deutlich hörbar, rückwärts. Noch ein Jahr bis die Zahlung des Amtes auslief. Eventuell etwas mehr, wenn er in irgendwelche „Weiterbildungsmaßnahmen“ gesteckt werden würde.
Und so war es dann auch.
Statt eines Termins für ein Gespräch mit seiner Vermittlerin, flatterte, als Nächstes, einer jener graublauen Recycling-Umschläge ins Haus: Vom 20.April, ein Montag, bis zum 4.Mai, ebenfalls ein Montag, wurde er zu einem, ihm bis dahin völlig unbekannten, Bildungsträger vorgeladen. Der Inhalt dieses 10 Tage-Lehrganges nannte sich höchst sportlich: „Motivations- und Bewerbungs-Training“. Köchmüller gestand sich ein, dass er sich sogar ein wenig auf diese Abwechslung freute.
Montagmorgen, kurz vor acht. In positiver Grundstimmung stieg er aus der Straßenbahn. Es war ein typischer nass-kalter Apriltag. Routinemäßig war er in seiner bisher gewohnten Arbeitskleidung unterwegs: Übergangsjacke, dunkelblauer Anzug, weißes Oberhemd, Krawatte und frisch geputzte Lederschuhe, sowie ein Regenschirm. In seiner Aktentasche hatte er alle Unterlagen samt Termos-Kanne und den „…lebenswichtigen…“ Wurststullen. Er befand sich am nördlichen Rand des Stadt-Zentrums, einer merklich sanierungsbedürftigen Gegend, in der An- und Verkaufsläden, einschlägige Gemüsehändler mit halbblinden Fenstern und Hinterhof-KFZ-Bastelbuden den Grundton angaben. Ein Stadtteil, den er niemals mit einer privaten Bildungseinrichtung, im Sold der Arbeitsverwaltung, in Verbindung gebracht hätte. Kurz hinter der Haltestelle bog er ab, in eine enge Schlagloch und Teerflicken übersäte Einbahnstraße, mit beidseitiger, vierstöckiger Bebauung. Rund 150 Meter voraus ein Pulk rauchender Personen vor einer Eingangstür. Er erriet zu Recht, dass diese Menschenansammlung zur ihm vorgegebenen Adresse gehörte. Dort angekommen, faltete er seinen Schirm, wünschte einen „Guten Morgen“, fand aber keinerlei Beachtung. Heinrich bahnte sich den Weg zum aluminiumgefassten Drahtglaseinlass und betrat das dahinter befindliche Treppenhaus.
„Hier muss mal gelüftet, gespachtelt und gestrichen werden“, dachte er, während sein Blick ins Hochparterre zur ersten Tür wanderte, darauf angebracht, ein eselsohriges DIN-A4-Blatt: „Anmeldung“.
Köchmüller drückte sie auf und trat, an der Schmalseite, in den sich nun darbietenden schlauchartigen Raum. Im Normalfall hätte dieser fensterlose Bereich wohl als zu breit geratene Diele in einer Wohnung gedient. Zudem wurde der Schlauchraum auch noch durch einen geradezu grotesk langen Tresen geteilt und von einer brummenden Leuchtstoff-Lampe dürftig erhellt. Ungefähr ein Duzend Personen staute sich vor dem Neuankömmling. Diese dicht gedrängte, ungeduldige Warte-Schlange zog sich entlang, der gesamten Ausdehnung der Abtrennung. Auf der anderen Seite des Tresens, ganz hinten, am gegenüberliegenden Ende des Raumes, führte eine späterblondete Mitarbeiterin ihre, ans Monomanische reichende, Routine durch:
„Name??? Vorname??? Straße??? Wohnort???“
Am Kopf der Kolonne wurden die geforderten Daten genannt. Es dauerte, bis die richtige Listenzeile gefunden war. „Einladung!“ Das Anschreiben wurde übergeben. “Ausweis!“ Das Amts-Dokument wurde gesucht, gefunden und herübergereicht. Ein knapper, vergleichender Blick wanderte zwischen Passfoto und Originalgesicht. Dann wurde die ID-Karte zurückgegeben und in der Liste die abschließenden Häkchen gesetzt. Am Schluss der Prozedur wurde von ihr die tonlos-mechanisch ausgesprochene Aufforderung erteilt, sich von einem Papierstapel zwei zusammengeheftete Formulare zu nehmen und eine Etagen- und Raum-Nummer genannt. Es erfolgte noch der monotone Hinweis: „Abgabe der Blätter, komplett ausgefüllt, bis um zwölf Uhr, in diesen Kasten. - Der Nächste!“
Heinrich suchte vorzeitig die verlangten Dokumente zusammen und erfuhr eine gute Viertelstunde später, dass sein Ziel „…zweite Etage, Raum 3…“ lag.
Nach Zielerreichung konnte er feststellen, dass der Raum zwar klein, aber dafür mit sechs Tischreihen vollgepackt war. Von den dazugehörenden sechsunddreißig Stühlen, waren noch fünf frei – natürlich alle in der ersten Reihe. Dem hohen Kommunikationspegel entsprechend, waren vermutlich recht viele Teilnehmer bereits miteinander bekannt.
Von irgendwo her schallte ein: „Oh, schaut mal! Der Herr Direktor ist auch auf der Suche!“ Gelächter aus der gleichen Ecke. Heinrich begriff, trotz des Stimmengewirrs, dass der Spott gegen ihn gerichtet war. „Na, setzen Sie sich mal erster Klasse, nach ganz vorne!“ Wieder Gelächter. Heinrich deutete ein Grinsen an: „Wer nicht kommt zur rechten Zeit...“ Er zog seine Jacke aus und blickte sich nach einem Garderobenhaken um. „Nee, nee Herr Direktor, ihre teure Jacke müssen Sie schon über die Lehne hängen, das ist beim Fußvolk so üblich.“ Erneutes Gelächter auf den hinteren Rängen. Heinrich ignorierte die Provokationen und setzte sich, auf der Tür-Seite, neben einen etwas älteren Herren. Dieser grinste ihn an: „Na, da ist aber wieder eine Stimmung auf den billigen Plätzen. Ich bin der Fritz und mach' das lächerliche Spiel zum neunten Mal mit.“ „Ja, guten Morgen. Ich bin der Heinrich und weiß echt nicht, was ich hier soll.“ „Aha, also das erste Mal bei dieser `wissenschaftlichen Veranstaltung´. Ist kein Problem, beim ersten Mal, da tut noch weh, was hier veranstaltet wird. Und das hier keiner weiß, warum er hier ist. Diese Denke herrscht spätestens am dritten Tag bei allen. Nicht mal die Vortänzer wissen `wie´ und `warum´, bei diesen so genannten Bewerbungs-, oder auch: Motivations-Trainings. Besser wären regelmäßige Frage- und gut qualifizierte Betreuungsstunden, aber darum geht es nicht. Wir sind – auf billigste Weise – 'raus aus der Statistik, die am 30. eines jeden Monats, in den Abendnachrichten, bejubelt wird. Und `am billigsten´ heißt, so ein Dozent bekommt kaum 30, ehr 25 Euro Stundenhonorar. Und ich gehe davon aus, dass Sie… – äh … – dass du ahnst, was ein guter, ein richtiger Dozent normal pro Tag bekommt.“
