Читать книгу Die Köchmüller-Papiere - i.A. - H.T.K. - Страница 7

K3 – Aber ich hab doch gar nicht…

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Es war bereits helllichter Tag, halb zehn im ganzen Land, als Heinrich T. Köchmüller auf der Couch im Wohnzimmer hochschreckte. Er hatte doch tatsächlich verschlafen! Frau und Kinder waren beizeiten außer Haus. Jemand von ihnen hatte ihm wohl frühmorgens eine Wolldecke spendiert und die Flimmerkiste ausgemacht. Aber dann fiel ihm ein, dass er nicht mehr in die Vorgaben der Arbeitsverwaltungsstelle eingesperrt war. Welch eine Freude. Ihm ging es richtig gut. Ihm behagte der Gedanke, in gut einer Stunde durch die Tür der Arbeitsbürokratie zu gehen und seine Abmeldung auszufüllen.

In seinem weißen Bademantel schlenderte er zur Küche. Beim Vorbeigehen fiel sein Blick in den großen Garderobenspiegel. Er blieb stehen, baute sich vor der Glasfläche auf, verbeugte sich: „Jetzt fehlt nur noch das gläserne Klavier… – Bald geht es nach New York. Auf'n Sprung mal nach Tokio… – äh… Hawaii… – ach ja… – verhandel ich in Südamerika Verträge mit wichtigen Patrones … äh… naja...“ Sein Spiegelbild grinste ihn an.

In der Küche griff er nach der alten Kaffeemühle, kurbelte sich beschwingt eine Handvoll Bohnen zu Mehl, nahm einen Topf, füllte diesen mit einem Becher Wasser, brachte selbiges zum Kochen und streute anschließend das Kaffeemehl hinein. „Drei Mal aufkochen lassen und dann den Zucker hinzu. Das ist das Geheimnis! Da schmeckt dann einer wie der andere! Aufgekocht und frisch gebrüht, von Köchmüller und Söhne!“ Aus etwas überzogener Höhe goss er den Sud, durch ein Teesieb in seinen Kaffeebecher: „Damit die Blume sich entfaltet!“ Er lachte und nippte an dem Gebräu. „Merken Sie, wie wohl es ihrem Kreislauf tut?“

Mit dem Bohnerwachs-und-Spießigkeit-Lied auf den Lippen spülte er den Topf aus. Dabei fiel sein Blick auf einen gelben Notizzettel, der an der unbenutzt herumstehenden Kaffeemaschine hing. Die Autovermietfirma hatte sich gemeldet. Den wohlgefüllten Kaffeepott in der einen Hand, wählte er die angegebene Nummer mit der anderen.

Es vergingen kaum 30 Sekunden, da war Heinrichs Kaffee-Durst völlig vergessen. „Aber das kann doch gar nicht sein! … – Was macht der denn da?… – Ja, natürlich wurde der gestern abgegeben… – Nur nach Basel, zu einer Besprechung… – Was für ein tracking? … – Ach, der wird immer überwacht?! Ja, dann wissen Sie doch, wo er ist. Der steht sicher vor Ihrer Filiale… – Wie? Nicht abgegeben?!? Sie haben nur nicht richtig geguckt!… – Da haben Sie vollkommen Recht, so ein großes Auto übersieht man nicht: `Mal eben so'. Vielleicht war auf ihrem Parkplatz alles voll und der Rudi hat ihn an den Straßenrand gestellt… – Das ist der, der den Wagen zu Ihnen bringen wollte… – Natürlich ist der nicht als Fahrer eingetragen. Da habe ich ja noch nicht gewusst, dass es den Rudi überhaupt gibt – ich meine dass der den Wagen übernimmt… – Na, um ihn bei Ihnen abzugeben… – Ich habe dem Herrn Patschke die Papiere und alles gegeben und der hat ihn dann zu Ihrer Filiale gebracht… – Ja, was weiß denn ich. Halt zur nächsten Niederlassung Ihrer Firma bei Basel eben. Steht doch auf der Liste… – Entweder gestern Abend noch, oder heute früh… – Ja sicher, bin ich mir da sicher… – Hat er mir doch gesagt, dass er das so macht… – Kein Signal? … – Wieso Osteuropa?… – Nur Schweiz!… – Basel! Sonst nix…“ Heinrich lief es eiskalt den Rücken herunter. „Ich habe Sie jetzt richtig verstanden? Der Wagen ist von Basel über Österreich und Ungarn nach Rumänien und dort ist die GPS-Überwachung abgebrochen... Ja, ich gehe hier am Ort in die Filiale. Das klärt sich dann alles.“

Heinrich rannte die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf, startete seinen Rechner, rannte, während dieser hochfuhr, wieder hinunter und riss seine Ledertasche von der Garderobe. Als er wieder vor seinem Computer ankam, suchte er die Web-Site der Beyslböck-Invest. Die Nummer vom „Rudi“ in der Baseler Niederlassung war schnell gefunden. Doch er konnte es sowohl dort, als auch in der Zentrale in Wien versuchen, überall das gleiche: „Kein Anschluss unter dieser Nummer!“ Mit zittrigen Fingern unterbrach er die Verbindung. Ganz langsam legte er das Mobilteil neben die Ladestation. Mit leerem Blick starrte er auf den Bildschirm. Noch vor wenigen Augenblicken war ihm siedend heiß, nun begann er, vor scheinbarer Kälte, zu frösteln. Jetzt fiel ihm auch auf, dass er nie über einen Festnetzanschluss kontaktiert worden war. Er griff zu seinem Handy, scrollte die Liste der empfangenen Nummern durch. Alles da! Trotzdem, er fühlte sich wie gelähmt. Schwerfällig erhob er sich vom Schreibtisch, um sich anzukleiden. Eine Weile später verließ er das Haus, mit seiner Ledertasche unter dem Arm.

Vor der Filiale des Autovermieters stand ein Streifenwagen der Polizei. Köchmüller zögerte. Für einen kurzen Moment dachte er an Umdrehen und Weglaufen. Vielleicht sollte er schnell die Kanzlei des Schonhoff-Clans kontaktieren, auf dass sie ihm ihren Nobel-Anwalt zur Seite stellten. Diesen Gedanken verwarf er wieder, seine verschwägerte Verwandtschaft ging das nichts an! „Egal jetzt!“ Heinrich atmete zweimal tief durch und öffnete die Eingangstür.

Am Empfangsschalter füllten zwei Polizeibeamtinnen irgendwelche bunten Formularbögen aus. Kaum dass er sich vorstellen konnte, machte ihm die Niederlassungsleiterin der Autovermietung, in geschäftsmäßig knappem Ton, klar, dass der Verlust des Wagens, in seinem Fall, wegen seiner Mittäterschaft, wohl kaum von der Versicherung gedeckt sei. Er habe sich geschnitten, wenn er glaube, auf diese Art einen Gewinn zu erzielen. Sie legte ihm Formulare vor, die er sofort unterschreiben sollte: „Sie haben den Wagen mit allen Papieren, also mit der Kopie des Mietvertrages, Fahrzeugschein und Schlüssel an eine, ihnen völlig fremde Person weitergegeben?“ „Nein!“ „Also, waren Sie mit dem nicht genehmigten Fahrer bekannt?“ „Er ist ein Kollege. Also, fast… – eigentlich…“ „Ja, was denn nun?“ „Ich hatte doch erst in der Firma angefangen. Mein erster Tag. Und der Kollege wollte den Wagen für mich zurückgeben, weil ich doch den Zug nach Hause bekommen musste.“ „Wenn Sie jetzt bitte hier – hier – hier und dort bitte zweimal unterschreiben würden.“ Heinrich griff in einem Zeitlupenreflex nach dem Kugelschreiber. Nun meldete sich eine der beiden Polizistinnen zu Wort. „Ist Ihnen der Wagen tatsächlich gestohlen worden?“, fragte die Beamtin mit den drei Silbersternen auf den Schulterklappen, „Das ist übrigens Oberkommissarin Schmied und ich bin Hauptkommissarin Schmied – nicht verwandt und nicht verschwägert, nur heute, wegen Personalengpass, gemeinsam auf Streife. Aber zurück zum Thema: Ihnen wurde der Wagen gegen Ihren Willen weggenommen?“

Heinrich starrte noch immer, wie paralysiert, auf die Formulare. Erst als er von der Beamtin angestubst wurde, schreckte er aus den Gedanken an die Geschehnisse vom vorigen Tag hoch: „Äh… – Ja!… – Aber das ist alles nicht so einfach… – Mein neuer Job… – Alles nur Betrug...?“ Er blickte hilflos in die Runde.

