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Die Hütte

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Drei Stühle stehen an der Spitze um den Heiligen aus Holz herum. Natürlich brauchen wir nur zwei, aber es gefällt mir, dass es einer zu viel ist. Ich stelle mir vor, dass wir dort sitzen, wenn jemand uns zu Hilfe kommt. Er wird so überrascht sein, uns lebendig anzutreffen, dass er nur stehenbleiben und uns mit offenem Mund anglotzen kann. Ich werde dann auf den leeren Stuhl zeigen und höflich sagen: «Hallo. Möchten Sie sich nicht setzen?»

Ich sehe es deutlich vor mir, ich male mir sogar die Gestalt unseres Retters aus. Er ist blond und trägt eine braune Kappe und eine dunkle Sonnenbrille.

So stelle ich ihn mir vor, aber wenn er anders aussieht, soll es mir auch recht sein. Manchmal habe ich die Dinge so genau vor Augen, dass ich fest daran glaube, sie werden in Erfüllung gehen.

An unserem Kühlschrank zu Hause hängt ein Zeugnis aus dem zweiten Schuljahr mit der Unterschrift von Mrs Lowe. Sie hat geschrieben:

Christopher hat eine lebhafte Fantasie. Eines Tages wird sicher ein großer Künstler aus ihm. Ein Schriftsteller vielleicht.

Darunter hat sie noch eine Bemerkung hinzugefügt: Christopher hat Schwierigkeiten, Freunde zu finden.

Ich muss lachen, wenn ich daran denke. In unseren ersten Tagen in Alaska dachte ich, Frank und ich würden nie Freunde werden.


Es war später Nachmittag, als wir unten am Sandstrand ankamen.

Sobald ich meinen pinkfarbenen Flip-Flop wegschleuderte, merkte ich, dass der Sand wie eine Käsereibe meine Blasen abkratzte. Ich humpelte wie ein alter Mann. Doch ich war froh, den Wald hinter mir zu haben und nicht mehr auf den Klippen herumkraxeln zu müssen. An dem Strand, der sich über eine Meile erstreckte, brachen sich die Wellen in sahnigem Schaum. Ein Schwarm Wasserläufer trippelte an der Wasserkante hin und zurück, als hätten die Vögel Angst, sich die Füße nass zu machen.

Frank lief dort, wo der Sand fest und nass war, und sein Schatten fiel lang über den Strand wie ein Strichmännchen. Ich blieb weiter oben, wo Tausende von Baumstämmen, von der Sonne gebleicht, dem Totenacker eines Riesen glichen.

Es war so ein wilder Ort. In Vancouver kehrt die Stadtreinigung täglich mit einem Rechen den Sand und richtet die Baumstämme in geraden Reihen aus. Mein Vater hatte im Anzug Strandgut gesammelt, mit fliegender Krawatte. Hin und wieder hatte er wie ein Pirat geredet: «Komm, Kumpel, jetzt holen wir uns den Schatz.» Er machte ein Spiel daraus, Schrott als alte Münzen auszugeben, doch ich erwartete Holztruhen, die vor Gold überquollen, und ging immer enttäuscht nach Hause.

Alles, wovon Onkel Jack geredet hatte, war auf dem Sand verteilt. Wir fanden Fetzen von Schleppnetzen und Leinenenden, Flaschen und Eimer und alle möglichen Gegenstände aus Plastik. Doch das ganze Zeug war mit Seepocken und Tang bewachsen, und das meiste war total kaputt. Wir hasteten von einem Ding zum nächsten und stürzten uns kreischend wie die Möwen darauf. Eine Zeit lang waren wir einfach zwei Jugendliche, die sich am Strand vergnügten. Doch allmählich wurde es deprimierend – die endlose Anzahl, die Geschichten, die sie uns zuflüsterten. Es war ein seltsamer Gedanke, dass all diese Sachen einmal Menschen etwas bedeutet hatten, die höchstwahrscheinlich tot waren.

Ich hatte den Tsunami im Fernsehen gesehen, er hatte ganze Städte hinweggeschwemmt. Menschen waren um ihr Leben gerannt, steckten in Autos fest oder saßen auf ihren Dächern. Ich hatte die riesigen Müllberge gesehen, die durch die überfluteten Straßen ins Meer hinausgetrieben waren. Und diese Dinge bildeten jetzt unsere Umgebung.