Heinrich öffnete seine Ledertasche, entnahm ihr die quer aufliegende Isolierkanne, um an seine darunter befindlichen Schreibutensilien zu gelangen: „Wir hatten mal bei uns in der Filiale einen Anwalt für eine Auffrischungs-Veranstaltung. Hmm… – ach ja, `Vertragsrecht im Bankgewerbe´ nannte sich der Zirkus. Da waren aber alle Kollegen aus der Region zusammen gerufen worden, die sich für drei Tage die Zeit nehmen konnten. Und die Rechnung habe ich gesehen. Inklusive Hotel und Reisekosten, waren exakt 36.000 Euro fällig, für diesen Herrn Doktor… – für die drei Tage.“
Sein Nachbar lachte dröhnend: „Von dem Geld veranstalten die Volltrottel vom Amt drei bis vier Kurse á zwei Wochen. Der Effekt tendiert gegen Null. Naja, die Dozenten sind selber kaum in der Lage, ihre Wissenslücken zu überspielen. Sind, nicht selten, kaum dem beruflichen Windelalter entwachsen.“
Während Heinrich die ihm notwendig erscheinenden Gegenstände aus seiner Tasche nahm, kam ein kaum fünfundzwanzigjährig wirkender Jüngling herein und ließ seine Tasche auf den Dozenten-Tisch fallen. Nun musste auch Köchmüller unwillkürlich lachen. „Siehst du, was ich meine.“, spottete der Nachbar über das Knäblein. „Nee näh, das ist doch jetzt nicht wahr!“, murmelte Heinrich. „Guten Morgen!“, grüßte der Picklige, versuchte den nur gering abebbenden Geräuschpegel zu übertönen. „Wie ich sehe, sind noch vier Plätze leer. Na, wir haben ja auch erst Viertel vor neun und unten stehen noch ein paar in der Anmeldung. Wir beginnen also erst mal mit einer Zigarettenpause.“
Auf dieses Stichwort hin, einem Startschuss gleich, begann Stühlegerücke, darin ging Heinrichs erstauntes Prusten unter. Sein Nachbar hatte sich erhoben, schlug ihm auf die Schulter: „Du sagtest gerade `Bank´. Also, hier gehen die Uhren anders. Nicht `Zeit ist Geld´, sondern `Anwesenheit´ ist das Maß der Dinge – und das bedeutet für die Statistikfälscher der Arbeitsverwaltung Ruhm und Pöstchen-Erhalt.“ Sprach's und schlenderte zigarettendrehend zur Tür. „Um neun Uhr wieder hier!“, rief das Büblein in das Geschiebe.
„Entschuldigung!“ Heinrich erhob sich und hielt dem Dozenten ein Schreiben entgegen. Der Schlechtbezahlte kam auf ihn zu. „Ich habe hier eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch im tiefen Süden der Republik.“ Heinrich wurde auf Abwesenheits-Formulare an der Info hingewiesen. „…Aber warten Sie bis nach zehn Uhr, dann ist das Montags-Chaos endgültig vorbei.“
Zwischen neun und elf Uhr lief die ausgiebige, zeitschindende Vorstellungsrunde. Der Vortänzer stellte sich als 28jähriger Ex-Fallschirmspringer vor, der im Laufe seiner Dienstzeit nicht nur im Balkan-Einsatz und in Afghanistan, sondern angeblich auch als Personenschützer im Regierungsviertel seinen Dienst getan haben wollte. Und nun, nach seiner Dienstzeit, seit einigen Jahren, als Unternehmensberater in Sachen „Sicherheit von Vorstandsmitgliedern“ seine Brötchen verdiente. „Und vor zehn Jahren, an seinem Vierzigsten“, wisperte Heinrich zu seinem Nachbarn, während der Dozenten-Bub sich weiter anpries, „hat ihm der Verteidigungsminister persönlich den Großen Zapfenstreich zu seinem hundertjährigen Dienstjubiläum gesungen.“ „Für uns, nur die Besten…!!“, bestätigte sein Nebenmann.
Da die vier Stühle zu seiner Linken leer geblieben waren, musste Heinrich den Vorstellungsreigen beginnen: „Heinrich Köchmüller, 43 Jahre, diplomierter Bankbetriebswirt, nach dem Börsenknall den Job verloren und...“
„Da trifft es doch endlich mal die Raffköppe!“, fuhr jemand aus der letzten Reihe dazwischen, „Wundert mich ja, dass du hier sitzt und nicht bei deinen dreckigen Judenfreunden auf Hawaii!“ - Vereinzelter Beifall.
Der Dozent wollte dazwischen gehen, doch Heinrich winkte ab: „…Zum einen ist der Job, den ich gemacht habe, von keiner Religionszugehörigkeit abhängig. Und zum zweiten: Ich war kein Investment-Berater, sondern habe solchen Leuten wie Ihnen…“ Heinrich drehte sich um und nahm den Spötter in Augenschein. „…Job und Arsch gerettet, wenn die betriebliche Überschuldung drohte oder die Familien-Hütte in Gefahr war.“ Der Störenfried in er letzten Reihe legte nach: „Oh, hört, hört! Der heilige Bankratius ist zu uns herabgestiegen!“ Er überhörte den Spott, ließ derweil seinen Blick über alle Anwesenden schweifen: „Tja, und da ich mich, so weit es nur irgend ging, nicht in diese, immer weiter um sich greifende, Maschinerie der Abzocke einspannen ließ, war ich logischerweise einer der Ersten, als es um Personalabbau ging.“ „Und jetzt lebt er bis zur Kiste von der dicken Abfindung in seiner 1.000 Quadratmeter-Villa.“
Köchmüller bezeichnete diese Unterstellung als Unsinn. Er klärte darüber auf, dass die oft genannten Millionenabfindungen in erster Linie Schweigegelder für die Vorstandsebene seien, sowie für Personen mit brisanten Akten in Schweizer Schließfächern. „Aber für das Fußvolk“, Köchmüller lachte, „gibt es solche Goldenen Handschläge nur in höchst begrenztem Maße. Also, wir wohnen ganz normal zur Miete. Von den 400m² im Haus und von dem Garten gehört uns nix, garnix...“ Das hätte er besser nicht erwähnt!
„Sag ich doch! Die Abzocker! Wer hat hier schon 100 oder gar 150 m² Wohnfläche zur Verfügung?“ Heinrich ließ den Lautsprecher quaken, was gingen diesen seine Familienverhältnisse an. Er drehte sich wieder dem Dozenten-Bub zu: „Tja, und nun sitze ich hier und bekomme hoffentlich von Ihnen das Sesam-öffne-dich für die Türen der…“
„Sesam-öffne-dich! So ein Banker-Geschwätz!“
„…für die Türen der Personal-Chefs genannt.“ Zu dem Störenfried gewandt: “Wir wollen doch alle wieder, unserer Qualifikation entsprechend, in Lohn und Brot! Äh… – Qualifikation… – das Wort ist bekannt?“
Der Dozent griff nun ein, um das Scharmützel zu beenden: „Damit wir möglichst zügig durchkommen, wollen wir kurz, knapp und ohne Zwischenrufe weitermachen. Waren Sie soweit fertig?“ Heinrich nickte desinteressiert und sein Nachbar zur Rechten sagte als nächster sein Sprüchlein auf. Für den Rest dieser Runde kehrte wieder gleichförmige Ruhe ein. Einziger Haltepunkt: Nicht etwa der Störer aus der letzten Reihe. Es war ein Zerspaner, dessen karge Worte, über vielfach befristete Arbeitsverträge, für merklich zustimmende Reaktionen sorgten. Gegen halb elf wurden die, morgens an der Info ausgeteilten, Formulare eingesammelt und Heinrich brachte den Stapel nun hinunter zur Info. Dort füllte er seine Abwesenheitsmeldung für den folgenden Tag aus. Eine Kopie der Einladung wurde der Meldung beigeheftet.
