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Das Rettungsboot

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Mir ist bewusst, dass Frank etwas zu mir gesagt hat. Er macht es mir unmissverständlich klar, indem er mich in den Hintern tritt. Dafür muss er nicht extra aufstehen. Er schwingt einfach sein Bein und gibt mir einen Tritt.

«Hey!», ruft er. «Alles okay mit dir?»

Die Kohlen knistern im Feuer. Flammen schießen durch den Rauch nach oben und werfen ihre seltsamen Bilder an die Wand. Ich nicke als Botschaft an Frank, dass es mir gut geht. «Hab nur nachgedacht.»

«Dann denk draußen nach», sagt er. «Das nervt.»

Ich schnappe mir einen Plastikeimer und lege rasch alles hinein, was ich brauche: ein Plastikcape und meinen verschlissenen Poncho, das Taschenbuch mit den abgegriffenen Seiten, eine Flasche Wasser und die Hälfte unseres letzten Stücks Fisch. Als ich die Tür öffne, ragen die Bäume hoch über mir auf und strecken ihre zotteligen Äste nach unten aus. Vom Meer ertönt das sanfte Brechen der Wellen, als würde der Wald atmen.

Der Weg schlägt einen dunklen Tunnel durch die Salalsträucher, in denen sich alles Mögliche verbergen könnte. Vor sechs Wochen hätte ich es noch nicht gewagt, allein hier langzugehen. Selbst jetzt, wenn ich an den Bären und die Wölfe denke, wünsche ich, ich hätte auf Frank gewartet. Andererseits kenne ich jede Biegung, jeden Knick. Ich habe gelernt, mit all den Dingen, die mir Angst machen, umzugehen. Ich ziehe nur den Kopf ein und renne weiter.

Äste reißen an meinem Eimer, Wurzeln wollen Stolperfallen sein, doch ich bleibe oben, und sobald ich die Lichtung erreiche, sehe ich den Skelettbaum. Er steht allein auf dem grasbewachsenen Gestein, und seine Äste verrenken sich vor dem Himmel. Die schwarzen Konturen der Särge ruhen in seinen knorrigen Armen, und ich schaue nicht hoch, als ich unter ihnen vorbeisause, geradewegs zu dem felsigen Strand, an dem der Heilige aus Holz blind aufs Meer hinausblickt.

Es ist eine schreckliche Enttäuschung, das Meer schwarz und leer zu sehen. Kein Schiff der Küstenwache, kein Hubschrauber – nichts außer meinen Erinnerungen.

Irgendwo da draußen in den wogenden und schlingernden Wellen habe ich Onkel Jack zum letzten Mal gesehen.


Ich schrie seinen Namen, als sich das Meer in die Kabine ergoss. Doch niemand rannte herbei, um mich zu retten.

Hinter der offenen Luke schwebten bauschige Wolken, die von der Sonne angestrahlt wurden. Das Steuerrad glänzte und das große Segel schlug vor und zurück, die Leinen strafften sich zitternd. Auf einmal überfiel mich die grauenhafte Vorstellung, Onkel Jack wäre mit dem anderen Jungen weggegangen und hätte mich auf einem sinkenden Boot allein zurückgelassen.

Ich wand mich in meinem Schlafsack, rollte vom Bett und fiel in das eiskalte Wasser. Ich schnappte nach Luft. Die Puff schlingerte, und ich wurde erst an den Küchentresen und dann an den Herd gestoßen. Als ich die Leiter hinauf ins Cockpit flüchtete, war kein Land in Sicht.

Ich drehte mich um und blickte zum Bug. Da war Onkel Jack, der mit Frank versuchte, das kleine rote Dinghy loszubinden, das nun tatsächlich unser Rettungsboot werden sollte.

Der Bug der Puff tauchte ins Meer und schoss wieder hoch, sodass das Wasser in einem silbernen Schwall abfloss. Frank lag auf den Knien und klammerte sich an die Takelage, während die Gischt über ihn hinwegflog. Onkel Jack hackte mit einem Messer auf die Leinen ein, und die Wellen waren haushoch.

In der Klinge fing sich das Sonnenlicht. Mit einem Mal sprang das kleine Boot von seinem Platz, wurde von einer Welle erfasst und geradewegs über die Reling geschleudert. Das Meer nahm es mit, bis es ruckartig hochgedrückt wurde, als sich das Halteseil spannte.

«Rein da!», schrie Onkel Jack. Doch Frank rührte sich nicht.

Onkel Jack musste seine Finger einzeln von der Takelage abziehen. Dann hob er ihn hoch, stellte sich breitbeinig hin und suchte auf dem stampfenden Deck sein Gleichgewicht. Vor der aufgewühlten See sah er groß und heldenhaft aus. Als das Beiboot auf einer Welle nach oben schoss, ließ er Frank hineinfallen. Dann drehte er sich um und kam zu mir, indem er sich fest an den Handlauf klammerte, während die Wogen über das Deck schwappten.