Ich sammelte Flaschen, die sich mit Wasser füllen ließen, und mehr Schuhe als ich jemals anziehen konnte. Es war zwar kein einziges Paar dabei, aber ich entdeckte zwei, die mir gefielen, und behielt vier weitere als Ersatz, die ich an zusammengebundene Schnüre knüpfte und um den Hals hängte.

«Halte Ausschau nach Feuerzeugen», sagte Frank, als würde ich das nicht längst tun. Doch hier lagen weniger als erwartet, und die waren verrostet und brüchig, zerstört von Salz oder Sonne. Obwohl ich sie gegen das Licht halten und das Butangas darin sehen konnte, waren sie nutzlos.

Am Ende des Strandes ragte eine Felsspitze ins Meer, auf deren Rücken sich ein paar Bäume im Wind wiegten wie ein gesträubtes Hundefell. Ein Weißkopfseeadler rauschte darüber hinweg, gefolgt von einem Raben, der wie eine Krähe schrie und im Sturzflug auf den Kopf des Adlers niederging, abdrehte und erneut angriff. Auf diese Weise scheuchte er den großen Vogel über den Himmel.

Frank blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Dann setzte er sich am Ende des Strandes auf einen Baumstamm.

Falls er sich dort für die Nacht einrichten wollte, sagte er es zumindest nicht. Doch nicht Frank, der Schweigsame! Deshalb ging ich weiter und überlegte, die Gegend hinter der schmalen Landspitze zu erkunden. Ich hielt mich zwischen den Stämmen, bis ich auf einmal einen Wildpfad entdeckte, der durchs Gebüsch aufwärts führte. Ich duckte mich unter den hängenden Ästen eines halb umgefallenen Baums hindurch und richtete mich wieder auf, um über den letzten Baumstamm zu steigen.

Dann hielt ich ruckartig an, mit dem Fuß in der Luft.

Direkt vor mir war eine menschliche Fußspur im Sand.

Sie war nicht frisch, am Rand schon eingebrochen, und ein paar braune Nadeln des Baums hatten sich darin gesammelt. Vor Wind und Regen geschützt, konnte die Spur lange unversehrt geblieben sein, so wie Fußabdrücke auf dem Mond. Doch sie war sicherlich nach den Winterstürmen entstanden, also irgendwann im Frühling oder Sommer. Jemand war genau wie ich an diesem Strand entlanggegangen. Er war unter den Ästen durchgetaucht und über den Baumstamm gestiegen, um auf dem Wildpfad in den Wald hochzusteigen.

Ich rief Frank. «Hier ist jemand!» Dann folgte ich dem vergessenen Schatten des Mannes, stolperte durch den Sand, weil ich es so eilig hatte, und landete mit dem Gesicht in seinem alten Fußabdruck. Ich stand wieder auf und rannte dorthin, wo der Wildpfad begann. In der schwarzen Erde des Waldes fand ich eine weitere Fußspur im hart gewordenen Matsch.

Mein geheimnisvoller Mann hatte sich mit einer Axt oder einem Messer den Weg durch den Wald gebahnt. Sein Pfad war überwuchert von Salalbüschen, und es war schwierig durchzukommen. Es ging an riesigen Bäumen entlang, die jahrhundertealt sein mochten, bis zu einer kleinen Hütte auf einer Lichtung – einem Häuschen im Wald.

Über Schindeln aus Treibholz lag eine durchsichtige Plastikabdeckung auf dem Dach, die mit Fetzen von Fischernetzen befestigt war. Ein weiteres Rechteck aus Plastik diente als Scheibe für ein kleines Fenster, das mit Holz verbrettert war. Die Hütte machte einen leeren, verlassenen Eindruck. Sie hatte etwas Unheimliches an sich.

«Hallo?», rief ich. «Hallo?»

Von der Brandung war so wenig zu hören wie vom Wind, doch im Luftzug kräuselte sich das Plastik auf dem Dach, als würde sich die Haut einer atmenden Kreatur bewegen.