Die Dreisterne-Schmied-Beamtin wollte der Sache nun auf den Grund gehen. „So geht das nicht!“, stellte sie fest, wandte sich an die Filialleiterin, „Haben Sie einen Raum, in dem man ungestört sprechen kann?“ Sie zog, während der Worte, Heinrich vorsichtig den Stift aus der Hand. Die verpatzte Unterschriftenaktion wurde von der Verleih-Chefin mit bösen Blicken quittiert. Trotzdem zeigte sie auf ein Büro, dass genutzt werden konnte. Die beiden Beamtinnen baten darum, mit Heinrich ohne weitere Zuhörer sprechen zu können und schlossen die Tür vor der Nase der Area-Managerin. Die Drei nahmen Platz und Heinrich öffnete sofort seine Ledertasche, entnahm ihr die Unterlagen. Das Erlebte des vergangenen Tages platzte aus ihm heraus. Mit den entsprechenden, erklärenden Worten zeigte er den Beamten seine Bewerbungs-Unterlagen, die Einladung der Beyslböck-Invest., die Reisekostenübernahmebestätigung von der Arbeitsverwaltungsstelle, die Bahnfahrkarten und am Schluss seinen unterschriebenen und abgestempelten Anstellungsvertrag. Nach gut fünf Minuten und einigen, wenigen Zwischenfragen, brach die Hauptkommissarin das Gespräch ab: „Es scheint offensichtlich, dass Sie sich sofort mit unseren Spezialisten unterhalten müssen.“ Der Geknickte nickte, ohne wirklich zu wissen, was die Worte der `Landes-Beamtin im Polizeidienst´ bedeuteten. „Wir verfahren nun folgendermaßen: Sie kommen jetzt erstmal mit ins Präsidium. Nein, nein, Sie brauchen nicht zu erschrecken. Sie sind nicht festgenommen. Ein kleiner Tipp noch: Lassen Sie sich jetzt, beim Hinausgehen, von der Niederlassungsleiterin keine Unterschriften abschwatzen. Sie begleiten meine Kollegin, am besten direkt zum Fahrzeug. Wenn wir im Präsidium angekommen sind, gehen wir direkt zu unseren Kollegen vom Dezernat für Betrug und Wirtschaftskriminalität. Und da wird dann alles weitere entschieden. Schauen wir mal, was noch zu retten ist. Ach ja, und falls Sie einen Anwalt kennen, machen Sie mit diesem schleunigst einen kurzfristigen Termin. Von der Rechtsabteilung des Autovermieters und dessen Versicherung werden Sie sicher noch einiges hören.“ „Ja, aber ich habe doch gar nichts...“ „Sie stehen unter dem latenten Verdacht,“ meldete sich Zweisterne-Schmied, „nun… – wenn es ganz hoch kommt: unter dem Verdacht der Tatteilnahme an Straftaten der Organisierten Kriminalität!“

Heinrich wurde bleich. Er schwankte ein wenig.

Die etwas besser bezahlte Uniformträgerin nickte zustimmend und ergänzte eine nicht minder niederschmetternde Möglichkeit: „Oder Sie sind nur das überrumpelte Opfer von Trickbetrügern, die eine nahezu perfekte Show abgeliefert haben.“ Die Drei verließen das Büro. Während die Einsatzleiterin weiter mit der Chefin der Niederlassung sprach, begaben sich Heinrich und die zweite Beamtin zum Streifenwagen. In dem Moment, als er in das geöffnete Fahrzeug einsteigen wollte, rief jemand: „Hey, Sie da!!!“ Heinrich drehte sich überrascht um und blickte direkt in das Objektiv einer Foto-Kamera. Prompt brannte das grelle „Vögelchen“ in seinen Augen. Die Beamtin herrschte den Medien-Mann an: „Verpiss dich, du Wegelagerer!“. „Hey, hey, hey!!! Pressefreiheit!!! Ich mache hier nur meine Arbeit!!! Genauso, wie Sie!!!“ „Und ich erteile Ihnen gleich einen Platzverweis, wenn Sie nicht genügend Abstand halten!!!“ „Platzverweis? Also, ist das hier doch ein Tatort! Um was geht's denn? Schlägerei? Geiselnahme? Mord?“ „Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle! Ich bin nicht befugt, irgendwelche Auskünfte zu erteilen.“ Sie hielt ihre Hand vor das Objektiv. In der Zwischenzeit hatte sich Heinrich auf der Rückbank des Wagens verkrochen, die Tür geschlossen und verbarg sein Gesicht hinter seiner Ledertasche. Wieder und wieder erhellten Blitzlichter das Innere des Wagens. Ach, wenn doch nur irgendwo ein Mauseloch gewesen wäre. Der vermeintliche Schwerverbrecher fühlte sich, in seiner Betrogenheit, wie noch nie, unter Druck gesetzt. Ihm erschien es wie Ewigkeiten, bis die leitende Beamtin aus dem Laden kam und sie endlich abfuhren.

Im Gebäude der Staatsmacht musste Heinrich noch gut eine Stunde warten, bis man sich seiner annahm. Es schien, als hätte sich die Zeit gelohnt. Er wurde in einen Konferenzraum geführt. Das Empfangskomitee kam offenbar aus der Teppich-Etage: Vier Beamte, keine Uniformen. Der Grauhaarige im Quartett, ein `Kriminalrat´, und sein Helferlein, ein `Erster Kriminal-Hauptkommissar´, gaben sich aus, als die leitenden Köpfe des Dezernats: `Organsierter Betrug und Wirtschaftskriminalität´. Das körperliche Format des Kommissars erinnerte Heinrich sofort, an die Kunstrichtung `Vierschrötiger Kubismus´. Der Dritte im Bunde schob derweil seine Unterlagen zusammen, stand auf und stellte sich vor, als Wirtschafts-Staatsanwalt. Nr. Vier, weiter hinten am Konferenztisch sitzend, spielte den stummen Diener, deutete nur durch Kopfbewegung einen Gruß an.