Er kletterte ins Cockpit. «Hast du das Funkgerät mitgebracht?», rief er.

«Nein», antwortete ich. Das Beiboot wurde von einer Welle hochgehoben, stieg über unsere Köpfe und verschwand anschließend unterhalb der Reling. Der andere Junge lag reglos da.

«Die Signalfackeln?», fragte Onkel Jack. «Die Rettungswesten?»

Ich schüttelte den Kopf. Das Denken fiel mir unendlich schwer.

«Warte hier.»

Er tauchte die Leiter hinunter in die Kabine. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust und stieg schnell. Alles, was schwimmen konnte, wirbelte in einem Strudel.

«Komm zurück, Onkel Jack!», rief ich.

Er sah mir kurz in die Augen. «Spring ins Rettungsboot, Chrissy», sagte er, bevor er weiter in die Kabine vordrang und sich einen Weg durch die mahlende Masse aus Kissen, Bodenbrettern und Bettdecken bahnte.

Das Deck, das zuvor so hoch erschienen war, lag nun auf gleicher Höhe mit dem Meer. Nur das niedrige Kabinendach ragte noch aus dem Wasser, und jede Welle brandete durchs Cockpit.

«Onkel Jack!», schrie ich.

Es sah aus, als würde ein Fluss durch die Luke in die Kabine fließen. Ich sah, wie Onkel Jack das Walkie-Talkie von seinem Platz nahm, doch das Wasser drückte dermaßen, dass er nicht ins Cockpit zurückkehren konnte.

«Hier!», schrie er. «Fang!» Er warf das Funkgerät zu mir hinauf.

Ich versuchte es aufzufangen und hielt es einen Augenblick lang tatsächlich in den Händen. Doch es entglitt mir. Ich stürzte los, um es zu packen, und wäre dadurch beinahe selbst durch die Luke gefallen. Ich hielt mich an den Seitenkanten der Luke fest, während das Funkgerät im schwarz wirbelnden Wasser unterging. Als Onkel Jack zu mir hochblickte, las ich Angst und Kummer in seinen Augen – und noch etwas. Ich hatte ihn enttäuscht.

Das Meer flutete durch die Luke, stieg über Onkel Jack hinweg und saugte ihn in die Dunkelheit. Anschließend platzten dicke Blasen aus der Luke, und das Deck rutschte mir unter den Füßen weg. Ich trieb im Meer.

Das Kabinendach verschwand. Die Reling tauchte ins Wasser, und als das kleine rote Beiboot darübergewirbelt wurde, ließ ich mich hineinfallen. Franklin saß jetzt aufrecht, doch er sagte kein Wort und blickte stur geradeaus. Seine Hände krallten sich wie Klauen an die Seiten des Bootes.

Das Meer brodelte vor lauter Leinen und Segeln und Dingen, die aus der Kabine entwichen waren. Ich entdeckte Kräckerschachteln, einen Laib Brot, ein paar von Onkel Jacks Erinnerungsstücken. Dann bekam ich Angst, dass die Puff uns in die Tiefe ziehen würde, und machte mich an der Leine zu schaffen, mit der wir an ihr festgebunden waren. Der feste Knoten ließ sich nicht lösen, und ich ging erst mit den Händen und schließlich mit den Zähnen darauf los. Das Rettungsboot neigte sich, der Bug tauchte unter Wasser. Ich sah die Puff als schattenhaftes Ding tief unter der Wasseroberfläche. Endlich riss die Leine mit einem heftigen Knall, und das Rettungsboot klatschte flach aufs Wasser. Langsam trieben wir mit dem Wind und schlingerten über die Wellen.

Die Puff war gesunken. Um uns herum war nichts mehr zu sehen außer dem schrecklichen Meer. Das rote Boot tanzte über die Wogen, und wir wurden hin- und hergeschleudert. Ich brüllte, bis ich heiser war.

«Onkel Jack!»

«Onkel Jack!»

Auf See gab es kein Echo. Und selbstverständlich auch keine Antwort.

Die Wirkung der blauen Tabletten war abgeklungen, doch noch immer erschien mir alles wie ein Traum ohne Bezug zur Realität, als wir in dem kleinen roten Boot trieben. Während es in den Wellen schaukelte, blieb Frank reglos sitzen. Er verlagerte nicht einmal das Gewicht, um uns in der Balance zu halten. Die Jacke hatte er bis zum Kinn zugezogen, klammerte sich weiterhin fest und blickte mich an, ohne mich wirklich zu sehen.