Als ich um die Ecke bog, sah ich, dass die Tür einen Spaltbreit geöffnet war. Sie hatte in Angeln aus Seilfasern gehangen, doch zwei waren gerissen, und die Tür hing schlaff herunter wie ein gebrochener Arm und schwang im Wind, als wollte sie sich selbst zuwerfen.

Mit den Schuhen und Wasserflaschen in der Hand steckte ich den Kopf durch die Tür. Dann taumelte ich verblüfft rückwärts.

Ein riesengroßer schwarzer Rabe hing kopfüber auf der Schwelle. Er war mit rotem Draht verschnürt und drehte sich langsam.

Noch nie war ich einem Raben so nahe gekommen. Er war fast so groß wie ein Truthahn an Thanksgiving und maß über einen halben Meter. Doch die Federn waren zerschlissen, und der arme Vogel sah uralt aus, wie eine Mumie. Während er sich weiter drehte, sah ich seinen Hinterkopf, an dem die Federn zerzaust und stumpf waren. Ich sah seinen Schnabel. Ich sah sein Gesicht.

Der Rabe hatte keine Augen. Ich blickte direkt in leere Augenhöhlen, doch dadurch, dass um jede Höhle ein Ring aus winzigen, schütteren Federn verlief und in einer weißen Linie den Schädel enthüllte, sah es aus, als würde der Rabe mich anstarren.

Ich hörte, wie Frank sich hinter mir auf dem Wildpfad näherte und durchs Gebüsch stürmte, begierig zu erfahren, was ich entdeckt hatte. Seine Jacke flatterte in seinem Rücken, als er über die Lichtung rannte. Ohne vorher anzuhalten, lief er zur Hütte und riss die Tür auf.

Der tote Rabe drehte sich an seinem Draht.

Frank musste denken, dass sich etwas aus der Hütte auf ihn gestürzt hatte. Er hätte beinahe geschrien, als er zum Schutz einen Arm hob. Schwarz und struppig sauste der Rabe auf ihn zu, schwang zurück und wieder vor.

In unserem Rücken tauchte ein zweiter Rabe auf. Mit rauschendem Gefieder kam er durch die Bäume geflogen wie ein schmaler Schatten, der von dem größeren abgebrochen war. Er landete auf einem Ast, der sich unter seinem Gewicht bog, dann zog er die Flügel ein und neigte den Kopf, um nach unten zu blicken.

Frank war es sichtlich peinlich, dass er sich erschrocken hatte, und er verfluchte den toten Raben. Wütend griff er sich einen Stock und schlug auf ihn ein. Der Vogel schoss durch die Tür und wirbelte an seinem Draht herum. Mit Schwung federte er aus der Hütte heraus und wieder hinein, während der andere Rabe von seinem Beobachtungsposten laute Rufe und Schreie ausstieß.

Frank hob knurrend den Stock und schlug erneut auf den Raben ein. Viele kleine Federn stoben durch die Luft, und der tote Vogel drehte sich immer schneller, während der lebende im Baumwipfel zeterte. Schließlich riss der Draht, und der schwarze Kadaver fiel auf die Schwelle. Sofort hörte das Geschrei auf.

Das alles war schnell und brutal verlaufen, und nun schob Frank den toten Vogel in der Stille zur Seite, immer weiter durch den Schmutz, und beförderte ihn mit einem gezielten Tritt ins Gebüsch. Dann wischte er sich die Hände ab und betrat die Hütte. Ich folgte ihm.

In dem engen, dunklen Raum gab es einen wackeligen Tisch mit einem wackeligen Stuhl, die beide umgefallen waren. An eine Wand war ein Bett gebaut, dessen Schaumstoffmatratze an einer Ecke auf den Boden hing, und in der Mitte des Raumes waren Steine zu einem Kreis angeordnet. Darin lagen noch Asche und Stöcke, die an den Spitzen verkohlt waren. Doch einige Steine waren von ihrem Platz gerollt, und jemand war mit den Fingern durch die Asche gefahren. Lange Rillen zogen sich bis zur Tür.

