Читать книгу Skeleton Tree - Iain Lawrence - Страница 13
Der Rabe
ОглавлениеSelbst jetzt, Wochen später, erschauere ich bei dem Gedanken an die Skelette.
Ich hatte Albträume von dem Versuch, es zu begreifen. Wieso liegen Särge in einem Baum? Hatte der Tsunami sie vielleicht dorthin geschleudert? Wurden die Menschen lebendig in Kisten gesteckt und dem Tod überlassen? Waren sie selbst dort hochgeklettert?
Oder Frank hat recht. Vielleicht stand einst vor langer Zeit ein Dorf am Sandstrand, und der Baum ist nur ein Friedhof in einem Land mit vielen Felsen und wenig Erde. Möglicherweise wurden die bedeutendsten Menschen in den Zweigen dieses Skelettbaums zur Ruhe gebettet. Das ergibt mehr Sinn.
Aber ich werde die Vorstellung nicht los, dass die Skelette nachts herabsteigen. Ich habe es bildlich vor mir gesehen, wie sie die Sargdeckel öffnen, in die Dämmerung hinausblicken und herunterklettern, um durch den Wald zu rennen.
Was ist das für ein Geräusch hinter mir? Wenn ich mich jetzt umdrehe, werde ich dann sehen, wie sich die Gerippe wieder auf ihre Plätze begeben? Ich kann mir vorstellen, wie ein Skelett seine langen Knochen über den Kistenrand schwingt und sich wie ein Kampfpilot in sein Cockpit in den Sarg zwängt.
Ich werde froh sein, hier wegzukommen. Aber die Skelette werde ich sicher niemals vergessen.
Sie werden bis an mein Lebensende in meinen Träumen vorkommen.
Das wusste ich schon am ersten Tag, als Frank mich am Skelettbaum allein ließ. Er ging, ohne Bescheid zu sagen, und als ich mich umschaute, war er bereits auf der anderen Seite der Lichtung und kurz vorm Waldrand. «Warte auf mich!», rief ich.
Er ging lachend weiter.
Ich rannte los und taumelte durchs Gras. Als Frank über seine Schulter blickte und mich sah, fing er ebenfalls an zu rennen und verschwand im schwarzen Schlund des Wildpfads.
Die Vorstellung, dass er ebenfalls Angst hatte oder sich zumindest ein bisschen fürchtete, gefiel mir. Doch das stimmte gar nicht, Frank plante nur voraus. Die Skelette waren ihm ganz egal, und er war nur vorausgelaufen, um das einzige Bett in Beschlag zu nehmen.
Als ich endlich in der Hütte ankam, hatte er sich bereits auf der Schaumstoffmatratze ausgebreitet und die orange Kiste mitsamt Inhalt auf den Boden geworfen.
Das gab mir einen Stich, aber da war nichts zu machen. Es gelang mir, die Tür zu schließen und festzudrücken, doch der alte Holzriegel war kaputt. Wegen des verbretterten Fensters war es in der Hütte schwarz wie in einem Grab, und ich musste mich zu der Ecke vortasten, wo ich mich auf den nackten Boden legte. Ich schlief sofort ein, wurde aber gleich wieder aufgeschreckt. Draußen bewegte sich etwas.
«Hast du das gehört?», fragte ich. «Frank! Hast du das gehört?»
Obwohl er im Halbschlaf war, wurde er sofort wütend. «Was soll ich gehört haben?», fragte er barsch.
«Dieses Geräusch.»
«Welches Geräusch?»
Da war es wieder, ein leises Kratzen. «Da!»
«Das ist nichts», sagte Frank. «Schlaf jetzt.»
«Ich glaube, da draußen ist etwas», sagte ich.
«Da draußen ist immer etwas», sagte Frank. «Das ist so im Wald.»
Das Bett knarrte, als er sich auf die Seite wälzte. Für ihn war die Sache erledigt. Ich legte mich wieder auf den Boden, aber ich konnte unmöglich einschlafen. Stocksteif und mucksmäuschenstill lag ich da und lauschte angestrengt. Doch nichts rührte sich.
«Frank? Schläfst du?»
Er stöhnte. «Ja, Chris, ich schlafe.»
Ich versuchte, einen freundlichen Ton anzuschlagen. «Glaubst du, wir kommen wieder nach Hause?»
Er schwieg.
«Ich glaube, ja. Wetten, dass andauernd Boote vorbeifahren? Und Wasserflugzeuge natürlich auch. Vielleicht sehen wir morgen schon eins.»
Frank lag still auf dem Bett.