Vom Anblick der geballten Staatsmacht merkwürdig berührt, behagte Heinrich die Versammlung immer weniger. So wollte er die Lage schnellstmöglich klären: „Kann es sein, dass ich jetzt, erstmal, mit einem Rechtsanwalt sprechen möchte?“

Mit stechendem Blick sah ihn der Staatsanwalt an: „Das ist und bleibt Ihnen jederzeit unbenommen. Allerdings glaube ich, dass Sie wohl keinen benötigen, wenn Sie mit uns in vollem Umfang kooperieren.“ In Heinrichs Ohren erzeugte das Wort „kooperieren“ ein Echo. Wieder dieses Unbehagen! So stierte er angespannt zurück, presste die einzige, adäquate Frage durch die Zähne: „Was geht hier ab???“

Nun“, nahm der `Erste-HK´ den Ball auf, „wir wollen wissen, was Sie uns zu dem Thema Autoschieberei sagen können.“ Heinrich: „Nix!“ Der Herr Rat: „Das wollen wir hier prüfen!“ Heinrich: „Nur zu…! Ich meine: Wozu? Ich wurde in Basel...“

Er wurde in Basel… Und nun? Nun wurde er, in seiner Heimatstadt. Als Kunde der Polizei. Für gut zwei Stunden, noch einmal in die Mangel genommen… - diesmal in die Staatsmangel. Er berichtete von dem Treffen mit dem seltsamen Paar, von der Eröffnung einer teils wundersamen, teils wunderbaren beruflichen Perspektive, von überraschender Testaufgabe samt Reiseziel, vom Empfang durch den Mitarbeiter des vermeintlich künftigen Arbeitgebers. Abschließend betonte er die Vorgabe des Verkehrsmittels und die überraschende, aber letztlich schlüssige Begründung für die Änderung des Treffpunktes am Zielort, samt der niederschmetternden Folgen.

„…einen Chef“, schloss Heinrich, „der anständig um die Gesundheit der Mitarbeiter besorgt ist?! Wo findet man sowas? Also… – ganz ehrlich… - ich war begeistert!“ Seine Stimme flachte ab. „Naja, vielmehr überrumpelt, wie ich jetzt weiß...“

Der Staatsanwalt fasste ungerührt nach: „Und Sie haben von dieser Firma vorher noch nie gehört?“ Heinrich lachte gequält, betonte zwanzigjährige Dienstzeit, mit Kontakt zu den unterschiedlichsten Kunden: „…aber einen Kanarien-Vogel habe ich nie zuvor im Büro gehabt.“ Der Volljurist im Staatsdienst zog nur die Augenbrauen hoch. „Na, ich mein' den Zitronen-Anzug. Das man sowas überhaupt kaufen kann.“ Heinrich lachte kurz und heftig auf. „Sie müssen sich das mal vorstellen! Da steht so ein Clown, nebst seiner Miss Piggi im Sechzigerjahre-Kostüm, vor einem… – grinst schwabbelig, labert von reichlich freier Zeiteinteilung in einem interessanten Job… - also wirklich… – das ist doch sowas von absurd...“ Heinrich lachte wieder kurz. „Das Ganze ist doch so surreal, dass es schon wieder real wirkt! Da denk' ich doch an alles Mögliche. An einen irren Streich von durchgeknallten Fernseh-Clowns. Aber doch nicht daran, dass mir ein paar Betrüger das Fell über die Ohren ziehen… – äh...“ Für einen Moment starrte Heinrich ins Leere, fand dann wieder zurück. „…Was wollten Sie noch mal… – ach ja, ob ich von denen schon mal was gehört habe… Beyslböck… – oder Beyslböck-Invest. … – Nee, weder damals, bei der Bank, noch sonstwie, bevor ich den Stellenvorschlag bekam. Und vor allem: Wenn mir die Arbeitsverwaltungsstelle den Vorschlag macht, dass ich mich da vorstellen soll, dann muss ich das machen… - und die Sache ist für mich somit Real… – Korrekt! - Koscher! Dann fahr' ich da hin.“

Also, Sie haben von der Arbeitsverwaltungsstelle den Vorschlag bekommen.“, fragte der Kriminalrat, „und das passiert einfach so?“ „Ja!“ Heinrich überlegte kurz. „Nein… - Nein! Natürlich nicht so ohne weiteres, aus heiterem Himmel! Es gibt bestimmte Suchkriterien – schätze ich mal – da sucht jemand einen Mitarbeiter und gibt die-und-die Qualifikationen vor. Das Amt spukt dann ein paar Kandidaten aus. So eine Liste, wie… - wie auf einer Gebrauchtwagenseite. Tja, und in diesem Fall war halt mein Name mit dabei.“ Der Herr Rat ungläubig: „Und da hat man ausgerechnet Sie ausgesucht, so weit nach Süden herunterzufahren, obwohl Sie hier wohnen und 'ne Familie mit schulpflichtigen Kindern haben?“ „Ja, warum denn nicht? Es heißt doch immer >Fachkräftemangel< und >Wir müssen flexibel sein, wie der Bambus im Wind!< Außerdem war in diesem Job weltweite Reisetätigkeit vorgesehen, da spielt der faktische Wohnort doch nun wirklich keine entscheidende Rolle.“ „Über die Kriterien kann man in einem gewissen Maße steuern, wer als Kandidat genannt wird. 20 Kandidaten… - oder fünf… - oder… – Sie!“, bohrte der Erste-HK ganz langsam weiter. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Nun, sagen Sie es uns!!!“, giftete der Staatsanwalt, „Sie sind arbeitslos und können das Geld sicher gut gebrauchen. Was kommt dabei heraus? Wie hoch ist der Anteil? 5.000 Euro? 8.000 Euro? Wie viel???“

Heinrich erinnerte sich der mahnenden Worte der beiden Polizistinnen. Er erkannte nun, wohin die Reise gehen sollte: „Sie sprechen hier – in unterstellender Weise – von Vorabsprachen bei der Stellenausschreibung. So wie bei Ihnen, im öffentlichen Dienst? Ergebnisoffene Stellenausschreibungen die dergestalt schlagwort-gesteuert sind, das nur der Neffe vom Amtsleiter als einziger Kandidat übrig bleibt? Und sowas ähnliches mit mir? Im Zusammenhang mit Organisierter Kriminalität? Und sowas mit mir???“ Heinrich platschte seine Hand auf den Tisch: „Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse!!! Fragen Sie doch den Vermittler, der hat doch Zugriff auf 3-, 4- oder gar 5Millionen potentielle Betrugs-Opfer. Der kennt die familiären und finanziellen Hintergründe, weiß bei wem es sich lohnt, bei wem es überhaupt möglich ist, solche Tricks anzuwenden. Kreditkarten mit hinreichender Deckung und so… Wen man - sinnvollerweise - in diese Situation zwingen kann. Kennen Sie den Satz: >Wenn Sie sich dort nicht vorstellen oder nicht maximal kooperativ benehmen, gibt es Sanktionen!< – Und wenn auf dem Adressfeld Don Corleone, Kokain-Straße Nr.1, in Mafiahausen steht, so sind wir gezwungen dort hinzufahren!!!“

Aber niemand zwingt Sie ein gemietetes Auto an einen Komplizen weiterzugeben.“ keifte der Herr Rat zurück und ließ ebenfalls seine flache Hand auf die Tischplatte sausen.

Heinrich blickte seine Widersacher nacheinander an, schüttelte langsam den Kopf: „Sie wissen gar nicht wovon Sie reden, wenn Sie den Mund aufmachen...! - Wir sind gehalten, alles das zu tun, was während des Bewerbungsgespräches einen guten Eindruck macht. – Ich hatte einen Test zu bestehen! Und Punkt! Fragen Sie den Vermittler, wie gefügig wir sein müssen!“ „Sie können sich darauf verlassen, dass wir den Herrn unter die Lupe nehmen werden!“, griff der Erste-HK diesen Vorschlag auf.