Der Erbauer der Hütte hatte mit Sicherheit vorgehabt, eine Weile zu bleiben. Das Dach schützte vor dem Winter und sorgte im Sommer für Schatten. Doch letztendlich war er Hals über Kopf weggegangen. Ich fühlte mich wie ein Grabräuber, als wir die Sachen durchsuchten, die er zurückgelassen hatte. Wir nahmen sie an uns: einen Campingkocher und einen Benzinkanister für Brennstoff; eine Gabel und einen Löffel, einen Blechteller, einen Topf ohne Deckel und eine kleine Laterne mit einem Kerzenstumpen.

«Such nach Essen», sagte Frank. «Irgendwo muss etwas zu essen sein.»

Als ich die Matratze vom Bett zerrte, fand ich nur ein Mäusenest. Frank trat ein paar Treibholzstapel zur Seite, fiel auf die Knie und schaute unters Bett. Er streckte die Hand aus und zog große Plastikplanen hervor, die zerschlissen und zerrissen waren, außerdem einen leeren Eimer und ein bisschen Holz. Nachdem er noch einmal genauer hingeschaut hatte, rief er «Ja!», streckte die Hand noch weiter aus und holte ungefähr ein Dutzend Ziplockbeutel hervor. Sie waren mit rotem Edding beschriftet: Reis, Kaffee, Rosinen, doch alle waren von Ratten oder Mäusen angeknabbert und leer.

Unverzüglich schlug Franks Stimmung von glücklich in wütend um. Er schleuderte die Tüten aufs Bett und sah sich in der kleinen Hütte um. «Schau da oben nach», kommandierte er mich herum und zeigte auf ein Regalbrett hoch oben an der Wand.

Ich stieg aufs Bett, streckte die Hand aus und wischte über das Holz. Auf diese Weise fielen eine Zahnbürste und Zahnpasta herunter, gefolgt von einer Klopapierrolle in einem weiteren Ziplockbeutel sowie einem schwarzen Kästchen, das von der Matratze abprallte und in der Asche landete.

Wir starrten es an und waren einen Augenblick lang zu überrascht, um etwas zu sagen.

Frank hob es auf und hielt es sehr fest, als wäre es ein Tier, das sich wehren könnte.

«Ein Funkgerät», rief ich.

«Schlaukopf!»

Es sah fast genauso aus wie das Walkie-Talkie, das Onkel Jack mir im letzten Moment zugeworfen hatte. «Komm, lass mich mal», sagte ich.

Ich sprang vom Bett, doch Frank drehte sich seitlich weg, um das Walkie-Talkie abzuschirmen. Als er einen Knopf am oberen Rand drückte, ging ein rotes Lämpchen an, und Ziffern leuchteten auf einem kleinen grauen Bildschirm auf.

Wir sahen uns an und waren ausnahmsweise wie ein Team, verbunden durch das Funkgerät und alles, was es für uns bedeutete.

Frank leckte sich die Lippen. Dann hob er das Funkgerät an seinen Mund und drückte auf den Sender. «Mayday», sagte er. «Mayday. Mayday.»

Er ließ die Taste wieder los.

Wir blickten unverwandt auf das Gerät. Aus dem Lautsprecher kam ein schwaches Knacken.

«Die Rauschsperre», sagte ich und ahmte Onkel Jack nach. «Dreh den …»

«Schnauze!», zischte Frank. «Ich weiß, was ich tue.» Er drehte an den Knöpfen für die Rauschsperre und die Lautstärke, bis aus dem Geräusch ein dröhnendes Summen wurde. Dann rief er erneut. «Mayday. Mayday.»

Eine Frau antwortete. Ihre Stimme war leise und knisterte, aber, ach, so wunderbar. «An die Funkstelle, die Mayday sendet. Hier ist der Funk der US-Küstenwache.»

Ich grinste Frank an; er grinste mich an. Wir beide grinsten das Funkgerät an. Wir waren wie ein Schimpansenpärchen, nur Zähne und Albernheiten. Die Stimme der Frau war vor lauter Rauschen zerstückelt. «Um welchen Notfall handelt es sich?»

«Sag ihr unsere Namen!», schrie ich Frank an. «Sag, wir wissen nicht, wo wir sind.»

«Schnauze.» Frank drückte erneut die Taste und sprach in das Gerät. «Wir brauchen Hilfe. Wir sind …»

Das Funkgerät piepte. Die Ziffern erloschen, der Bildschirm wurde schwarz. Das kleine rote Licht verblasste, und das Gerät schaltete sich aus.