«Wir können uns mit dem Ausschauhalten abwechseln», schlug ich vor. «Wenn wir ein Boot oder ein Flugzeug sehen, können wir die Leuchtpistole abfeuern.»
Er grunzte nicht einmal.
«Oder wir nehmen das Leuchtsignal und machen damit Feuer. Hey, warum nicht?», sagte ich. «Ein Feuer würde uns warmhalten und wäre gleichzeitig ein Signal. Ich meine, wenn du kein Feuer mit …»
«Ich weiß, wie man Feuer macht», sagte Frank. «Das habe ich dir schon mal gesagt, du Penner. Und jetzt halt die Klappe und schlaf.»
Eine Weile lag ich schweigend unterhalb von ihm. Dann sagte ich: «Frank? Nur …»
«Schnauze!»
«Sag mir nur noch eine Sache», sagte ich. «Willst du hier in der Hütte bleiben? Oder willst du weiter nach Norden gehen?»
Keine Antwort.
«Frank, was willst du tun?»
«Schlafen», sagte er. Und das tat er dann auch. Kurz darauf schnarchte er leise, und das Geräusch tröstete mich.
Der Morgen kam in grauen Lichtstreifen durch das verbretterte Fenster, den Türrahmen und durch schmale Ritzen in den Hüttenwänden. Es war kalt und unbequem, und ich stand stöhnend vom Boden auf. Frank war wach und räkelte sich auf dem Schaumstoffpolster. Seine Jacke diente als Zudecke. Er beobachtete mich auf dem Weg zur Tür.
«Wo willst du hin?», fragte er.
«Ausschau nach Schiffen halten.»
«Halte Ausschau nach Wasser», entgegnete er. «Das ist wichtiger. Oder such was zu essen.» Er warf die Jacke beiseite und setzte sich hin. «Hol Seetang.»
Ich hatte etwas dagegen, derart herumkommandiert zu werden. «Hol’s dir selbst», sagte ich.
«Na gut, Chrissy», sagte er mit gespielter Geduld. «Eigentlich wollte ich Muscheln oder so etwas sammeln. Aber wenn du das lieber tun willst, meinetwegen.»
Er wusste genau, wie er mich ärgern konnte. Er benutzte genau den richtigen Ton und die richtigen Wörter, und er wusste natürlich, dass ich keine Ahnung von Muscheln hatte. «Vergiss es», sagte ich.
Als ich gegen die Tür drückte, um rauszukommen, fiel sie mit ihrem letzten Scharnier krachend auf den Boden. Schon wieder blickte der Rabe von dem Kadaver seines toten Freundes zu mir auf. Er war ebenso überrumpelt wie ich, flatterte hoch und sauste über meinen Kopf hinweg aufs Dach der Hütte, wo er von einem Bein aufs andere trat. Sein Rückengefieder war zerzaust und unordentlich, und er wirkte auf mich wie ein besorgter kleiner Mann. Als ich mich über den toten Vogel beugte, quäkte er traurig. Und als ich ihn hochhob, heulte er auf.
«Alles gut», sagte ich zu dem Raben.
Obwohl der tote Vogel so groß war, wog er fast nichts. Er fühlte sich hart und hohl an, vertrocknet wie ein alter Flaschenkürbis. Während ich ihn hielt, kam Frank aus der Hütte. Sein Haar war stachelig und wirr wie das Gefieder des Raben, und als er mich sah, schnitt er eine Grimasse. «Der wimmelt sicher von Läusen», sagte er.
Ich ließ ihn fallen. Frank beförderte den Kadaver erneut mit Tritten ins Gebüsch. Der Rabe auf dem Dach kreischte, doch Frank schenkte ihm keine Beachtung. «Im Wald wirst du keinen Seetang finden», sagte er und ging an mir vorbei.
Der Rabe auf dem Dach murrte und gurrte. Ich sah den toten Raben mit dem Schnabel nach unten im Gebüsch liegen, holte einen Stock und zog ihn wieder hervor. Dann hob ich in Moos und Erde kratzend ein kleines Grab aus.
Die Schreie des Raben wurden lauter. Er schwang den Kopf und zerschlitzte mit dem Schnabel die Plastikabdeckung. Er jammerte. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf dem großen, am Hang gelegenen Friedhof am Grab meines Vaters gestanden und meine Mutter neben mir geweint hatte. So wie ich mich da gefühlt hatte, dieses Geräusch machte der Rabe.