„Wegen der Reisekosten-Erstattung sollten Sie sich noch heute, also sofort, bei Ihrem Vermittler melden.“, riet ihm die Späterblondete, „Eine nachträgliche Beantragung von Kostenerstattungen ist nämlich nicht möglich.“
„Na, wenn das so ist, dann muss ich das wohl tun.“ Sofort bekam er einen weiteren Abwesenheits-Zettel in die Hand gedrückt. „Lassen Sie sich den bitte im Amt abstempeln und wenn Sie wieder hier sind, bitte in den Kasten.“ Wieder im Unterrichtsraum angekommen, hielt er das neue Formular Richtung Dozent und packte – natürlich nicht unkommentiert von den Spaßvögeln in der letzten Reihe – seine Sachen zusammen.
Mit der Straßenbahn ging es quer durch die Stadt zum Amt. Auf halber Strecke unterbrach er die Reise am Bahnhof. Dort druckte er sich einige Verbindungen aus. An der Auskunft in der Arbeitsverwaltungsstelle wurde sein Wunsch nach einem schnellen Gespräch mit jemandem, der den Fahrtkosten-Antrag bearbeiten könne, in äußerst begrenzter Freundlichkeit beantwortet: „Schnell haben wir nicht. Ich muss erstmal sehen, ob ich Sie heute noch unterkriege…“ Tastengeklapper… – „…Gehen Sie ins erste OG, in den Wartebereich. Sie werden Aufgerufen. Das kann aber etwas dauern.“
Nach knapp zwei Stunden war das „…etwas dauern…“ vorbei. Er saß bereits seit geraumer Zeit ganz alleine in der Wartezone, als endlich sein Name über den Gang gerufen wurde. Der Sachbearbeiter in der Gesprächskabine blickte nicht von seinem Bildschirm auf: „Nehmen Sie Platz, Herr… ähhh… Köch… -müller. Sie wollen also verreisen.“ „Nun ja, ist ja keine Lustreise. Und Ihr Haus hatte mir die Stelle zur Bewerbung vorgeschlagen. 'n Vorstellungsgespräch im Großraum Süd. Hier, bitte schön, ist das Schreiben, mit Adresse.“ Der Sachbearbeiter blickte kurz zu Heinrich, dann griff er nach dem Blatt, das ihm der Kunde entgegenhielt und starrte wieder, fleißig tippend, auf den Monitor: „Ach ja, ich sehe. Das ist ja schon mal ein Erfolg...“
„Das Gespräch ist Dienstag, um 11Uhr30.“
„Dienstag… – also morgen. Da kommen Sie aber reichlich knapp.“
„Wieso? Das Ding ist vom letzten Donnerstag datiert und lag bei mir am Samstag im Briefkasten. Und heute ist Montag. Oder haben sie neuerdings am Wochenende 'nen Notdienst eingerichtet?“
Der Bildschirmstar überhörte die Spitze: „Sie fahren mit dem Auto?“ „Mit dem Zug. Hier habe ich die Verbindungen ausgedruckt. Bei der bin ich um kurz vor elf am Zielbahnhof. Das dürfte passen, die sitzen nur zehn Fuß-Minuten vom Bahnhof. Und zurück fahre ich dann um 15 Uhr. Das dürfte ja wohl genügend Zeit sein, und ich bekomme auf jeden Fall, um 17 Uhr, den Umsteiger und bin um halb zwölf wieder zu Hause.“ „Sie übernachten also nicht?“ „Nein, nein, die Verbindung ist gut. Morgens um 4Uhr28 mit der Straßenbahn zum Bahnhof. Um kurz nach fünf geht dann der Zug.“ „Bei der Strecke hätte ich Ihnen auch ein Zimmer, bis 50 Euro, genehmigen können.“ Der Drucker begann zu summen. „Hier ist die Kostenübernahmebestätigung.“ „Oh, das geht aber schnell.“ „Tja, beim ersten Mal immer. Aber dann wird es kompliziert. Pro Fall gilt nämlich die Regel nur einer `großen´ Reisekostenübernahme. Alle weiteren werden von der vorgesetzten Stelle bearbeitet.“ „Ach ja, und diese hochwohlgeborene `Stelle´ ist sicher nur sehr selten im Hause.“ Heinrich deutete ein Grinsen an. Er wollte sich gerade erheben, als ihm das Formular von der Bildungsstätte wieder in den Sinn kam: „Ach, ich bräuchte noch einen Stempel, dass ich hier war.“ „Nöö, das ist jetzt im System. Die sollen sich meine Zusage kopieren. Da ist 'n Datum drauf… – Auf Wiedersehen.“
Hurtigen Schrittes erreichte er die Straßenbahn, saß, eine gute halbe Stunde später wieder in der Bildungsstätte auf seinem Platz und konnte sich, im nur noch halb gefüllten Raum, über zwei lange, ermüdende Stunden kleinliche Diskussionen über Fotos in einer Bewerbungsmappe anhören. Nach knapp einer Stunde reichte es ihm. Er täuschte vor, dass sich sein Handy gemeldet hatte und verließ den Unterrichtsraum. An dem Getränkeautomaten standen mehr als ein Duzend weiterer Teilnehmer, auch aus anderen Kursen. Man tauschte sich aus. Heinrich erfuhr, dass der Veranstalter die verschiedensten leichtgewichtigen Lehrangebote durchführte. Alle, mit denen er sprach, kannten das `Bewerbungs-Training´ aus eigener Erfahrung und es wurde als besonders groteske Zeitverschwendung eingestuft. Da war man sich ausnahmslos einig.
Ein paar Minuten später kam der Sitznachbar um die Ecke. Er drehte sich wieder eine dieser speziellen Zigaretten und sprach merklich bedächtig: „Heinrich… – …ich muss dich dringend warnen.“ „Was? Habe ich irgendwas falsch gemacht?“ „Ja!... – …Du hast den falschen Beruf… – …und kommst morgen besser in Zivil“ Heinrich blickte an sich herab, zog fragend die Stirn kraus. „Der Spinner in der letzten Reihe… –…alle nennen ihn nur `Full-Metall´… – …der hat dich auf dem Kieker…. – …Haste sicher… – …schon selber gemerkt…. – …Vor zwei Jahren ist sein Arbeit-Geber… – …durch einen Investmentfonds plattgemacht worden… – …So sieht er das zumindest…. – …Und nun tauchst du hier als so'n Banker auf… – …und dann noch mit Schlips und Kragen…. – …Also… – …ein rotes Tuch ist nichts dagegen…. – …Wir wollen hier kein unnötiges, eventuell handfestes Palaver…. – …wenn der Vogel, da hinten, ausrastet…. – …Der Typ hat, ganz klar, einen an der Klatsche…. – …Aber, das hast du dir sicher schon gedacht… – …So… – …ich bin jetzt erstmal eine dampfen.“ Der Gemütliche zündete sich, mitten im Rauchverbot, sein Krautstäbchen an und schlenderte entspannt zur Treppe. Der strenge Geruch des konisch geformten Glimmstängels erinnerte den Ex-Banker an Sünden aus längst vergangenen Jugendtagen...