Der Staatsjurist stellte alles wieder auf Null, seine Stimmlage wurde geschmeidig: „So, und nun erzählen Sie noch einmal, wie der Ablauf war. Also, Sie bekamen das Schreiben vom Amt… – Und dann?“ „Nö!!!“ Heinrich sah die vier Beamten an. „Wir sind jetzt zwei Stunden in diesem Raum. Sie behaupten, ich würde nur als Zeuge befragt. Also, reißen Sie erstmal die Fenster auf, damit hier frische Luft reinkommt. Und dann will ich eine große Tasse Kaffee – aber frisch gebrüht und heiß. Und nix Pappbecher, sondern Tasse! Mit richtig Zucker und viel Milch. Und dazu ein großes Glas Sprudel, eiskalt aber ohne Eis!“

Ungerührt blickte er die vier Beamten an und lehnte sich demonstrativ zurück. Zu seiner Überraschung nickte der Staatsanwalt ganz langsam mit dem Kopf, schnippte mit den Fingern. Seine drei Helferlein reagierten sichtlich überrascht, aber sie verließen doch den Konferenzraum. Während der Wartezeit stand der Staatsanwalt vor dem offenen Fenster, starrte hinaus, sagte kein Wort. Heinrich sah keinerlei Veranlassung ihn anzusprechen. So vergingen stille, lastende Minuten, bis die Tür wieder geöffnet wurde. Zu guter Letzt stand vor Heinrich ein eisgefüllter Sektkühler, in dem, kopfüber, zwei Sprudelflaschen steckten, daneben ein Tablett, auf dem – auch zum Erstaunen des Staatsanwaltes – eine Porzellankanne prunkte. Dazu gesellten sich fünf Tassen unterschiedlichster Herkunft sowie Gläser, Würfelzucker, Kaffeesahne und ein paar bröckelige Kekse.

Der Staatsanwalt drehte sich: „Ist's Recht so?“

Heinrich hob nur wortlos eine Augenbraue und zog die erste Flasche aus dem Eis. Während er zwei Gläser auf Ex leerte, wurden, auf ein Zeichen des Advokaten hin, die Fenster wieder geschlossen. Weiterhin kaum merklich grinsend und ohne ein Wort fischte sich Heinrich die Tasse mit der dünnsten Wandung aus der bunten Sammlung, schaufelte Zucker hinein, fügte reichlich Sahne hinzu und übergoss alles mit dem dampfenden Koffein-Labsal. Während er zwei Schluck aus der Tasse schlürfte, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er begriff erst jetzt, dass sich keiner seiner Kontrahenten an dem Dargebotenen bediente, bis er versorgt war. Auch wurde ihm erst jetzt bewusst, mit welcher Chuzpe er Forderungen aufgestellt hatte und wie prompt diese erfüllt wurden. Er konnte sich auf dieses doch ehr merkwürdige Verhalten der Beamten keinen Reim machen. Oder wurden etwa alle Zeugen und Verdächtige so zuvorkommend behandelt? Ihm fehlte jedes Vergleichsmaß.

Sooo“, meldete er sich zurück, „dann wollen wir mal!“ Er begann den Ablauf des Tages noch einmal zu berichten und wurde vom Staatsanwalt und den beiden Polizei-Offizieren nach jeder Kleinigkeit gefragt: Ob er morgens die Haustür nur ins Schloss gezogen oder auch abgeschlossen hatte, ob er das Straßenbahn-Ticket mit Münzen oder mit einem Geldschein bezahlt hatte. „Das hab ich überhaupt nicht bezahlt. – Monatskarte!“ Ob er im Zug am Fenster gesessen hatte. Ob er sich noch an Sitznachbarn erinnern konnte. Es wurde wirklich jedes denkbare Detail abgefragt. Als Heinrich, in seiner Darstellung, die Tür des stylischen Besprechungszimmers aufgehen ließ und er sodann beschrieb, wie Dr. Beyslböck hereinkam, meldete sich der vierte Beamte zum ersten Mal zu Wort:

Und den beschreiben Sie mir jetzt mal so genau wie möglich. Am besten, Sie schließen zu Beginn die Augen und lassen den Herrn noch einmal zur Türe hereinkommen.“ Der vierte Beamte setzte die Angaben des Zeugen an seinem Digitalisierungs-Tablett in Linien und Schraffuren um. Mittels des unter der Decke montierten Projektors, wurde das Ergebnis von Heinrichs Beschreibungen in Übergröße auf der Wand abgebildet. Köchmüller wunderte sich nur, mit welcher Genauigkeit er Angaben über den Mann machen konnte. Mitten in seine Schilderung hinein klingelte ein Handy. Leise wechselte einer der Polizisten, mit dem Anrufer, ein paar Worte. Er versprach kurzfristigen Rückruf. Als schließlich die bildliche Darstellung des Betrüger-Pärchens und der Empfangsdame für alle Anwesenden hinreichend genau war, wollte Heinrich mit seinem Bericht über den Tagesablauf fortfahren, doch der Telefon-Kommissar unterbrach ihn: „Die Kollegen der Kleinstadt sind mittlerweile vor Ort. Moment, ich klingel die eben an.“

Einige Augenblicke später reichte er sein Smart-Phone an den zeichnenden Kollegen weiter, mit der Bitte, eine Verbindung zwischen Phone und dem Bildwerfer herzustellen. Auf der Projektionsfläche erschien prompt das etwas ruckelige Bild eines Kopfes mit erwartbarer Schirmmütze. „Ja, Grüß Gott, Kollegen. Seid ihr jetzt so weit?“, quäkte es aus dem winzigen Kommunikationscomputer. Die Bestätigung erfolgte. „Ich halt jetzt das Objektiv auf die Tür. Ist sie das?“ Heinrich bat darum, dass der Beamte mit seinem Handy ein paar Schritte zurücktreten möge, damit er sich einen Überblick verschaffen könne. Langsam und ruckelnd wurde auf den Arkaden-Gang geschwenkt und wieder zurück. Heinrich erkannte die Szenerie. „Ja!“, rief er aufgeregt, „Da! Die Tür geht's hinein! Halt!!! Wo ist denn das Firmen-Schild? Da war doch eine weiße Tafel neben dem Türrahmen!“ Der Beamte tauchte wieder auf: „Tja, das war wohl nix. Wir haben vor ein paar Minuten mit dem Verwalter telefoniert. Die Räumlichkeiten sind zurzeit nicht vermietet.“ Auf der Leinwand erschien ein Aushang, der von innen in eines der kleinen Holzfenster geklebt war: “Provisionsfrei zu vermieten! Bei Interesse bitte Telefon-Nummer…“ „Ja, aber da war ich drin! Genau da war ich drin. Links ist der Empfang. Ein bisschen weiter durch ist das Büro, mit Ledersesseln und ovalem Glastisch. Und direkt gegenüber geht eine weiße Marmortreppe nach oben.“ „Der Hausverwalter ist hierher unterwegs und lässt uns hinein. Wir melden uns dann wieder.“ „Ganz herzlichen Dank,“ ergriff der Staatsanwalt das Wort, „Ich möchte noch einmal betonen, dass Ihre schnelle Reaktion, auf unsere Anfrage, uns in besonderem Maße hilft.“

Die Verbindung wurde unterbrochen. Acht fragende Augen waren auf Heinrich gerichtet. Dieser schüttelte nur langsam den Kopf: „Ich war doch da drinnen.“