Am anderen Ende musste ich mich vorbeugen, zurücklehnen oder zur Seite ausweichen, um das Gleichgewicht immer wieder von Neuem herzustellen. Dennoch schwappte an den Seiten weiterhin Wasser ins Boot, das kurz darauf bereits um meine Knöchel rauschte.

Die Schöpfkelle aus Plastik hatte sich mit den Rudern verheddert. Ich riss sie von der Schnur und schöpfte Wasser aus dem Boot. Andauernd schaute ich auf meine Uhr, bis ich merkte, dass sie stehengeblieben war. Der Anblick der reglosen Zeiger machte mich wütend und raubte mir die Hoffnung. Ich legte den Kopf in den Nacken und brüllte das Meer und den Himmel an.

Bei Sonnenuntergang flaute der Wind ab, die Wellen wurden flacher, und wir liefen nicht mehr Gefahr zu kentern. Aber meine Angst steigerte sich ins Unermessliche, während ich zusah, wie der Himmel sich rot färbte. In dem winzigen Boot, weit entfernt vom Land, fragte ich mich, was Onkel Jack zuletzt wohl gesehen hatte. Und schwammen etwa alle Menschen, die ins Meer geschleudert worden waren, um uns herum?

In jeder Hinsicht trieb ich hilflos im Dunkeln, ohne zu wissen, wohin die Reise ging und was ich am Ziel vorfinden würde. Ich wünschte sehnlichst, ich wäre zu Hause bei meiner Mutter. Vermutlich stand sie an dem großen Wohnzimmerfenster, blickte in dieselbe Dunkelheit hinaus und dachte an mich, so wie ich an sie. Doch sie hatte keine Ahnung, dass ich auf dem Meer herumirrte. Sie glaubte sicher, ich würde fröhlich mit Onkel Jack segeln.

Die Dunkelheit setzte ein. Dann überstrahlten die Sterne den schwarzen Himmel – mehr Sterne, als ich je gesehen hatte. Dazwischen schwebten Satelliten mit einer stillen, stetigen Beharrlichkeit, die eine fürchterliche Einsamkeit in mir hervorrief.

Frank saß die ganze Zeit starr am anderen Ende, und die Umrisse seiner Gestalt zeichneten sich vor den Sternen ab, wenn die Wellen das Boot anhoben. Da ich vor Kälte zitterte, schlang ich meine durchweichte Jacke enger um mich und rieb mir die Arme, um ein wenig Wärme zu erzeugen.

Im Morgengrauen sah ich Wolken in der Ferne. Und unter den Wolken war Land, eine Reihe zerklüfteter Berge mit schneebedeckten Wipfeln. Die Strömungen und Winde drückten uns in die richtige Richtung, aber es ging so langsam voran, dass ich befürchtete, wir würden die Küste niemals erreichen. Franks Finger waren weiß und verschrumpelt und glichen ertrunkenen Würmern, eingehakt über dem Bootsrand. Seine Zähne klapperten, um seine Augen zuckte es, und er erschauerte immer wieder. Ich hatte furchtbare Angst, dass er sterben würde. Wie sollte es dann weitergehen? Ich konnte nicht mit einem toten Jungen in diesem Boot sitzen, doch wie sollte ich ihn über Bord werfen und zusehen, wenn er in der blauen Dunkelheit des Meeres unterging?

Ich löste die Ruder aus ihrer Halterung und begann zu rudern. Stunden über Stunden ruderte ich mit dem Boot. Ich bekam Blasen. Meine Hände brannten von dem Salzwasser, das an den Rudern herabrann. Die Seiten des Bootes verzogen sich nach innen, bis Bläschen an den Ecken nach oben quollen. Wasser drang durch den Boden. Rudern würde das Boot zerstören, doch ich hatte keine andere Wahl.

Am Ende des Tages sahen die Berge gewaltig aus. Das Land machte einen wilden, unbewohnten Eindruck, und als die Sonne unterging, schien kein einziges Licht an dem breiten Küstenstrich, nirgends gab es ein Zeichen von menschlichem Leben. Später frischte der Wind wieder auf, die Wellen wogten höher, und kurz vor der Morgendämmerung hörte ich das Rauschen einer Brandung.

Ich hob den Kopf, um den Blick schweifen zu lassen. Im bleichen Mondschein tauchten gespenstische Gischtwolken auf. Die Brandung wurde lauter, und ich entdeckte Schaumfetzen auf den Kämmen riesenhafter Wellen. Das Boot sauste wie ein Schlitten durch die Dunkelheit. Ich zog die Jacke aus, weil ich hoffte, ohne sie besser rudern zu können, und versuchte, das kleine Boot vom Land wegzusteuern. Doch wir wurden in die Brecher hineingezogen, und schon donnerte der erste auf uns herab.