Tief in der darauffolgenden Nacht wurde Heinrich „…von irgend so einem bekloppten Radiowecker…“ aus dem Schlaf gerissen. Einige Augenblicke vergingen, bis seine Augen scharf ziehen konnten. Tatsächlich 3Uhr55! Die Musik lief also schon seit fünf Minuten. Sein Gehirn täuschte ihm ein verzerrtes Echo vor. „Schluss mit dem Gedudel!“ Köchmüllers Hand landete auf dem Radio. Er raffte sich auf, wankte ein wenig auf dem Weg zum Bad, drehte dort die Dusche auf. Wenige Minuten später stand er, in voller Montur, vor der Schaltuhr-Kaffemaschine. Er nahm einen Schluck des belebenden Getränks und goss den Rest in seine Iso-Kanne. Ab damit, in die Ledertasche; dabei noch ein versichernder Blick hinein: Ja, es waren alle Unterlagen an Bord! Nun auf Zehenspitzen zur Tür, diese leise hinter sich geschlossen und dann zügigen Schrittes zur Haltestelle. Die kühle Nachtluft spülte seinen Kopf durch... Nach sechsstündiger Anreise hatte Heinrich sein Reiseziel erreicht. Genau fünf Minuten vor der Zeit stand er auf dem Stadtplatz einer jener malerischen Kleinstädte im erweiterten Einzugsbereich der bekannten Landeshauptstadt.
Die letztnotwendigen Schritte führten ihn durch den Arkaden-Gang, bis er das, ungefähr DIN-A3-große, Firmenschild der „Beyslböck-Invest“ entdeckte. Es hing neben einer schweren, uralten Eichentür. Mit dem Durchschreiten des Einlasses, übersprang er gut 150 Jahre. Aus dem Ambiente eines vormals königlichen Zeitalters, außerhalb des Gebäudes, wurde inwärts eine stylisch-weiße Marmorhalle mit einem, hypermoderne Kälte ausstrahlenden, Empfangsbereich. Das ebenso durchgestylte `Post-Post-Modern-Püppchen´ führte ihn, nach kurzem Wortwechsel, zu einem Konferenzzimmer. Er möge sich einen Moment gedulden, bis Dr. Beyslböck erscheine. Es vergingen nur wenige Augenblicke. Der Bewerber hatte gerade genug Zeit, seine Unterlagen aus der Tasche zu holen, als sich die Tür erneut öffnete.
Doch was er nun sah, kitzelte sein Zwerchfell, es brachte ihn nur auf den Gedanken: „Ein Kanarienvogel!!!!“ Mit aller Kraft musste der Bewerber ein Loslachen unterdrücken. Nicht deshalb, weil ein ungefähr sechzigjähriger, durch Sonnenbankmissbrauch dunkelbraun gerösteter Mann mit breitem Jacketkronen-Lächeln vor ihm stand. Auch nicht, weil sein Gegenüber bei gut 1Meter80 Körpergröße rund 30 Kilogramm Übergewicht aufwies. Das alles: Nein, kein Problem! Die visuelle Grausamkeit war der quietsch-gelbe, dreiteilige Anzug und die Tatsache, dass dieser auch noch eine Nummer zu klein geraten war. Hinzu kam ein dunkelblaues Oberhemd, auf dem eine hellrote Krawatte leuchtete. Das also war Doktor Eduard Friedberg-Beyslböck! Der österreichische Namensgeber der `Beyslböck-Invest.´, mit samt seinem allzu offensichtlich schwarzgefärbten Haar. Fehlten nur noch die Riesenschuhe, die rote Nase und die Autohupe zur Vervollständigung des grotesken Clowns-Kostüms.
„Ja, grias Goooht!“ Geschmeidigster K.u.K.-Hauptstadt-Dialekt. Der Kanariengelbe lachte den Stellensuchenden an. Heinrich hatte sich nach dieser Schrecksekunde wieder im Griff, lächelte zurück, konnte das ihm Gebotene aber immer noch nicht ernst nehmen. Er entschloss sich, das Spiel vorläufig mitzuspielen und abzuwarten, bis dieser nur allzu bekannte und aufdringliche Showmaster, fröhlich lachend, zur Tür hereinspringen und rufen würde: „Herzlich Willkommen in unserer Show! Dort ist die versteckte Kamera!“
Kaum dass beide Platz genommen hatten, ging die Tür erneut auf und hereinspaziert kam eine Frau, ungefähr in Alter und Korpulenz mit dem Dialektschleimer vergleichbar. Auch sie war in ihrem schwarzen Kostüm mit großen weißen Punkten und weißem sixties Schlapphut mindesten so dezent und unauffällig gekleidet, wie Beyslböck. Ihre leuchtendgrünen Augenlider überspitzten das verspachtelte Röstgesicht.
„Ahh“, der Doktor erhob sich angestrengt, „doarf ichch bekoannt mochen?! Dösss issst mäine liebä Frau!“ Heinrich überraschte nun nichts mehr. Er erhob sich, schickte in Gedanken Verwünschungen an den Showmaster, den er immer noch hinter diesem Spielchen vermutete, machte mit den Worten „Küss die Hand, gnää Frau.“, eine leichte Verbeugung. Er ließ sowohl seinen Augen als auch seinen Gedanken freien Lauf: „Wo ist die versteckte Kamera? Euch Pack krieg ich schon!“
Die Runde begann mit geschäftsmäßigem Small-Talk über die Anreise und das sonnige Föhnwetter. Heinrichs Anspannung löste sich ein wenig. „Also“, Dr. Beyslböck wurde nun ernst, „aus Ihren Unterlagen ist absolut zweifelsfrei festzustellen, dass Sie sich im Geldgewerbe auskennen und für uns – also für meine liebe Frau und mich – erste Wahl sind.“ Er blätterte geradezu demonstrativ in den vor ihm liegenden Papieren. „Internationale Finanz-Transfers sind Ihnen bekannt.“ Er nahm den Kandidaten in durchdringenden Augenschein. „Genau das ist unser Geschäft.“ Er blätterte wieder. „Wir erwarten von Ihnen absolute Verschwiegenheit und ein Maximum an Flexibilität.“, sagte es, ohne von den Unterlagen aufzusehen. „Da sehe ich keine Schwierigkeit.“, erwiderte Heinrich, „Wir müssen alle sehen, wo wir bleiben.“ „Das `Maximum´ von dem ich spreche, heißt auch Spontaneität. Wenn es sein muß, aus dem Stand nach Australien oder Indonesien. Und wenn ich `Chile´ sage, dann schauen Sie schon nach einer günstigen Verbindung.“ Der Unternehmer lächelte und schob die Begründung nach: „Wir legen das Geld unserer Klienten auch schon mal in bar an, weil es in verschiedenen Gegenden der Welt einfach der schnellste Weg ist, Entscheidungen vor Ort zu ermöglichen.“ „Bargeld lacht!“ Heinrich zeigte sich gänzlich auf gleicher gedanklicher Höhe. „Exakt. Da kann soviel Elektronik im Spiel sein, wie will, über Geldbündel sieht keiner hinweg.