Schließlich legte ich den toten Vogel sanft in das flache Grab und wollte ihn zudecken, als mir der Skeleton Tree einfiel. Wer will schon von Würmern gefressen werden, hatte Frank gesagt. Ein Rabe ganz bestimmt nicht. Ich hob den Vogel hoch und trug ihn nach unten zur Landspitze. Der Rabe schwang sich vom Dach, um mir zu folgen, und als ich die Lichtung erreichte, saß er bereits auf der Spitze des Skelettbaums. Für ihn war der Baum nur ein Ort, von wo er Meer und Land überschauen konnte. Die Skelette bedeuteten einem Raben nichts, er hatte keine Angst vor dem Tod und alten Knochen.
An diesem Tag war es windstill, und es fühlte sich an, als ginge der Sommer zu Ende. Weit oben tüpfelten Wölkchen den Himmel, der heute wässrig-blau war, und die uralten Särge wirkten wie kleine Boote, die auf einem großen weiten Ozean schwammen.
Unter dem aufmerksamen Blick des Raben nahm ich den roten Draht ab und hängte ihn mir in einer Schlaufe um den Hals. Schockiert stellte ich fest, dass er tief ins Gefieder und in den Körper des Vogels eingeschnitten hatte. Doch die Flügel fielen auseinander, und ich empfand es so, als hätte ich den Raben befreit. Dann streckte ich die Arme so weit wie möglich nach oben und legte das arme tote Ding in eine Astbeuge.
Ich wollte eigentlich nicht in die Kisten schauen, doch das Flattern von zerschlissenem Stoff erregte meine Aufmerksamkeit, und plötzlich blickte ich geradewegs durch den weggefaulten Boden eines Sargs auf dasselbe Skelett, das in der vergangenen Nacht auf mich herabgesehen hatte.
Moosfetzen klebten an seinem Kopf, und der Schädel war erneut zum Himmel hin ausgerichtet. Der Wind hat ihn gedreht, redete ich mir ein. Aber es war überhaupt nicht windig gewesen.
Ich rannte zum Ende der Landspitze. Die Flut stieg so hoch, dass der Seetang größtenteils überschwemmt war, doch ich fand ein paar Stücke brauner Meeresalgen, die zwischen die Felsen geworfen worden waren. Ich riss die langen Blätter ab und ging damit zurück, ohne einen weiteren Blick auf den Skelettbaum zu werfen.
Frank kehrte unmittelbar nach mir mit einem alten Eimer zurück, den er nun in der Mitte der Hütte auf den Boden stellte. Dann ging er in die Hocke und versuchte, mit zwei Stöcken aus dem verstreuten Brennholz Feuer zu machen. Ich spähte in den Eimer, der eine sich windende Masse von Kreaturen à la Frankenstein – halb Pflanze, halb Tier – enthielt. «Was ist das denn?», fragte ich angewidert.
«Rate mal», sagte Frank.
Ich hatte keine Ahnung. Als ich den Eimer schüttelte, erbebten die Kreaturen. Frank hatte gesagt, er wolle Muscheln sammeln, doch Muscheln waren das nicht. Auf gedrungenen Stummelkörpern saßen knollenförmige Köpfe, die Ähnlichkeiten mit Klauen hatten. Sie zuckten und ruckten auf eine Art und Weise, die ich nicht normal fand. Ich dachte an die Atomkraftwerke, die von dem Tsunami zerstört worden waren. «Sind das Mutanten?», fragte ich.
Frank schnaubte. Er rieb die Stöckchen so schnell aneinander, dass seine Hände wie ein verschwommener Fleck wirkten, doch erneut gab es weder Flammen noch Rauch. Und wie beim letzten Mal verlor er schließlich die Geduld und warf die Hölzer weg. «Scheiße!», rief er. «Dann essen wir sie eben roh.»
«Aber was ist es denn nun?», fragte ich.
Er hätte mich am liebsten angeschrien. «Entenmuscheln, du Idiot!» Dann schnappte er sich den Eimer, doch als er einen Blick hineinwarf, hätte ich beinahe gelacht, weil er aussah, als würde er gleich reinkotzen. «Sie klammern sich draußen auf See an Gegenstände», erklärte er. «Meistens sind sie bereits tot, wenn man sie findet. Ich habe noch nie eine gegessen.»
«Und was ist mit den Muscheln?», fragte ich.
«Hochwasser, Mann.»
Ich hatte noch nie Muscheln ausgegraben, aber sogar ich wusste, dass das nicht ging, wenn der Strand überschwemmt war. Frank holte eine Entenmuschel aus dem Eimer und hielt die Klaue zwischen seinen Fingern, während sie sich wand wie eine Made.