Nun machen wir erst einmal mit Ihrer Aussage weiter.“ Entschied der Staatsanwalt. „Also, die Tür ging auf und dieser… – wie sagten Sie doch gleich… – dieser `Kanarien-Vogel´ kam herein.“ Heinrich fasste sich und nahm den Berichtsfaden wieder auf: Die Besprechung, Kofferübergabe, nachfolgend die Überquerung des Stadtplatzes, das Klappern des Koffers gegen ein Luxusauto. Er betonte, dass der winzige Kratzer kaum zu erkennen gewesen war: „…wenn er überhaupt von mir stammt…“ Schließlich die Bäckerei. Mitten in seiner Beschreibung, welch ein Allerwelts-Naschwerk ein „Auszogner“ letztlich sei, unterbrach sich der Zeuge selbst. Er meinte an diesem Tage irgendeine Dopplung gesehen, gehört, erlebt zu haben: „Aber ich weiß nicht was...“ „Weiter!“, trieb der Erste-HK an. „Sie aßen und tranken in der Bäckerei. – Und dann?“ Heinrich fuhr mit seiner Beschreibung fort. Als er, im Bericht, das Treffen mit seinem angeblich neuen Kollegen in Basel erreicht hatte, meldete sich wieder der Zeichenkünstler und bat ihn erneut um eine möglichst genaue Beschreibung der Person. Diese Interview-Pause nutzte der Staatsanwalt, um einen neuerlichen Anruf der Kleinstadt-Beamten entgegenzunehmen. Er sprach auch mit dem zwischenzeitlich eingetroffenen Facility-Manager. Die Südbeamten zeigten sich nur mäßig erstaunt, dass die Schlüssel des Immobilien-Betreuers nicht zum Türschloss der Räumlichkeiten passten. Eine Manipulation an der Verrieglung wurde als faktisch gegeben angenommen. Vor dem blockierten Zugang stehend, bestätigte der Immobilienmanager, aus dem Gedächtnis, Heinrichs Beschreibung der Inneneinrichtung und verwies auf eine geplante, teilmöblierte Vermietung. Abschließend bat der Staatsanwalt, bis die Spuren gesichert sein würden, um die vorläufige, amtliche Versiegelung des Zugangs. Auf den Protest des Verwalters ging er nicht ein, drückte mit kurzem Dank das Gespräch weg.

Über den Minilautsprecher hatten die anderen dem Wortwechsel folgen können. Heinrich starrte mit leerem Blick auf seine Tasse. Er goss ganz langsam den Rest Kaffee aus der Kanne in das Trinkgefäß und lehnte sich in seinem Stuhl zurück: „Die gehen aber ein verdammt hohes Unternehmensrisiko!“ Heinrich T. Köchmüller ließ die Beamten nicht eine Sekunde aus den Augen. Waren diese nun seine Verbündeten oder seine Gegner? Er konnte es nicht einschätzen. Es war ihm, in dieser ungewöhnlichen Situation, auch völlig einerlei. Er konnte sich, im Moment, nur auf sich selbst verlassen. Seine jetzt eingenommene Haltung und seine Mimik ließen jedoch eines klar erkennen: Er hatte in seinem bisherigen Berufsleben auch größere Konferenzen geleitet und in diesem Zusammenhang nicht unerhebliche Investitions- bzw. Unternehmens-Risiken bewertet. Er war plötzlich, nach außen hin, völlig ruhig und absolut konzentriert beim Thema, fixierte die Beamten, mit seinen eisblauen Augen, wie ein Gebhard seine Beute. Es entstand eine Atmosphäre spannungsgeladener Stille. Die Staatsdiener verstummten, waren ganz Ohr. Heinrich rührte demonstrativ langsam in seinem Kaffee. Seine Worte folgten diesem Takt: „Einen Vorstellungs-Termin vereinbaren. Natürlich kurzfristig. Einen passenden, leeren Laden finden und ohne jedes Aufsehen aufbrechen. Dann auf die Schnelle eine Minimal-Infrastruktur simulieren. Mitsamt Computer am Empfang und Getränken und so weiter. Dann die gefakte Besprechung durchführen.“ Er ließ den Löffel los, dieser klickte gegen die Gefäßwand. „Und das alles… – das alles unter der ständigen Gefahr, dass der Eigentümer oder Verwalter auftaucht???“ Deutlich vernehmbar atmete er tief durch. „Das ist sicher keine organisierte Kriminalität. Denn wenn die strategisch organisiert wären, dann müssten die weitestgehend geplante und vor allem im Voraus planbare Prozesse in ihren Coups durchziehen. - Nee, meine Herren… – das sind Spieler. Zocker, für die das Ergebnis - also: der Gewinn - in erster Linie Freude am Risiko und nur in zweiter Linie ein, wie auch immer, geartetes Zubrot bedeutet.“

Er blickte in die Runde. „Mir… – mir ist nämlich gerade eingefallen, wo die Dopplung war, das Déjà-vu sozusagen. Nun… – den Schrammen-Bentley vom Stadtplatz hab' ich nämlich, sehr wahrscheinlich, zweimal gesehen: Rostrot/Kupfer. Beim zweiten Mal wäre er, in Basel, beinahe dem wegfahrenden Leihwagen hinten drauf gekracht. Und Sie frage ich: Wie bedürftig ist man, wenn man eine solche Luxus-Karre als… – nun sagen wir mal: als Dienstwagen nutzt? Aber am wichtigsten ist doch jetzt folgendes: Wie viele kupferfarbene Wagen diesen Typs gibt es? War es Zufall? Zufällig zwei Gleichartige? Am gleichen Tag? Sie sind die Fachleute! Würde einer hochprofessionellen Bande so ein Fauxpas passieren? Sind die Autoschieber an der Front nicht – im Normalfall – ehr ganz arme Schlucker? Würde deren finanzieller Spielraum so ein Dienst-Fahrzeug hergeben? Oder ist eine Karre diesen Typs und dieser Farbe ebenfalls gestohlen gemeldet? Am gleichen Tag, in der gleichen Woche?“ Er spülte die lauwarme Brühe in der Tasse mit einem Schluck hinunter und ließ die freie, flache Hand mit einem lauten Knall auf die Tischplatte fallen. „So meine Herren. Die Beantwortung all dieser Fragen ist jetzt Ihr Job! Sie sind die Fachkräfte! Sie haben dazu die Möglichkeiten!“

Sprach's und packte ohne jede Reaktion abzuwarten, ungerührt und demonstrativ seine ausgebreiteten Unterlagen, zurück in die Ledertasche. Ihm gegenüber saßen vier verdutzte Beamte. Waren sie überrascht? Hatten sie ein derart initiatives Verhalten nicht erwartet, von dem fachfremden Laien? Heinrich war es einerlei. Er wollte nur noch fort, hinaus aus dem Büro-Mief.

Bis Köchmüller tatsächlich das Polizeigebäude verlassen konnte, vergingen noch weitere, bürokratische 45 Minuten. Seine Unterlagen konnte er, da als Beweismittel beschlagnahmt, gleich wieder auspacken. Ihm wurden immerhin Fotokopien derselben überlassen. In dieser Zeitspanne wurde auch die Erwartung bestätigt, dass die Telefonnummern, mittels derer er von den Gaunern kontaktiert wurde, allesamt nutzlose Nummern gestohlener Handys waren. Dieser Faden verlief also ins Leere. Ohne nähere Auskunft über das nun Folgende und seinen tatsächlichen Status, ob nun Opfer, entscheidender Zeuge oder gar in vermuteter Mittäterschaft, stand er nun auf der Straße – durfte jedoch seinen Wohnort nicht verlassen. Die offizielle Forderung war: „…bitte, bereithalten für weitere Fragen…“ Dass dem Wagen noch eine weitere Erwähnung zu Teil wurde, war den Medien ehr bekannt, als Heinrich oder jener offiziellen Stelle...

