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Der letzte Morgen

Wenn ich nachts aufwache, habe ich Angst.

Ich liege mit offenen Augen da, blicke in die Schwärze und lausche jedem einzelnen Geräusch im Wald. Die Decke oder die Wände der Hütte kann ich nicht sehen. Frank kann ich auch nicht sehen und befürchte einen Augenblick lang, dass er nicht mehr da ist. Doch dann höre ich in der Dunkelheit das Flattern seines Atems und fühle mich sofort sicherer, weil er in meiner Nähe ist.

Früher hatte ich ständig Angst, und nachts war es am schlimmsten. Wenn die Sonne unterging, hätte ich schreien können. Das hat sich geändert. Mittlerweile habe ich vieles über den Wald und das Meer und so einiges über mich selbst gelernt. Doch wenn ich nachts aufwache, fürchte ich mich immer noch.

Draußen im Wald wartet etwas. Es ist so still und reglos wie ich selbst, weil wir beide lauschen.

Ist es der Grizzlybär? Ich stelle mir vor, wie er riesenhaft und zottelig gleich neben der Hütte steht und uns nur die paar Zentimeter Wand voneinander trennen. Es könnte aber auch ein Wolf sein. Wir haben sie heulen hören, jede Nacht ein wenig näher. Oder es ist ein Mann – oder sogar ein Skelett. Ich habe gehört, wie sie sich in ihren Särgen drehen. Das ist der Stoff meiner Albträume, der sich in meinen Gedanken im Kreis dreht und mich wahnsinnig macht.

Als Erstes denke ich stets an die schlimmsten Dinge. Vermutlich ist es nur ein Eichhörnchen. Oder es ist ein Reh, das im nächsten Augenblick die Flucht ergreift und mit langen Sätzen lärmend durch den Wald springt. Ich hoffe, es ist mein nachtschwarzer Rabe, der endlich von seinen Ausflügen zurückkehrt. Doch ich habe Angst, ihn zu rufen. Durch die Hüttenwand, durch die nächtliche Stille spüren wir, wie der andere wartet. Wir sind nur zwei lebendige Wesen in der Dunkelheit.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis es am Fenster heller wird. Es dauert Stunden, aber vielleicht fühlt sich das auch nur so an. Doch lange vor Sonnenaufgang glänzt das Rechteck aus Plastik allmählich grau. Schatten von Bäumen tauchen auf wie Radierungen in einer Schieferplatte. Durch die Ritzen in der Hüttenwand dringen schmale goldene Lichtstrahlen.

Mit dem Morgen schwinden meine Ängste. Genau wie das Ding im Wald. Obwohl es keinen plötzlichen Lärm gibt, keine stampfenden Schritte und ich nicht höre, wie es weggeht, weiß ich, dass es nicht mehr da ist. Ich habe lange genug in der Wildnis gelebt, um so etwas zu spüren.

Jetzt geht es schnell. Die Dunkelheit in der Hütte verflüchtigt sich zu Schatten, und die Schatten verändern sich, je härter ihre Kanten werden. Pilze sprießen aus dem Boden und werden zu den Steinen der Feuerstelle. Ein Tier mit mageren Beinen verwandelt sich in unseren Tisch aus Treibholz. Abscheuliche Männer stehen in der Ecke, um schließlich in die Plastikumhänge an den Kleiderhaken zu schlüpfen.

Ich erkenne den Stapel Brennholz, die Wasserflaschen und die Schuhe, die sich unter dem Tisch häufen. Ich glaube, bei den Schuhen ist es mit mir durchgegangen. Ich sehe das Zeug, das ich vom Strand angeschleppt habe und das Frank als Müll bezeichnet. Es bedeutet mir so viel, weil es aus Japan übers Meer kam. Über diese Gegenstände denke ich gern nach und erfinde Geschichten dazu.

Knapp über dem Boden, wo Frank schläft, zeigen helle Kerben in der Wand, wie viele Tage vergangen sind. Sie quetschen sich aneinander und verschwimmen zu einem langen Schmutzfleck wie die Tage selbst: dreißig, vierzig, fünfzig und einer wie der andere.

Dann fällt mir ein, dass dieser Tag anders ist. Heute ist der Tag, an dem wir gerettet werden.

Es ist noch früh, mindestens eine Stunde vor dem Morgengrauen. Doch so lange kann ich nicht warten. Ich muss zu dem Skeleton Tree hinuntergehen, unserem Skelettbaum.

Ich wälze mich aus dem Bett und kauere über Frank. Es ist noch nicht lange her, seit ich Angst gehabt hätte, ihn auf diese Weise zu wecken. Er wäre sehr schnell sehr wütend geworden. Doch heute Morgen macht es ihm sicher nichts aus. Ich rüttle an seiner Schulter, rufe seinen Namen, und schon fliegen seine Fäuste nach oben, um zu kämpfen. Schreiend weicht er zurück und stößt sich den Rücken an der Hüttenwand. Seine Augen sind groß und verwundert, und als er mich sieht, stöhnt er. «Was ist mit dir los?», fragt er. «Bist du verrückt geworden?»

«Heute ist der Tag», sage ich zu ihm.

«Hör auf, mich anzuschreien», murrt er.

Ich verstehe nicht, warum er nicht aufgeregt ist. Frank ist nur drei Jahre älter als ich, also noch nicht einmal sechzehn. Aber manchmal könnte man meinen, er wäre fast erwachsen. Er fährt sich durch sein stumpfes Haar und sieht mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster. «Es ist nicht einmal Morgen, Chris.»

«Aber vielleicht landen sie ja in diesem Moment», sage ich. «Willst du nicht dabei sein?»

Er hustet und schüttelt den Kopf. «Geh schon mal vor. Ich möchte weiterschlafen. Aber mach vorher Feuer, mir ist kalt.»

Noch vor einem Monat hätte ich mich darüber geärgert, herumkommandiert zu werden, doch mittlerweile weiß ich, dass Frank eben so ist. Ich gehe an dem Steinkreis in die Hocke und scharre mit einem dünnen Stock in der Asche. Die Holzkohle darunter ist noch warm und glimmt. In ihrem Schein sehe ich meinen Atem als kleine rote Wolke, wie ein Drachenfeuer. Ich lege ein paar Zweige und ein Stück getrocknetes Moos in den Kreis, und als ich mich vorbeuge, um über die glühenden Holzscheite zu blasen, bekomme ich Rauch in die Augen und kneife sie zu. Doch die Flammen flackern rasch auf. Inzwischen bin ich ein Fachmann, was Feuermachen angeht, und kann es vielleicht sogar besser als Frank.

Ich lege Holz dazu. Der Rauch wird dicht und zäh, kräuselt sich zur Decke und zieht durch das Loch ab. Ich sehe vor mir, wie Bilder entstehen, Bilder, die auseinanderwirbeln und sich neu formieren.

Mein Onkel Jack hat einmal gesagt, wenn man zu lange ins Feuer schaut, stiehlt es einem die Gedanken. Er hatte recht.

Skeleton Tree

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