“ „Sie sind also das, was wir Banker einen … – …nun ja, sagen wir mal `Financial-Maverick´ nennen.“ „Hmmm… - Wenn eine Rückverfolgbarkeit ausgeschlossen sein soll, da kommen die Leute zu uns. Liegt alles zwischen knapp einer halben Million und im Extrem fünf, sechs Millionen.“ „Ich verstehe. Kapital-Fluchthelfer!“ Heinrich lehnte sich angewidert zurück. „Oba naaaaiiin!“, Dr. Beyslböck lachte wieder breit, „Alles völlig legal. Also, für unsere Steuerbehörden. Aber wir müssen vierdimensional denken. Viele Geschäfte laufen nicht nur in fernen Kulturkreisen ab, sondern auch – hinsichtlich Entwicklungsgesichtspunkten – unter anderen, teilweise geradezu vorgestrigen Bedingungen und tradierter Denkweise.“ Beyslböck blätterte weiter in der Bewerbungsmappe: „Ich kann mir vorstellen, dass Sie als Banker einer derjenigen sind, die nicht jedem Abzock-Geschäft hinterher laufen.“ „Wohl wahr.“ „Na, also. Und wir – also, meine liebe Frau und ich – sind da ganz auf Ihrer Wellenlänge. Wir wollen weder Probleme mit den Behörden, noch mit unseren Kunden haben. Als Familienbetrieb stehen wir doch immer direkt an der Front.“ Er blickte wieder auf die Unterlagen. „Nein, nein… - krumme Dinger können wir uns nicht leisten. Und auch unseren Mitarbeitern muten wir keine Gefährdungen zu, die nicht absolut, im Rahmen unserer langjährigen Erfahrungen, juristisch einzuordnen sind.“ Nun meldete sich auch Frau Beyslböck zu Wort: „Schau'n Sie, wir haben 25 handverlesene Mitarbeiter in unserem Unternehmen. Alle sind lange, zwischen 5 und bis zu 32 Jahren, für uns tätig. Und nie – ich betone – niemals wurde gegen uns Anklage erhoben... Natürlich gibt es immer wieder Ermittler, die sich wichtig machen und profilieren wollen. Aber wo nötig, da hat unser Anwalt vorher alles überprüft. Auch woher das Geld stammt, wird, so weit möglich, von uns in Erfahrung gebracht und streng dokumentiert.“ „Plausibilitätsprüfung?“ „Nein.“, sie blickte ernst, „Wir sind da viel empfindlicher, als Ihr bisheriger Arbeitgeber. Und warum? Weil wir persönlich haften. Und weil wir nur einen Rechtsanwalt haben und keine komplette Rechtsabteilung, wie eine Bank. Wir können weder Gesetze noch Urteile kaufen!“ „Und unser Leistungsspektrum ist auch anders gefächert“, pries der Ungefiederte unter den Kanarien sein Unternehmen an, „und vor allem individueller, als das einer gewöhnlichen Bank. Absolut maßgeschneiderte Vermögenstransaktionen. Häufig delikate Ausgleichs-Zahlungen, zwischen Wettbewerbern. Meist im Zusammenhang mit Patent-Streitigkeiten, von denen aber niemand erfahren darf. Wir machen auch häufig Kurierdienste. Also, wichtige Originalunterlagen, die weltweit überbracht werden sollen. Und mehr!“
„Und was ist nun genau meine Aufgabe?“
„Das haben wir uns, in der Anfangszeit, für Sie folgendermaßen vorgestellt.“, lächelte die künftige Chefin, „Sie sollen – vorerst als Kurier – ein Gefühl für unsere geographische Geschäftsdimension bekommen. Reisen soll für Sie so normal sein, wie ein Tag im Büro. Flugzeuge sollen ihnen so selbstverständlich werden, wie Straßenbahnen. Die Nutzung von Mietwagen so normal, wie Einmal-Pantoffeln in Hotels gehobener Kategorie. So sollen Sie denken. Dann kommen wichtigere Aufgaben. Diese eben erwähnten Patentstreitigkeiten. Aber auch diskrete Abfindungsgeschichten, die ebenfalls – auf keinen Fall! – an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Das heißt: Direkte Kundendienste im Bereich finanzieller Streitschlichtung, sowohl im Geschäftlichen, als auch im Privaten…“
Für Heinrich verschwand der Gedanke an die „Versteckte Kamera“. Das, was hier ablief, schien ihm zwar völlig surreal, und doch echt: Ein schrulliges Ehepaar hatte, ohne große Notiz durch die Öffentlichkeit, ein Finanz-Dienstleistungs-Unternehmen für den so genannten sicherheitsorientierten, öffentlichkeitsscheuen Unternehmer-Mittelstand geschaffen. Das allermeiste Geld dürfte voll versteuert sein, sollte aber trotzdem in Sicherheit gebunkert werden, bzw. unternehmerische Probleme lösen helfen.
Als wenn Dr. Beyslböck seine Gedanken lesen konnte: „Manchmal geht es um erpresste Schmiergelder. Wir Europäer sind eine Exportnation. Manchmal sind's Erbschaftsgeschichten. Der faule Sohn soll nix bekommen. Aber der fleißige Neffe soll einen guten Start haben. Und eine erhebliche Basis für die Nachfrage nach unseren Dienstleistungen sind uneheliche Kinder, die ohne Aufsehen versorgt werden sollen. Die Ehefrau soll nix von den Forderungen einer ehemaligen Geliebten wissen.“ „Es geht auch umgekehrt.“, lachte sie, „Er lebt nur für die Firma und sie bekommt Probleme mit ihrem... – nun, sagen wir mal – Gärtner. Und der ist ja bekanntlich immer der Mörder.“
Alle drei lachten laut. Das Eis war gebrochen.
Sie legte noch nach: „Es menschelt halt in unserem Geschäft. Und das jeden Tag. Deshalb auch die strikte Verschwiegenheit!“ „Ich verstehe.“ Eine weitere halbe Stunde wurden zusätzliche Details von Heinrichs Aufgabenstellung vertieft: Komplexe Abfindungsvereinbarungen für die Chefetagen, als Ergebnis von Fusionen, Schadenersatz- und Verschwiegenheitsvereinbarungen – auch in der Baubranche, sowie Vorfeld-Recherche im Rahmen der Standortsuche für Zweigniederlassungen usw. „Wir wollen jetzt nicht lang' um den heißen Brei herumreden.“, fasste der Doktor zusammen. „Können Sie sich vorstellen, diese Aufgaben zu übernehmen?“ „Mmmhh…. Ja, sicher.“
Heinrich war sichtlich erleichtert. Ihm fiel seine Frau ein, die ihn immer zu mehr Karriere anstacheln wollte. Zum „…Blick nach oben…“ und zur Nutzung der „…richtigen Kontakte…“. All dies konnte sich nun – ohne überbordende Korruption und Durchstecherei – von ganz allein ergeben.