Zu seinem Erstaunen war es bereits nach 16 Uhr. Knapp vier Stunden war er also „befragt“ worden. Doch außerhalb des Gebäudes herrschte für ihn kein Aufatmen. Im Gegenteil. Er hatte vielmehr das Gefühl einen Kartoffelsack auf seinen Schultern zu tragen. Eine Folge seines abgesackten Adrenalin-Spiegels. Er fühlte sich total schlapp. Seine Gedanken kreisten weiter, waren seltsam in Watte gepackt. Vor allem war da dieses bedrückende Gefühl, zwischen Baum und Borke zu sitzen, das hieß, entweder als Krimineller oder als volltrotteliges Betrugsopfer dazustehen und auf jeden Fall einen Schaden von mindesten 50.000 Euro angerichtet zu haben. Aus gutem Grund lastete dieser Gedanke nun besonders auf ihm. Niemand von den Ermittlungsbeamten ging davon aus, dass der verschwundene Wagen je wieder auftauchen würde, als der Begriff Osteuropa genannt wurde. Im Nachhinein verwunderte ihn die Reaktion der Beamten, auf seine Feststellung, dass er möglicherweise ohne jeden Schutz durch eine Diebstahl-Versicherung dastehen könnte. Waren die Herren Amtsträger doch ohne jede merkliche Reaktion über diesen Einwurf hinweg gegangen. Das schwammige Ergebnis, „…Ermittlung in alle Richtungen…“, blieb für ihn niederschmetternd und verwirrend. Köchmüller verscheuchte diesen Gedanken, war mittlerweile an der nächstgelegenen Bushaltestelle angekommen; vergaß den Gedanken an dieses Detail, da einer der rollenden Werbeträger um die Ecke bog, zügig auf Heinrich zu rollte. Wenigstens das klappte „…an diesem verschissenen Tag“. Er stieg ein, ohne das Ziel des Menschen-Transporters zu beachten, kreuzte gedankenverloren quer durch die Stadt, wurde an einer der Reihenhaus-Stadtrandsiedlungen aus dem „80er-Jahre-Schonhoff-Baukasten“ vorbeigefahren und verließ den Wagen einige Minuten später, in der Wendeschleife der Endhaltestelle.

Hier endete auch die Bebauung. Die Straße verlief, nach diesem Manövrierplatz, ganz schmal, in schnurgerader Verlängerung als geteerter Feldweg weiter. Nach einem guten halben Kilometer verschwand der Weg dann, in dem dort beginnenden Dickicht der Auwälder. Gefolgt von dem Wendemanöver des leeren Busses, wurde dessen Motor abgestellt. Pause! Für einen kurzen Augenblick herrschte Ruhe.

In Heinrichs Ohren rauschte die Anspannung des Tages.

Am Morgen wähnte er sich noch auf dem Weg zur millionsten Flugmeile. Und nun…? Es war mittlerweile kurz vor Einbruch der Dämmerung. Gegenüber, halb verdeckt von dem Omnibus, bot ein kleiner Kiosk, offenbar ein umgestricktes Gartenhäuschen, seine Waren feil. Heinrich bestellte eine hausgemachte Frikadelle, eine Cola und peppte diese „…ja, die Kleine bitte…“ mit dem Inhalt eines Weinbrandfläschchens auf. Als er die kleine Mahlzeit fast beendet hatte, dröhnte der Bus wieder los. Er blickte dem Gefährt unbeteiligt nach, warf das Kunststoffgeschirr in den Abfalleimer und spazierte, dem Landwirtschaftsweg folgend, in die andere Richtung. Er kannte diese Gegend genau, war er doch schon mehrfach mit dem Familienhund hier entlang spaziert. Nur, dass er diesmal keine Tennisbälle oder Gummiknochen werfen musste.

Es war schon nach 20 Uhr, stockdunkel, als er endlich zu Hause ankam. Bereits durch die geschlossene Haustür konnte er das aufgeregte Bellen des Hundes hören. Seine Kinder kamen ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. „Mensch Papi, wo warst du?“, rief die Große. „Das werd' ich euch gleich erzählen. Lasst mich nur erst mal herein kommen.“ Er hängte sowohl Ledertasche als auch Jacke an die Garderobe, und steuerte den Wohnraum an. „Wo ist denn eure Mutter?“ „Noch nicht da!“, meldete der Kleine, „Machst du uns was zum Essen?“ Heinrich fuhr herum: „Wieso? Habt ihr die letzten zwei Tage nichts bekommen? Ist der Kühlschrank leer?“ Er sah seine Tochter an. „Wir haben Pizza gemacht.“ Der Trupp ging in die Küche. Heinrich stellte eine Vermutung auf: „Ach ja. Pizza. Und das gestern und heute. Am besten morgens, mittags und abends. Und jetzt hängt euch der Mikrowellenmüll zum Halse raus.“ „Morgens hatten wir mit der Mutti gefrühstückt.“, verteidigte sich Michelle, „Und sonst, nach der Schule, geht Pizza am schnellsten.“ „Und heute Abend?“ „Brot ging nicht!“ Seine Tochter guckte angewidert. „Das war ganz trocken! Ich will Schnitzel!“, rief Michael dazwischen. „Ja, hart wie ein Stein.“ Michelle klopfte auf die Arbeitsplatte. „Schnitzel müssen wir erst auftauen. Das dauert zu lange.“, entschied der Vater und wandte sich an seinen Sohn, „Tja, dann lauf' mal runter, hol 'ne Flasche Milch aus dem Keller. Aber lass' sie bitte nicht fallen.“ Zur Tochter: „Du schneidest das olle Brot klein.“

Eine gute halbe Stunde später stand ein dampfender Topf auf dem Korkuntersetzer, gefüllt mit Brotpudding sowie reichlich Rosinen, Apfelstückchen und den, vom lang zurückliegenden Weihnachtsfest, übrig gebliebenen, geraspelten Mandeln und Haselnüssen. Während Vater und Tochter in aller Eile, um den Topf herum den Tisch in der Küche deckten, versorgte der Sohn den Hund. Das Tier stand die ganze Zeit tapsig an der Küchentür. Es wusste, dass es diesen Raum nur auf Anweisung betreten durfte.

Seit der Vierbeiner es geschafft hatte, noch als halber Welpe, einen Topf vom Herd zu reißen und sich daraufhin der heiße Inhalt über ihn ergoss, war ihm der Ort nicht mehr geheuer. Diese liebenswert-debile Retriever-Promenaden-Mischung. Vor etwa vier Jahren, von den Kindern, aus dem Tierheim „befreit“, und da er alles in seinem neuen Heim gründlich beschnupperte, von ihnen einstimmig „Schnuffi“ getauft. Kaum dass er drei Wochen im Hause war, passierte dieses Malheur mit dem Suppentopf an jenem Samstagmittag. Das Poltern des Gefäßes, der heiße Suppenrest auf dem Hunderücken, das Gejaule der Töle, dazu das Gekreische der Kinder. Heinrich hatte sich das jammervolle Bündel geschnappt, in die Spüle gestopft und mit kaltem Wasser abgespült. Elke stand derweil mit einem Geschirrtuch dabei, um das nasse Tier einzuwickeln. Er grabschte im Flur nach den Autoschlüsseln und zehn Minuten später stand die ganze zerzauste Familie, Heinrich in Pantoffeln, Michael gar barfuß in der Tier-Praxis. Der Veterinär war ein alter Bekannter des Schonhoff-Clans, hatte er doch regelmäßig Kontakt zu dem „…Viehzeugs…“ von Elkes Verwandtschaft; vorneweg, deren edle Pferde, aber auch Hunde von blaublütigem Wert. Nach wenigen Minuten der Begutachtung, kam für die Kinder die Entwarnung: „Na ja, er hat sich verbrüht, aber nicht wirklich schlimm. Das Allermeiste hat wohl das dichte Fell abgehalten. Das solltet ihr übrigens mindestens zweimal die Woche gut durchbürsten.“ Der Doc zwinkerte den Erwachsenen zu, führte, bei dieser Gelegenheit, den bereits vereinbarten Impf-Termin durch: „So, jetzt kriegt der noch ein paar kleine Spritze gegen Aua und ihr“, er wandte sich erneut an die Kinder, „massiert einmal täglich diese ganz besondere weiße Salbe vorsichtig auf seinen Rücken. Bis das Tübchen leer ist. Nächste Woche ist das vergessen.“