Ihre braune Haut war runzlig wie ein Elefantenrüssel. Mit einem leisen reißenden Geräusch zog Frank sie ab. Das Fleisch, das darunter hervorkam, war gelb. Frank verzog das Gesicht, steckte das Ding in den Mund und biss den fleischigen Kopf ab. Die Klaue warf er in den Eimer. Dann wischte er sich mit der Hand über den Mund.
«Nicht schlecht.»
Ich lachte. Seine saure, angewiderte Miene sprach Bände.
«Nein, echt», sagte er.
Dann mussten wir beide lachen, und der gelbe Schleim der Entenmuschel warf in seinem Mund Blasen. Es war unglaublich eklig, aber zum ersten Mal hatten wir gemeinsam ein bisschen Spaß.
Er aß eine zweite und dritte, bevor ich selbst eine probierte. Die Muschel schmeckte salzig und nahrhaft, und ich fand es scheußlich, dass sie noch lebte. Ich musste würgen, als sie durch meine Kehle glitt. Doch der Geschmack war gar nicht so schlecht.
Frank sah zu, wie ich sie herunterschluckte. «Und?»
«Ich habe schon schlimmere Sachen gegessen», antwortete ich. «Als kleiner Junge habe ich mal Hundeköttel gegessen.»
Frank lachte. «Ich habe Glas gegessen.»
«Echt? Was ist passiert?», fragte ich.
«Ich weiß es nicht mehr genau», sagte Frank. «Aber es war unheimlich. Meine Mutter ist ausgeflippt und hat die Notrufnummer gewählt. Die Ärzte haben mir Watte zu essen gegeben.»
«Wieso?»
«Um das Glas zu polstern, glaube ich.» Frank zuckte mit den Schultern. «Ich habe geweint, das weiß ich noch.»
Kaum vorstellbar, dass Frank weinte. Er wollte weitererzählen, doch dann hielt er inne, als hätte er schon zu viel gesagt. Wir aßen weiter Entenmuscheln und leerten den ganzen Eimer, während wir zusammen alberten und lachten. Ich legte vier Entenmuscheln in meiner Hand zurecht wie Finger. Frank ließ zwei von seinem Kopf baumeln wie Fangarme von Aliens. In dieser kleinen Hütte und in dieser einsamen Umgebung waren wir glücklich.
«Hey, Frank?», sagte ich.
«Ja?» Er hob lächelnd den Kopf.
«Wieso hat Onkel Jack dich zum Segeln mitgenommen?»
Plötzlich war es, als hätte sich zwischen uns eine Tür geschlossen. Ich hörte sie praktisch zuknallen. Franks Lächeln fiel in sich zusammen, und eine halb aufgegessene Entenmuschel baumelte in seinen Fingern.
«Darüber möchte ich nicht reden», sagte er in einem derart frostigen Tonfall, dass ich Angst bekam. «Ich bin froh, dass er tot ist. Das ist alles.»
Frank stand auf, warf die Muschel in den Eimer und ging in den Wald. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, räumte ich die Hütte auf. Ich faltete die Plastikplanen und schob sie unters Bett. Dann stellte ich den Tisch auf, stapelte das Brennholz und arrangierte die Steine wieder in einem ordentlichen Kreis. Als Frank zurückkam, lag ich auf allen vieren, immer noch mit dem roten Draht um den Hals, und versuchte, die Einzelteile des Walkie-Talkies aufzusammeln. Er stieg einfach über mich drüber und warf sich aufs Bett.
Die Stille war grauenhaft. Obwohl ich nicht als Erster etwas sagen wollte, konnte ich mir auch vorstellen, dass wir beide störrisch genug waren, um nie wieder miteinander zu reden. Plötzlich hatte ich ein Bild von uns beiden vor Augen, wie wir alt und bärtig voreinander saßen und uns anstarrten. Das brachte mich zum Lachen.
«Was ist so lustig?», fragte Frank.
«Nichts.»
«Und warum lachst du dann, Blödmann? Lachst du mich etwa aus?»
«Nein», antwortete ich und fand es komisch, dass ihm das etwas ausmachen könnte. Ich hätte nicht gedacht, dass Leute wie Frank sich überhaupt vorstellen konnten, ausgelacht zu werden.
Da ich den Drehknopf des Funkgeräts nicht finden konnte, setzte ich mich mit dem Taschenbuch auf den Stuhl, dem Rabenjäger Kaetil. Die Seiten waren vergilbt und hatten Eselsohren und Flecken. Irgendwer hatte das Buch mindestens hundertmal gelesen, und es schlug sich von selbst am Anfang auf, als hätte der Hüttenbesitzer es ihm antrainiert.