„So, und bei der Vergütung fangen wir jetzt nicht mit den blöden Fragen an, was Sie sich denn so vorstellen können. Ich sage Ihnen klar heraus, wie es läuft: 120.000 Euro Brutto-Jahresbasis in der Probezeit. Nach einem halben Jahr ist entweder Schluss, oder ein Drittel kommt oben drauf. Und am Jahresende ist jeder mit einer überaus gesunden Prämie dabei. Wir reden also von 180 bis 200.000 im Jahr – wenn's läuft.“ Die Aussicht auf eine Einkommenssteigerung um knapp 70% provozierte Heinrichs Endorphin-Ausschüttung. Er lachte breit, wurde geradezu fordernd: „O.K.!!! Wann geht es los?“ „Sofort!“, klärte Sie die Lage, mit der Bekanntgabe dieser knappest möglichen Frist. „Wir sprachen von maximaler Flexibilität. Und... – sagen wir mal, dass es sich heute um einen Test handelt. Läuft alles rund, dann haben Sie den Job.“ Heinrich wies darauf hin, dass er seinen Reisepass nicht eingesteckt hatte. Er wurde dahin gehend beruhigt, dass ihn der Testauftrag innerhalb von Europa belassen würde. Die Schweiz sollte sein Ziel sein. Es handelte sich, nach den Worten Beyslböcks, nicht um Geld, sondern nur um einen versiegelten Koffer mit „...hochsensiblen Akten, den wir gerade abgeholt haben und noch heute überbringen müssen.“ „Das ist ja wohl kein Problem. Von hier in die Schweiz, da nehme ich den Zug, steige zweimal um und...“ Er durfte nicht mit der Bahn fahren. Heinrich wurde darüber belehrt, dass er gegebenenfalls die detailiert vorgegebenen, teilweise minutiös geplanten Durchführungsregeln strikt zu befolgen habe. Frau Friedberg-Beyslböck beendete das Gespräch mit der Äußerung, dass sie nun die Hand-Fracht aus dem Tresor holen wolle. Der Doktor klopfte Heinrich jovial auf die Schulter und bat noch einmal an den Verhandlungstisch. Aus der Schreibmappe entnahm er einen sorgfältig gefalteten Briefbogen und ließ den Hinweis folgen, dass darauf Adresse und Ansprechpartner genannt seien. Der Empfänger sei sein, also Beyslböcks, Firmen-Repräsentant in der Baseler Niederlassung und dieser würde, nach der Ankunft des Neu-Kuriers, alles weitere in die Wege leiten. Dem Fast-Mitarbeiter wurde zusätzlich ein großer Umschlag in die Hand gedrückt. Dieser sollte ebenfalls dem Baseler Mitarbeiter übergeben werden. „Und lassen Sie sich in der Filiale alles gut zeigen, dass wird dann wohl, zu Beginn des nächsten Jahres, Ihr alleiniger Dienstsitz.“ Erstaunt blickte Heinrich wechselweise auf Chef und Briefumschlag. „Keine Angst!“, der künftige Boss lächelte wieder breit, „Sie nehmen niemandem den Job weg. Der Rudi ist der Senior unter unseren Mitarbeitern. Wir haben ihn endlich überreden können, ab dem nächsten Jahr seine Rente zu genießen. Im kommenden März ist es dann so weit. Deshalb haben wir ja heute einen neuen Mitarbeiter gefunden, der nun sorgfältig eingearbeitet wird. Sie brauchen auch nicht den berühmten Sprung ins kalte Wasser zu befürchten. Der Rudi geht uns nicht verloren. Wir werden ihn auf Honorar-Basis noch ein wenig auf Trab halten. Und wenn es in Basel, in der Anfangsphase, mal eng werden sollte, dann rufen Sie ihn einfach an.“ Mit fortgesetztem, freundlichem Wortwechsel verließen die Beiden den Konferenzraum. Von der gegenüberliegenden Treppe kam ihnen die Chefin entgegen. Sie trug einen kleinen Hartschalenkoffer zum Informations-Schalter, öffnete ihn und gemeinsam blickten vier Augenpaare auf die darin enthaltenen Schnellhefter und den Aktenordner. Das handliche Gepäckstück wurde anschließend von der wohlpräparierten Empfangsdame versiegelt.
„Also.“ Die Chefin nahm, mit ihrem einnehmenden Donau-Dialekt, der folgenden Mahnung die Schärfe. „Das sind die Akten. Passen sie bloß gut darauf auf, sonst steht übermorgen ein Wirtschaftsführer mit einem Skandal in der Zeitung.“ Dr. Friedberg-Beyslböck gab ihm zu guter Letzt noch einen Wink mit dem Zaunpfahl auf den Weg: „Und denken Sie immer daran: Bringen Sie diese Dokumente zur Zeitung, so bekommen Sie eventuell einmalig 5.000 oder 10.000 Euro. Aber bei uns haben Sie eine Lebensstellung mit bis zu zehn Wochen Urlaub im Jahr, wenn Sie sich gut organisieren – kein Witz.“ Er unterstrich dieses dienstliche Bonbon: „Wenn ihre Zeitplanungen es zulassen, sagt niemand etwas, wenn Sie, am Ende einer Reise, in Neuseeland oder auf Bali ein paar Tage dranhängen, so Ihre Überstunden abfeiern. In einer Schokoladenfabrik ist es den Mitarbeitern auch nicht verboten zu naschen. Nur, wenn Alarm ist, gibt's kein Weihnachten und keinen 1.Mai und keine 40Stunden-Woche. Das muss absolut klar sein!“ Beyslböck schlug ihm wieder leutselig auf die Schulter. Heinrich fühlte sich, wie nach einem freundschaftlich geprägten Besuch in einem Heurigen-Lokal. Der Chef ergriff zum Abschied die Hand des neuen Mitarbeiters: „Ich bin überzeugt, dass wir schon einen guten Ersatz für unseren Rudi gefunden haben. Oder was meinst du, mein Engelchen?“ „Aber ja!“ Frau Friedberg-Beyslböck übergab Heinrich den Koffer und fuhr fort: „Da Sie mit dem Zug gekommen sind, kennen Sie den Bahnhof. Direkt gegenüber ist ein Autovermieter. Nehmen Sie sich eine E-Klasse, einen A6 oder einen 5er. Die Rechnung geben Sie nachher dem Rudi, das rechnen wir dann über Ihr Gehaltskonto ab. Sie sind doch so weit flüssig?“ „Äh, ja… – ja, ja.“, Heinrich sah sie und seinen neuen Chef, etwas verdutzt an. War das nun wirklich schon alles? War er jetzt tatsächlich eingestellt? Sie schien seine Gedanken zu erraten: „Ach ja, der Anstellungsvertrag läuft über die Niederlassung in Basel. Und all die Spielchen mit der Schweizer Arbeitsgenehmigung und der Sozialversicherung ist reine Formsache, da Sie ja einen Job vorweisen können.“ Heinrichs neue Chefin drückte ihm die Hand: „Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt. Und guten Start.“ Heinrichs Freude erhellte sein Gesicht: „Herzlichen Dank. Ich freue mich auf diese spannende Aufgabe!“ Sein neuer Boss lachte breit: „Und nun los! Zeit ist Geld. Sie werden etwa um 18 Uhr in Basel sein. Bis der Rudi alles Weitere mit Ihnen geklärt hat, ist es nach acht oder vielleicht um neun rum. Und dann wollen Sie ja auch noch zurück, in den Heimat-Hafen.“ „Und das Auto? Wo gebe ich das anschließend ab? In Basel oder auf dieser Seite?“ „Das ist mir im Grunde egal. Entweder Sie geben es am Ende, in der Filiale an der Grenze, an den Vermieter zurück. Oder Sie fahren damit nach Hause und drücken morgen früh, in der nächstgelegenen Filiale, dem Zuständigen die Schlüssel in die Hand. Aber bitte nicht vergessen: Rückgabe nur vollgetankt. Und – bitte, bitte – an die Quittungen denken! Immer an die Belege denken!“ Mit dem Hinweis auf weitere Termine verabschiedete sich das seltsame Paar endgültig von Heinrich und stieg wieder die Treppe hinauf. Ein sichtlich entspanntes und zufriedenes, „nützliches Glied der Gesellschaft“ verließ das Beyslböck-Gebäude elastischen Schrittes.