Dem war Offensichtlich nicht so. Zumindest für den Hund. Auch dieser Tage hielt er noch stets maximalen Abstand zwischen sich und dem Herd. So trottete Schnuffi, an diesem Abend, wie immer seit dem Unfall, hinter dem Esstisch entlang zu seinem Napf. Heinrich schaute abwechselnd auf seine Kinder und den Hund. Er ging mit sich eine Wette ein, wer wohl schneller sein Futter herunter geschlungen haben würde.

Gegen Ende der Mahlzeit klapperte ein Schlüsselbund an der Haustür. Die Frau des Hauses erschien auf der Bildfläche. Elke zeigte sich ausgesprochen abgekämpft. Nach dem Unterricht, am Nachmittag, hatte sie sich wieder ihrer Parteiarbeit zugewandt. Wie sie berichtete, war das neue Betreiber-Konzept für das Stadtbad in Arbeit. Sie und ihre Kollegen erarbeiteten eine Perspektive für den Verkauf des Bades an einen Investor. „Möchtest du noch einen Teller von dem Brotpudding?“, unterbrach Heinrich den Redefluss. „Nein, um die Zeit esse ich nichts mehr. Seit zwei Jahren nichts, nach 18 Uhr. Das weißt du doch.“ Die Kinder kicherten: „Die Linie, die schlanke Linie...!“ „So ist es. Ab einem bestimmten Alter muss man auf die Ernährung achten. Zumal die Kameras immer zehn, fünfzehn Pfund hinzuzaubern. Aber, das sage ich ja nicht das erste Mal.“ Heinrich bot den Kindern den Rest im Topf an, sie verneinten. Demonstrativ füllte er sich den Teller: „Och ja, mir schmeckt's. Und ich mache ja gleich noch eine Runde mit dem Hund. Ja, und wenn ihr beiden fertig seid, könnt ihr abzischen.“ Lucky Lukes Schatten wäre stolz auf die Geschwindigkeit der Kinder gewesen. Ab mit ihnen, zu ihrem „Elektronik-Schrott“ im Dachgeschoss.

Nun“, begann Heinrich, „dann will ich dir mal ein paar schlechte Nachrichten verkünden.“ „Wie? Klappt das mit deinem Job jetzt doch nicht?“ „Wenn's nur das wäre. Die haben mein Handy beschlagnahmt.“ „Wer, `Die´? Dein neuer Boss? Das darf der gar nicht!“ Heinrich holte seine Ledertasche von der Garderobe. Wieder am Küchentisch, schob er das Geschirr beiseite, breitete die Kopien seiner Unterlagen, samt der hinzugekommenen Polizeiformularen, aus, sah seine Frau an: „Es gibt überhaupt keinen Chef!“ Mit der Sachlichkeit eines Bankbeamten berichtete er nun von den vergangenen 48 Stunden, ohne abschließend die katastrophalen, finanziellen Folgen zu verschweigen. „Und die wollen jetzt 50.000 Euronen von uns, weil du dich von denen hast übertölpeln lassen?“ „So sieht es vorläufig aus. Das können auch 5- oder 10.000 mehr sein, je nach Ausstattung. Ich hatte nämlich das zweifelhafte Privileg, der absolut erste Mieter dieses Wagens gewesen zu sein. Da waren gerade 50 Kilometer auf der Uhr, als ich losfuhr. Das Ding war flamm neu, roch noch nach Fabrik.“ Für einen kurzen Moment blickte er schwärmerisch zur Decke, zuckte aber sofort wieder in die teure Realität. „Ich soll mir schnellstens einen Anwalt nehmen, haben die Beamten angeraten.“ Elke sprang auf: „Also, die ermitteln auch noch gegen dich? Und dann die Knipserei, während Du ins Polizei-Auto steigst. Das kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen, dass deine Dummheit als Autoschieberei in der Presse landet!“ „Nein. So, wie es im Moment aussieht, ermitteln die in alle Richtungen. Ich brauch' den Anwalt, wegen der Autovermietung und deren Versicherung!“ „Ja, glaubst du, dass die Boulevard-Schmierer da einen Unterschied machen?“ „Ich weiß nicht, was du immer mit der Presse hast. Es ist doch keine Meldung, wenn irgendwo ein Auto gestohlen wurde.“ „Es ist eine Meldung, wenn der Name Köchmüller durch einen Bindestrich mit dem Namen Schonhoff verbunden ist! Wo lebst du eigentlich? Die Kampfpresse unserer Gegner wird das mit Genuss aufnehmen. Jetzt, wo das Krankenhaus nicht mehr der Stadt gehört und wir als nächstes den Verkauf des Stadtbades anschieben wollen. Die warten nur darauf, dass wir uns irgendeine Blöße geben.“ „Wen interessiert das Stadtbad? Wir sitzen hier in der Scheiße, und du redest von Kampfpresse! Durch Betrug ist uns ein Schaden von 50.000 vielleicht sogar 70.000 Euro entstanden und du redest vom nächsten korrupten Kommunal-Geschacher!“

Wieso ist uns ein Schaden entstanden? Das sind deine Kreditkarten! Ich lasse mir keine Affäre anhängen. – Weder direkt noch indirekt. Ich habe nämlich heute Nachmittag ein entscheidendes Telefonat geführt! Der Landesvorsitzende hat mich heute angerufen und wollte endlich von mir wissen, ob ich mir vorstellen könnte, für den Landesvorstand zu kandidieren und nach der Wahl tatsächlich im Bildungsministerium eine entscheidende Position zu übernehmen… – endlich mal in dem Saftladen aufräumen!“