Sobald ich anfing zu lesen, wurde ich von Frank unterbrochen. «Was machst du da?», fragte er.
«Wonach sieht’s denn aus?», fragte ich zurück. «Ich lese ein Buch.»
«Kannst du nicht etwas Sinnvolles tun?»
Die gleichen Worte hatte ich tausendfach von meinem Vater zu hören bekommen. Frank stand auf, wie er es auch getan hätte, und schlug mir das Buch aus den Händen. «Komm mit», sagte er. «Wir gehen auf Schatzsuche.»
Den Satz kannte ich auch. Nach demselben Versprechen von Schätzen war ich mit meinem Vater zur English Bay gegangen. Jetzt folgte ich Frank auf einem Weg durch den Wald, der uns nördlich zu einem kalten Bach führte. Er gluckerte über winzige Wasserfälle in einen Teich, der so rund war wie ein Fass. Frank ließ sich fallen und tauchte mit dem Gesicht hinein. Wir hatten seit dem Vortag nichts getrunken. Dennoch trank ich wie ein schüchternes Tierchen, schöpfte Wasser mit der Hand und behielt den Wald im Auge.
Obwohl das Wasser so kalt war, dass es an den Zähnen wehtat, wusch Frank sich das Gesicht und seine Haare, auf die er sich so viel einbildete, und verspritzte silberne Tropfen in der Sonne. Während ich den Blick schweifen ließ, entdeckte ich an einem Baumstamm ein Klappmesser mit einem roten Griff. Auf einmal vergaß ich meine Angst und lief dorthin. «Ein Messer!», rief ich.
«Zeig her», sagte Frank.
Die Klinge war ausgefahren und braun gefleckt. «Es ist rostig», sagte ich.
«Gib schon!» Frank stand auf und streckte die Hand aus. Da ich wusste, dass er auf mich losgehen würde, wenn ich es ihm nicht sofort aushändigte, reichte ich es ihm, um keine Zeit zu vergeuden und mir blaue Flecken zu ersparen.
Frank warf es auf seine Handfläche, ließ die Klinge einschnappen und ausfahren und hielt sie dann dicht vor seine Augen.
«Ich glaube, das ist kein Rost», sagte er.
Er tauchte das Messer in den Teich und säuberte die Klinge mit den Fingern, bis kleine rote Strudel davontrieben. Ich fand es unheimlich: Erst entdeckten wir eine verlassene Hütte, dann ein blutverschmiertes Messer. Doch Frank hatte eine einfache Lösung parat.
«Hier hat der Typ aus der Hütte vermutlich seinen Fisch und so gesäubert. Vielleicht auch Kaninchen», sagte er. «Ein Glück, dass er das Messer verloren hat.»
Ich beobachtete, wie Frank die Klinge ein- und ausfahren ließ. «Okay, jetzt gib es mir zurück.»
«Es gehört dir nicht», sagte Frank. «Es gehört dem Typen aus der Hütte.»
«Klar, ich gebe es ihm zurück, wenn er wiederkommt.» Ich streckte die Hand aus und ließ die Finger wackeln. «Gib mir das Messer.»
Frank warf sein nasses Haar nach hinten. Lächelnd streckte er die Hand mit dem Messer aus – bis ich es nehmen wollte. Dann riss er den Arm zurück, steckte es in die Tasche und ging auf dem Wildpfad weiter.
«Hey, voll nett», sagte ich. «Das ist ja richtig nett.» In dem Moment hätte ich ihn am liebsten umgebracht und murmelte supergemeines Zeug hinter seinem Rücken.
Doch ich vergaß meinen Ärger, als wir tiefer in den Wald eindrangen. Überall wuchs dickes, schweres Moos auf jedem Hubbel, in jeder Kuhle und auf allen umgefallenen Baumstämmen. Nachdem wir darauf getreten waren, richtete es sich sofort wieder auf, und wir hinterließen keine Spuren, waren mucksmäuschenstill. Die Bäume schossen säulengerade nach oben und breiteten sieben Stockwerke höher unvermittelt ein schimmerndes Dach aus Grün und Gold aus. Hier war noch nie ein Holzfäller gewesen, und die Bäume konnten gut und gern tausend Jahre alt sein.
Wir sprachen kein Wort, während wir durch den Wald und eine weitere Meile über gigantische Klippen liefen. Irgendwann neigte sich das Gelände zu einem Kiesstrand. Und dort fanden wir zwischen angeschwemmten Baumstämmen und riesigen Felsblöcken ein Fischerboot.