Frank drückte jede Taste und drehte an allen Knöpfen. Dann fluchte er und warf das Funkgerät quer durch die Hütte. Es knallte an die Wand. Die Rückwand löste sich, und eine Batterie sauste unters Bett.

«Blödes Schrottding!», schrie Frank.

«Es liegt nicht am Gerät, sondern an den Batterien», sagte ich.

«Ist doch egal! Es funktioniert nicht!» Er warf mir einen wütenden Blick zu, als hätte ich den Batterien den Saft entzogen. «Alles Schrott hier. Ein Kocher ohne Streichhölzer.» Er schleuderte den Campingkocher ebenfalls durch die Hütte. «Eine Kerze, die man nicht anzünden kann.» Zack, weg war sie, die Kerze in ihrer kleinen Laterne. Dann verschränkte er die Arme, ließ sich aufs Bett fallen und schmollte wie ein Zweijähriger.

Ich war ebenfalls sauer und wünschte, wir hätten das Walkie-Talkie nie gefunden und die Hütte auch nicht. Es war schlimmer, wenn man sich große Hoffnungen machte und enttäuscht wurde. Doch ich hob die Dinge auf, die Frank zerschlagen hatte. Um die Einzelteile des Funkgeräts einzusammeln, musste ich unters Bett kriechen.

«Lass das», sagte Frank. «Das ist Zeitverschwendung.»

«Irgendwo könnten Ersatzbatterien sein», sagte ich.

Frank schnaubte. «Und Ersatzstreichhölzer, was?»

«Warum denn nicht?» Ich kroch rückwärts unter dem Bett hervor. «Wenn der Typ einen Kocher hatte, muss er auch Streichhölzer gehabt haben.»

«Schau im anderen Zimmer nach», sagte Frank.

Selbstverständlich gab es kein anderes Zimmer, und Frank wollte mich nur wieder ärgern. Darin war er ziemlich gut. Doch ich glaubte fest daran, dass es noch eine Streichholzschachtel gab und wahrscheinlich auch eine frische Batterie. Deshalb stellte ich den wackeligen Stuhl aufs Bett und lugte über den Rand des Regalbretts.

«Irgendetwas ist dort», sagte ich. «Ein paar Sachen, glaube ich.»

Das Erste war ein Buch, ein altes Taschenbuch mit losen Seiten. Rabenjäger Kaetil von Daniel J. Chesterson. Auf dem Titelbild war ein unglaublicher Muskelprotz abgebildet; er war in Tierfelle gekleidet und hatte einen Raben mit einer schwarzen Kapuze auf der Schulter, dessen Krallen mit silbernen Dornen versehen waren. Ich las den Text auf der Rückseite laut vor:

Kaetil wird als Baby zum Sterben an einem Berghang ausgesetzt, doch er wird von Raben gerettet. Nachdem sie ihn lehren, wie ein Raubvogel zu jagen und wie ein Greifvogel zu denken, kennt er nur ein Ziel: Er will den Mann mit den gelben Augen finden – den Mann, der seinen Vater getötet hat.

«Hört sich gut an», sagte Frank. «Was ist da oben noch?»

Ich schaute noch einmal genau hin. Ganz hinten auf dem Regal stand eine orangefarbene Kunststoffkiste. Frank riss sie mir aus der Hand und löste die kleinen Riegel. «Ein Haufen Mist», sagte er und kippte alles auf die Matratze.

Ich stieg vom Stuhl und nahm die Sachen in die Hand. Die Kiste enthielt eine vollständige Überlebensausrüstung: eine Rettungsdecke aus glänzender Folie, eine Trillerpfeife mit eingebautem Kompass, einen kleinen Spiegel mit einem Loch in der Mitte und ein Metallröhrchen in der Größe eines Kulis, das ich hochhob, um es Frank zu zeigen.

«Ja, und?», fragte er.

«Das ist eine Leuchtpistole», sagte ich.

«Glaubst du, das wüsste ich nicht?» Er war so zornig, dass er richtiggehend hässlich aussah. «Es gibt nichts, was du weißt und ich nicht.»