Heinrich war sprachlos über ihr Desinteresse. Die Droge `Macht´ hatte seine Frau voll im Griff. Was hatten die letzten drei Jahre doch für eine Veränderung, bei ihr, bewirkt. Bisher stand für sie der Lehrerberuf immer an erster Stelle. Damit hatte er sich abgefunden, in all den Jahren, die sie sich kannten. Heimlich hatte Heinrich seine Elke auch dafür bewundert. Mit seinen beiden Hobbys, neben der Arbeit, die Vorstandsarbeit im Youngtimer-Club und seinem Dienst bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr, mittlerweile als Hauptbrandmeister/F-IV, war er, vor der Geburt der Kinder, ähnlich engagiert. Aber das waren, wie gesagt, Hobbys und Ehrenämter, die er, mit seinen anderen und hinzu gekommenen Aufgaben, auszubalancieren wusste. Seine Frau, hingegen, agierte bereits als Referendarin, mit Nachdruck, in mehreren pädagogischen Gremien. Verbesserungen, Synergien, Effizienzsteigerungen im Bildungssystem, das war ihr Thema. Und ihr beruflicher Einsatz zahlte sich aus. Die Politik wurde auf sie aufmerksam. So wurde sie auch in erstaunlich kurzer Zeit zur Studiendirektorin befördert und kam flugs in die Situation, dass man ihr die Stellvertretung des Gymnasialdirektors anbot. Das Eigentliche ihres Berufes, nämlich die Kinder zu lehren, wie man spricht, rechnet, Chemie betreibt, all das trat mehr und mehr, zu Gunsten der Verwaltungsarbeit, in den Hintergrund. Als aber, kaum zwei Jahre später, der Direktor in den Ruhestand trat und sie nicht die Nachrückerin war, fühlte sie sich – trotz ihrer, damals, gerade erst 35 Lenze – übergangen. Nach Heinrichs Kenntnisstand, lag dieses „Übergehen“ ehr daran, dass die erneute, schnelle Beförderung, diesmal zur leitenden Oberstudiendirektorin, samt A16-Besoldung, nur schwer mit den geltenden, beamtenrechtlichen Richtlinien zu vereinbaren war. In den darauf folgenden drei Jahren verstärkte sie ihre politische Arbeit und driftete gleichzeitig immer mehr in den Gedankenstrudel der Kosten-Nutzen-Rechnung in der Bildungspolitik. Sie war sowieso eine glühende Verfechterin der verkürzten Gymnasialen Oberstufe und befürwortete eine verstärkte Förderung der privaten Bildungsträger. Seit sie nun für ihre Partei im Stadtrat saß und in den Bauausschuss nachrückte, war die Kirche einfach nicht mehr im Dorf zu halten. Persönliche Vorteilsnahmen, wie zuletzt, die Mittelmeer-Reise – ein moralischer und wohl auch juristischer Tiefpunkt, der als Besichtigung der Maltesischen Bildungseinrichtungen deklariert wurde – kamen nun vermehrt vor. Heinrichs mahnende Hinweise wurden von ihr als kleinkarierte Erbsenzählerei abgetan. Zuletzt hatte sie sich ganz offen der Parteikarriere zugewandt – wollte der „Provinzenge“ entkommen.

Heinrich kannte seine Frau nicht mehr. Da war auch nichts mehr, von der gemeinsamen Vorstellung: „Wohlstand und Sicherheit sind schon O.K., aber kein Raffen auf Teufel-komm-raus.“ Ihre gemeinsamen Wohnverhältnisse, und dessen war sich Heinrich stets bewusst, lagen schon sehr, sehr weit über dem Durchschnitt, würde mit ihrem neuen Job weiter steigen. Ihr gemeinsames Haushaltseinkommen überstiege dann das Fünffache des Durchschnitts. Hinzu kamen noch die aberwitzig hohen Firmen-Tantiemen, die ihr aus der passiven Beteiligung am elterlichen Groß-Unternehmen zustanden. Für deren Umfang hatte er sich nie wirklich interessiert. Ihm war's auch so weit mehr als genug. Aber sie marschierte weiter. Was geht noch? Welche Position liegt hinter der nächsten Kurve? Haben, haben, haben, statt den Wohlstand zu genießen; sich gemeinsam um Kinder, Haus und Garten kümmern; Freiräume nutzen für „Unnützes – weil es Spaß macht.“

Sie verstand z.B. nicht, dass er, vor vier Jahren, den Swimmingpool eigenhändig herausgerissen hatte, nur um an gleicher Stelle einen selbstreinigenden, chlorfreien Badeteich anzulegen. Das er das ganze Projekt noch mit einem Koi- und Seerosen-Teich kombinierte, blieb ihr unbegreiflich. Vor dem Einzug in die Villa hätte er auch gelacht, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er einmal ganze Wochenenden mit Gartenarbeit verbringen würde. Doch der Appetit kam beim Essen. Während sie auf der Terrasse Klausuren korrigierte, riss er mit dem alten Strauchwerk den Bürofrust aus dem Boden, stutzte den alten Baumbestand, las zwischendrin alles, was ihm über Englische Gartenbaukunst in die Finger kam, obwohl er noch nie auf den britischen Inseln war. Er nervte alle, aber auch wirklich alle Gartenbau-Betriebe in der Stadt, mit seinen ewig gleichen Fragen. Während sie in späterer Zeit über Bauplänen der Stadt brütete, strickte er immer wieder am Grundriss des Gartens. Die Rasenfläche wurde im Laufe der Jahre immer kleiner und eine Blutbuche verschwand in stiller und heimlicher Auffälligkeit. Die Rosenabteilung mit der kleinen Buchsbaum-Einfassung brauchte ebenso Licht und Platz, wie die Rhododendren und der Bauerngarten. Er schuf Szenerien, Blickachsen und Ebenen, ummauerte zudem, aus alten Backsteinen vom schwiegerelterlichen Bauhof, den Komposthaufen mit der Andeutung einer Burgruine, ließ diese von Efeu überwuchern.

Fast wurden selbst die über 6.500m² zu klein, doch seine Kinder, sein Beruf, sein Ehrenamt bei den Blauröcken und seine Mitgliedschaft im Autoschrauber-Club bewahrten ihn vor dem völligen Garten-Koller. Als, nach fünf Jahren, die „Grünflächen-Perestroika“ zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen war, zählte er zwar nicht die Stunden, aber doch den Materialeinsatz zusammen. 100.000 Euro hatte er verbaut. Im Anschluss an die Umbauphase, sah der Garten noch stellenweise dürftig und schütter aus, doch die nächsten fünf Jahre änderten das Aussehen erheblich. In der Schlussphase hatte er sich von seiner Schwiegermutter die Genehmigung geholt, den alten Pool wegreißen zu dürfen. Die kurze Führung durch den Garten, bewirkte sofort ein Nicken ihrerseits. Ihr Angebot, er möge sich samt seines grünen Daumens, hauptberuflich des Anwesens um das Palais Schonhoff annehmen, lehnte er höflich dankend, aber doch mit Bestimmtheit ab...

Über den Wagendiebstahl war Elke, am Abend, unterrichtet worden und sie hatte die Botschaft reichlich ungehalten und letztlich mit lautstarken Vorwürfen aufgenommen. Am Morgen des Folgetages nahm der Druck der Ehekrise, ein weiteres, erkleckliches Stück zu: Von seiner Frau wurde ihm wortlos der Regionalteil der Tageszeitung auf den Frühstücks-Tisch gelegt.

Ein handflächengroßes Foto zeigte, wie er, vor der Autovermietstation, in einen Streifenwagen stieg und überrascht in die Kamera glotzte. Der mehr als dürftige Pixel-Balken verbarg seine Augen kaum. In dieses Foto hinein montiert, rechts unten, war noch ein zweites, Streichholzschachtel-kleines Bild: Im Polizei-Wagen sitzend, versuchte er sich hinter seiner Ledertasche zu verstecken, wie ein Mafia-Boss. Und als ob diese visuellen Peitschenhiebe nicht schon schlimm genug gewesen waren, prangte über den Fotos noch eine vernichtende Überschrift:

Ehemann von Stadträtin in Autohehlerei und Raub verstrickt? Polizei vermutet großkriminelle Bande!“ In dem Artikel wurde, zu Köchmüllers ungläubigem Erstaunen, berichtet, dass „…der Wagen vor zwei Tagen durch Heinrich K. angemietet, am Morgen des Folgetages, in Ost-Europa, im Zusammenhang mit einem dreisten Juwelenraub, in Erscheinung getreten…“ war. Die Limousine habe die Fensterfront gerammt, der Laden sei ausgeräumt und am Schluss der Tatort in rasender Fahrt verlassen worden. „…Durch die umherfliegenden Fensterteile wurden zwei Passanten erheblich verletzt...!“

Die Köchmüller-Papiere

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