Mit seiner Ledertasche in der einen Hand und dem kleinen Hartschalenköfferchen in der anderen überquerte Heinrich die Fahrbahn des Stadtplatzes. Auf der anderen Seite der Fläche verpasste er, mit seinem Gepäck, einem in rostroten Farben chargierenden Bentley eine winzige Schramme unterhalb des Türgriffs. In seiner Hochstimmung badend, nahm Heinrich den Schaden nur am äußersten Rand seiner Aufmerksamkeit wahr. Durch die Aussicht auf den neuen Job, fühlte er wieder jenen Boden unter den Füßen, welcher ihm, rund ein halbes Jahr zuvor, entzogen wurde. Während des Marsches durch den Arkaden-Gang kam er an einer Bäckerei vorbei. Den Auslagen und der Aussicht auf eine frische, duftende Tasse Kaffee konnte er nicht widerstehen. Neben dem Heißgetränk bat er noch darum, dass man ihm zusätzlich eine Wurstsemmel und einen `Auszognen´ an den Tisch bringen möge. Letzteres war ein etwas ungewöhnlich geformter, in Fett gebackener Hefe-Ballen. Bis die Bestellung serviert wurde, aktivierte er sein Handy und berichtete seiner Frau das erfreuliche Ergebnis. Sie bat ihn, sich kurz zu fassen, da sie in wenigen Augenblicken mit der nächsten Unterrichtsstunde beginnen wollte. „Also…“ begann er das Telegramm und berichtete von einem „…reinen Familienbetrieb...“, und fasste unter der Überschrift „…die neuen Chefs sind wohl etwas abgedreht…“ den Inhalt des Gesprächs in zwei Sätze zusammen. Eine auf der Gegenseite gestellte Frage kam nur verstümmelt an. „…Bitte, nochmal!... – …Ach so… – Sofort. Es geht direkt los! Ich muss noch heute nach Basel!... – …Ja, heute Abend reden wir!“ Die Verbindung war weg. Seine Frau hatte das Gespräch weggedrückt. Heinrich konnte sie nur zu gut verstehen, stellte er sich doch die Meckerei der Schüler vor. Von wegen: „Handy aus!!! Das gilt für alle, in der Klasse!!!“
Die Zehn-Minuten-Sammlungspause war für den Reisenden die tatsächlich notwendige kurze Unterbrechung. Nun eilte er schnurstracks zum Bahnhof, fand tatsächlich, nach kurzer Suche, den Autovermieter, klärte dort sein Reisevorhaben, drückte der freundlichen Dame, nach Aufforderung, Führerschein, Personalausweis und Kreditkarten in die Hand, leistete sodann mehreren Unterschriften und bekam schließlich die Wagenpapiere samt Schlüssel ausgehändigt. Es erfolgte noch der Standard-Hinweis, dass zu beachten sei, dass in der Schweiz Maut-Gebühren fällig sein könnten. Nachdem die Formalien geklärt waren, steuerte er auf einen der schwarzen Sechszylinder Diesel zu, verstaute sein kostbares Gepäck auf der Rückbank, machte es sich im Fahrersitz bequem und gab sein Reiseziel in das Navigationsgerät ein. Der Motor wurde gestartet.
Und los ging es. Auf zu neuen Ufern!
Rund eine Stunde nach seinem Start erhielt Heinrich einen Anruf. Ein Rudolf Patschke meldete sich. Da sich der Wagenlenker nichts unter dem Namen vorstellen konnte, kam in breitestem Singsang-Dialekt die Erklärung: „D'r Chef säät immer nur `Rudi´ för misch.“ Der Groschen fiel. Grund des Anrufes war eine kleine „Umdisposition“. Heinrich sollte sich direkt am Baseler Bahnhof einfinden, die Erklärung würde vor Ort folgen.
Als er, vier Stunden später, den vereinbarten Treffpunkt erreichte, winkte ihm ein sonnengebräunter älterer Herr, mit leuchtend weißem Haarkranz. Heinrich steuerte auf den Mann zu. Dieser öffnete die Tür mit einem: „Joten Tach! Esch bin d‘r Rudi Patschke! Esch hoff' du häs äne jote Fahrt jehabt.“ und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Heinrich solle bloß schleunigst vom Vorplatz herunterfahren, drängte der Zugestiegene nachdrücklich, da dort absolutes und streng kontrolliertes Halteverbot herrsche. An einer Ecke, ein paar hundert Meter entfernt, könne man für einige Minuten stehen, dirigierte ihn der Beifahrer. Dr. Beyselböck habe angerufen und berichtet, dass der `Neue´ seit morgens um vier Uhr unterwegs sei, begann Rudi. Nach Heinrichs Bestätigung, kam die Erklärung für die Zieländerung: Der Doktor habe sich, Heinrichs künftigem Kollegen gegenüber, darüber besorgt gezeigt, sollte dieser, nach dem langen Tag, auch noch die weite Strecke mit dem Auto zurück nach Hause fahren. „Deshalb“, meldet der Beifahrer die Konsequenz aus einer Weisung des Chefs, „gibst du mir die ganzen Wagenpapiere und ich mache dann alles direkt über die Firma. Und das hier ist dein Bahnticket. In einer halben Stunde geht der Zug.“ Rudi überreichte die Fahrkarte und beendete das Thema, indem er seine Hände auf die Oberschenkel klatschen ließ: „So! Und nun zum eigentlich Wichtigen deiner Reise: Hast du die Dokumente?“ „Ja, natürlich!“ Heinrich deutete lässig Richtung Rückbank. Sofort stieg Rudi aus dem Wagen, öffnete die Fond-Tür, zog das Köfferchen und das große Kuvert aus dem Wagen. Innen war zu hören, wie das Gepäckstück auf das Wagendach gelegt wurde. Es vergingen einige Augenblicke, bis für Heinrich das freundliche Gesicht des anderen wieder sichtbar wurde. „Alles in Ordnung. Siegel war O.K. Und der Inhalt komplett.“ Mit dieser Feststellung setzte sich der künftige Rentner wieder in den Wagen, das Köfferchen auf dem Schoß. Er telefonierte in Mithörfunktion mit dem Boss. Auf Anweisung des Chefs kam der große Umschlag ins Spiel. „So, und hier ist dein Vertrag. Guck ihn dir an!“ Das Couvert wurde aufgerissen und wanderte daraufhin zu Heinrich. Dieser entnahm die zwei Vertrags-Exemplare, überflog den Inhalt und nickte mehrfach zustimmend. Auf der letzten Seite waren bereits sowohl Stempel als auch Unterschrift vom neuen Arbeitgeber eingefügt. Rudi hielt ihm einen Kugelschreiber hin. Die Unterschriften wurden geleistet. Nun hatte Heinrich einen neuen Job! – So einfach ging das! „Und wann soll es jetzt richtig los gehen?“, fragte der `Neue´. „Du bist doch schon dabei. Hast du die Terminierung nicht gesehen. – Steht doch da: Bla, bla, bla… …ach, hier ist es: …beginnt mit dem oben stehenden Datum des Vertrages…. Und Datiert ist er auf heute. Willkommen im Club!“ Sie unterhielten sich noch einige Minuten über die künftigen gemeinsamen Aufgaben und dass er in den nächsten Tagen das Büro sehen würde; bis Rudi endlich aus dem Wagen stieg und auf Heinrichs Seite kam: „So, nun beeile dich aber mal. Dein Zug geht in zehn Minuten. Und vergiss deine Mappe nicht.“ Wenige Augenblicke nach der Verabschiedung stand Heinrich mit seiner Ledertasche auf dem Bürgersteig und grüßte hinter dem davonbrausenden Wagen her. Beinahe wäre der schwarzen Limousine, ein kupferfarbenes Nobel-Auto aufgefahren, aber das interessierte Heinrich schon nicht mehr. Er beeilte sich, den kurzen Fußmarsch, zurück zum Bahnhof, hinter sich zu bringen.