«Aber hier ist auch noch ein Leuchtsignal.» Ich hielt es hoch, einen kleinen roten Zylinder.

«Wen interessiert das?», rief Frank mit überschnappender Stimme, wischte über die Matratze und fegte die Trillerpfeife auf den Boden. «Du Schwachkopf. Meinst du, du kannst rausgehen und ein Leuchtsignal abschießen und dann kommt jemand und rettet uns?»

«Warum nicht?»

«Weil DA KEINER IST!»

Ich versuchte, es nicht an mich heranzulassen. «So verlassen ist die Welt nun auch nicht», sagte ich. «Es gibt Schiffe und Flugzeuge und so, und jemand wird vorbeikommen. Vermutlich suchen sie uns bereits.»

«Red keinen Quatsch», sagte Frank. «Es wird Wochen dauern, bis sie überhaupt merken, dass das Boot vermisst wird. Und sie haben keine Ahnung, wo sie suchen sollen. Wir reden von Tausenden von Meilen, und sie können nicht jeden Zentimeter absuchen. Das würde ewig dauern.»

«Und was willst du jetzt machen?», fragte ich.

«Und was willste jetzt machen?», äffte er mich nach. «Ich will sterben, das will ich.»

Wie ein Butler stand ich mit dem Leuchtsignal und der kleinen Pistole vor ihm. Allmählich konnte ich Frank nicht mehr ertragen. Ich ließ die Sachen aufs Bett fallen und ging nach draußen.

Der Rabe schrie mich an.

Er hatte den toten Vogel aus dem Gebüsch gezerrt und beugte sich über ihn. In seinem Schnabel steckten schwarze Federchen. Er streckte den Kopf vor, plusterte sich auf und kreischte mich an.

Ich fand ihn ziemlich grausam, einen kleinen Kannibalen, der seinen toten Gefährten anfraß. Der Boden war mit roten Isolationsfetzen übersät, die er aus dem Draht gerissen hatte. Da er mich offensichtlich warnte, ja nicht näherzukommen, hob ich die Hände und ging um ihn herum. «Okay», sagte ich. Er wirbelte den Kopf herum, um mich mit seinen schwarzen Augen zu beobachten.

Auf der linken Seite verlief der Wildpfad, der vom Strand hier hochführte. Auf der rechten Seite führte ein weiterer Weg ins Gebüsch. Die Zweige trafen sich beinahe in der Mitte, doch der Weg war oft benutzt worden, das konnte man sehen. Eine Furche hatte sich in die Erde gegraben.

Ich ging auf dem Pfad in den Wald hinein und schlängelte mich durch die Bäume. Er führte mich zu der schmalen Felsspitze, die ich vom Strand aus gesehen hatte, und während die Brandung immer lauter wurde, gelangte ich zu einer kleinen Wiese, die an drei Seiten vom Meer umgeben war. Gelbe Gräser wiegten sich im Wind, und ein einsamer Baum setzte sich schwarz und hager gegen die Wolken ab. Stürme hatten seinen Stamm zu einem gedrehten Strick und seine Äste zu spinnenartigen Fingern verformt. Schwarz vom Alter und so gut wie entnadelt, wirkte er wie ein verkrüppeltes altes Weib, eine Hexe, die in flatternde Moosfetzen gekleidet war.

Als ich gegen die blendende untergehende Sonne die Augen zukniff, entdeckte ich vier Holzkisten in den Astbeugen.

Sie waren aus Zedernholz gezimmert und sahen fast so alt aus wie der Baum. Die Flechten auf dem Holz, das allmählich auseinanderfiel, schimmerten silbern in der Sonne. Zwei Kisten waren bereits aufgeplatzt, die kurzen Seiten waren eingebrochen. Drinnen erkannte ich Schenkelknochen und Rippen und eine runde Schädeldecke. Es handelte sich um Särge.

Im roten Schein des Sonnenuntergangs lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich dachte an die Skelette, die in ihren einzelnen Kisten wie Astronauten in einem Raumschiff schliefen. Langsam wich ich über den langen Schatten zurück, den der Baum aufs Gras warf. Dann drehte ich mich um und rannte zur Hütte.