Die große Anzeigentafel in der Bahnhofshalle zeigte ihm, dass der Rudi sich geirrt haben musste. Das Gehetze zum Bahnhof entbehrte jeder Notwendigkeit. Die Schweizer waren seit Langem in der Lage, ausnahmslos alle Zugverbindungen in einem kundenfreundlichen Taktsystem aufeinander abzustimmen; eine staatsweite, langjährige Präzision, die in Heinrichs Heimat, ganz offen und bereits beginnend bei Verkehrsverbund-übergreifenden Nahverkehrs-Planern, als utopische Forderung meckerköpfiger S-Bahn-Nutzer hingestellt wurde. Jedoch, in der aktuellen Situation des künftigen Weltreisenden bedeutete dieses Präzisions-System, dass sein Zug erst in gut einer halben Stunde abfahren würde – vorausgesetzt, dass der Zug treffe, über die Grenze kommend, halbwegs pünktlich hier, an seinem Endpunkt ein, um dann, zwölf Minuten später, den Rückweg in Angriff zu nehmen. So ganz ohne Fränkli in der Tasche, waren Heinrich die reichlich dargebotenen Speisen und Getränke verwehrt und auf die – wie er vermutete – Eins zu Eins Wechselangebote, in den Freßecken, wollte er sich nicht einlassen. Schon zum regulären Umrechnungskurs, war alles recht üppig ausgepreist. Auch die seltsam geformte, weltbekannte Schokolade, mit der man sich so wunderbar seine Vorderzähne herausbrechen konnte. Aber, um ihn abzuzocken, da mussten die Eidgenossen schon wesentlich früher aufstehen. Schweizer Präzision war das eine, apothekengleiche Preise das andere. Wer waren die schon, dass sie meinten einem Heinrich T. Köchmüller das Fell über die Ohren ziehen zu können. Mit diesen Gedanken, basierend auf wiedererstarkendem Selbstbewusstsein, schlenderte er zum Bahnsteig und nutzte die Zeit, seine Lieben daheim, per SMS, über die neuesten Entwicklungen zu unterrichten. Nachdem sein Zug bereitgestellt war, setzte sich Heinrich direkt in den Speisewagen. Ein Hefeweizen und die Rinderroulade, von irgend so einem Starkoch krèiert, sollten ihm auf der Rückfahrt, den Magen füllen. Als der Fahrkartenkontrolleur auch an seinen Tisch kam, gab es eine kleine Überraschung. Erst jetzt fiel dem Passagier auf, dass er sich gleich mit einer Tageszeitung in der 1. Klasse verkrümeln konnte; welch noble Geste vom neuen Chef. Zu dem Genuss der Zeitung kam er nicht mehr. Kaum dass der Reisende, wohlgenährt, seinen Platz in einem leeren Abteil eingenommen hatte, lasteten sowohl die Tageslänge, als auch das Bier und die Zufriedenheit mit der neuen beruflichen Situation auf seinen Augenlidern. Irgendwann wurde die Abteiltür aufgerissen. Heinrich schreckte hoch. Ein Pärchen mit zwei dicken Koffern gesellte sich zu ihm. „Oh Mann, wie weit bin ich denn?“ Er schraubte seine Augen scharf und konnte, aus dem anfahrenden Zug, gerade noch das vorbeiziehende Stations-Schild erblicken. Nun war es also nicht mehr weit. Er blätterte lustlos in den ausgelegten Reisemagazinen und blickte immer wieder ungeduldig auf die heran huschenden Lichter, der durcheilten Haltepunkte. Sein Bedarf an Zugfahren war für diesen Tag reichlich gedeckt.
Kurz nach ein Uhr nachts schloss Heinrich endlich die Haustür auf. Alles war ruhig und dunkel. Er schaltete das Licht ein, hängte die Ledertasche an die Garderobe. Der schlaftrunkene Wachhund kam auf ihn zugetrottet, guckte zu ihm hoch, gähnte demonstrativ und schleppte sich, unter der Last des gestörten Schönheitsschlafes, zurück zu seinem Ruhekorb, neben der Kellertreppe. Dort angekommen, stupste er, mit der Nase, seine Liegestatt zurück unter den schweren Eichentisch und vergewisserte sich augenfällig, dass von dem Korb auch bestimmt nichts mehr unter dem Eichenmöbel hervorragte. Dies war eine unabänderliche Notwendigkeit! Falls nämlich ein Gewitter heraufziehen sollte, war Schnuffi, auf jeden Fall, auf der sicheren Seite. Wenige Sekunden später lag das Vieh, gähnend, den Kopf auf dem weichen Gummiknochen gebettet, in seiner Bettstatt und träumte sicherlich von heroischen Jagden nach geworfenen Tennisbällen oder von Würstchen, die ihm die Kinder heimlich zusteckten. Heinrich sah dem Treiben des Tieres entgeistert zu, murmelte resigniert: „Hund verkaufen, selber bellen.“ Kopfschüttelnd wandte er sich Richtung Küche, nahm die Iso-Kanne aus der Tasche, spülte diese aus, stellte sie neben die Kaffeemaschine und stieg dann hinab in den Keller.
Er wollte möglichst wenig Lärm machen, so nutzte er dort unten die Dusche, neben der Sauna. Frisch abgespült, tastete er an dem Kunststoffvorhang vorbei, nach dem Badetuch, doch der Haken war leer. Auch auf der kleinen Ablage war kein entsprechendes Frottee. „Nee näh?! Das ist doch jetzt nicht…“ Nass, wie ein Frischgeduschter, tappte er durch den kühlen Keller bis hinauf ins Bad auf der Belle Etage, um dort genervt und gänsehäutig festzustellen, dass nun ein Handtuch auch nicht mehr wirklich nötig war.
Er zog seinen weißen Bademantel über, war noch viel zu aufgedreht von der Reise, darum wurde von ihm kurze Zeit später, im Wohnzimmer, der Fernseher eingeschaltet. Nun dauerte es tatsächlich nur wenige Minuten, bis er über der nächtlichen Wiederholung einer, dieser „…stupiden, arsch-kriech-schleimgefragten Worthülsen-Leerlaber-Antwort-Talkshows unter der Leitung eines grenzdebilen Journalisten-Derivats, welches die Runde der mirkozefalitischen Satzbaustein Ventilatoren dirigiert...“ einschlummerte. „Moderator bedeutet Mäßiger, noch viel, viel mäßiger“, dachte er noch, „und es ist… – auch klar… – warum...“