Der Rabe stand immer noch auf der Erde und riss jetzt an dem Draht, der den Kadaver umschlang. Und wieder hob er den Kopf und breitete das Gefieder aus. Er öffnete den Schnabel so weit, dass ich die Zunge sehen konnte – einen kleinen orangen Pfeil. Der Rabe gab einen seltsamen Laut von sich, der in seiner Brust rasselte, als wollte er sprechen.

Er war groß genug, um bedrohlich zu erscheinen, und ich überlegte, wie ich um ihn herumgehen sollte, doch da kam Frank auf dem Wildpfad vom Sandstrand herauf. In diesem Augenblick schwang sich der Rabe in die Luft und flog zwischen die Bäume.

Frank war sauer. «Wo warst du?», fragte er.

«Da hinten.» Ich zeigte auf den anderen Weg. «Da steht ein Baum mit Särgen in den Ästen. Die Skelette liegen noch drin.»

Er sah mich zweifelnd an. «Zeig es mir», sagte er.

«Es ist fast dunkel», erwiderte ich.

«Na und?» Er warf sein Haar zur Seite. «Du hast doch nicht etwa Schiss?»

Ich hasste sein gemeines Grinsen. In der Tat, die Skelette hatten mir Angst gemacht, doch das würde ich nicht zugeben. «Dann komm», sagte ich.

Als wir endlich wieder auf der Wiese standen, war die Sonne untergegangen. Hinter den Waldgebieten ragte ein zerklüfteter Berg wie ein kauernder Riese auf, während die Skelette unter einem dunkelroten Himmel unbemerkt in ihren Kisten ruhten.

Als Frank zu dem Baum ging, befürchtete ich plötzlich, er würde einen Ast abbrechen und auf die Skelette einschlagen.

Doch er war ehrfürchtig und ernst und umrundete den Baum zweimal, ohne etwas zu sagen. Er schlurfte wie bei einem Beerdigungszug. Schließlich blieb er mit den Händen an den Hüften stehen und blickte zu den Särgen hoch. Der höchste war so klein, dass ein Kind darin liegen musste. Weiter unten war ein Sarg aufgebrochen, aus dem Kleidungsfetzen wie Spinnweben heraushingen. Ich sah das Skelett ausgestreckt liegen, den Schädel zu einer Seite geneigt, als würde es aufs Meer hinausschauen.

Frank ging noch näher heran, doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Als er es merkte, lachte er. «Du hast wirklich Schiss», sagte er.

«Nein», erwiderte ich. «Es ist eben unheimlich.»

«Wieso?», fragte Frank. «Es ist nur ein Friedhof. Die Landschaft besteht aus so vielen Felsen und Steinen, dass die Indigenen ihre Toten auf diese Weise begruben. Das sind nur alte Knochen.»

«Früher waren es Menschen.»

«Und?» Frank warf den Kopf zurück. «Jeder muss sterben. Ich möchte lieber in einen Baum gesteckt als in der Erde begraben werden. Wer will schon von Würmern gefressen werden?»

«Wer will von Vögeln angeknabbert werden?»

Frank zuckte auf seine nervige Art mit den Schultern. Dann ging er geradewegs zu dem Baum, legte die Hand auf die schwarze Rinde und strich über den Stamm.

«Was für ein Baum ist das?», fragte ich.

Frank blickte nach oben durch die Äste. Er sah mich an und ging weg. «Das ist ein Skeleton Tree. Ein Skelettbaum, du Penner.»

Der Wind ebbte ab und das Meer beruhigte sich. Die Wellen wogten mit einem Hauch an die Küste, und eine Möwe schrie auf ihrem Heimweg. Es waren Klänge, die ich kaum noch wahrnahm, Hintergrundgeräusche wie der Verkehr in der Stadt. Deshalb hörte ich recht deutlich das leise Scharren und Schaben im Baum. Bei der leichten Brise würden Äste nicht knacken. Es war ein Schürfen auf Holz, etwas Kratzendes.

Als ich mich umdrehte, um Frank zu folgen, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Im Schatten des offenen Sarges konnte ich die klaffenden Augen des Skeletts sehen. Es hatte den Kopf gedreht, um zu mir hinabzuschauen.

Skeleton Tree

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