Als ich ins Meer geschleudert wurde, flogen die Ruder fort. Vor Kälte schnappte ich nach Luft und kämpfte mich zurück an die Wasseroberfläche. Ich drosch mit den Händen, bis ich das Boot zu fassen bekam. Umgestülpt wölbte es sich wie eine Schildkröte aus dem Meer, und ich packte seinen schmalen Kiel und hielt mich fest.

In drei Meter Entfernung trieb Frank mit dem Gesicht nach unten in der grauen Gischt der Brecher. Sein schwarzes Haar glänzte matt und glatt. Seine von der Luft aufgebauschte Jacke blähte sich am Rücken und hielt seine Arme ausgebreitet auf dem Wasser. Ich konnte mich am Boot festhalten und an die Küste treiben lassen – oder ich konnte meine letzte Hoffnung fahren lassen und versuchen, Frank zu retten. Doch ich dachte kaum darüber nach, drückte mich vom Boot ab und packte Frank. Dann hielt ich seine Jacke, seinen Kragen und seine Arme fest, als eine Welle über uns hereinbrach und uns auseinanderreißen wollte.

Schlagartig wurde er wach.

Er schüttelte den Kopf wie ein Hund und schleuderte das Wasser aus seinem Haar. Seine Augen wurden unglaublich groß. Und dann klammerte er sich an mir fest und presste meine Arme an meine Seiten.

Ich konnte nicht schwimmen. Ich konnte uns nicht einmal mehr oben halten. Doch je mehr ich darum kämpfte, von ihm wegzukommen, umso kräftiger versuchte Frank, sich an mich zu klammern. Wir gingen zusammen unter und wurden von der nächsten Welle noch tiefer gedrückt. In einer erstarrten Dunkelheit wurden wir immer wieder herumgewälzt, bis das Wasser uns über die Felsen am Meeresgrund zerrte und schließlich an die Oberfläche zurückwirbelte. Ich rang nach Luft, legte einen Arm um Frank und hielt seinen Kopf über Wasser.

In dieser Brandung waren wir nur winzige Wesen, die hin und her geworfen, verprügelt und geschlagen wurden. Wir waren ein Spielball der Wellen, doch jede brachte uns näher an Land, und die siebte – oder achte oder neunte – wuchtete uns auf einen Steinstrand. Kollernd und rasselnd zog sie sich zurück und ließ uns gestrandet liegen.

Ich hörte das Dröhnen der nächsten anrollenden Welle, die uns noch höher an den Strand trug, dann aber versuchte, uns wieder mitzunehmen, als sie in einem gurgelnden Rauschen zwischen den Steinen zurückfloss. Ich schnappte mir einen Felsen und hielt mich fest.

Welle über Welle rollte an, um uns zu packen. Sie zogen mir die Stiefel aus, einen nach dem anderen. Sie rissen Frank aus meinen Armen und zerrten ihn den Strand herab. Er schlitterte mit ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken über die vom Mond beschienenen Steine und brüllte, ich solle ihn retten. Ich bekam sein Bein zu fassen und kroch wie ein Krebs am Strand nach oben, krabbelte immer ein Stückchen höher.

Meine Hände bluteten und in meinem Knie pochte es. Doch ich rückte immer weiter vom Meer ab, während Frank mir kriechend folgte wie eine grausige Kreatur, die aus der Tiefe gekommen war. Als wir am oberen Rand des Strandes eine Klippe entdeckten, setzen wir uns und lehnten uns an.

Ich konnte es nicht fassen, wie schnell ich aus einem normalen Leben in meinen schlimmsten Albtraum geschlittert war. In der Wildnis gestrandet – und das mit einem Jungen, der kaum noch lebendig war und den ich überhaupt nicht kannte.

Im Morgengrauen blickte ich auf eine trostlose Welt. Die Wellen schlugen donnernd in die Bucht und warfen sich gegen die Felsen, die unter uns lagen.

Ein Streifen aus Seetang und Meeresalgen zog sich wie ein Seil am Fuß der Klippe entlang. Doch es gab kein einziges Stück Treibholz, was mich zunächst in Verwirrung stürzte. Doch dann begriff ich, was es bedeutete: Bei Flut würde der Strand vollständig überschwemmt. Die Bucht würde sich füllen wie ein riesiger Eimer, und wir würden wie Mäuse darin ertrinken.

Ich drückte mit der Hand gegen Franks Schulter. «Steh auf», sagte ich.

Stöhnend schob er meine Hand weg, doch er hob den Kopf und schaute sich um. Dann schleppte er sich zu der Klippe und legte eine Hand an den Felsen, wo ein Rinnsal ihn schwarz und glänzend erscheinen ließ.

Nach kurzer Zeit füllte sich Franks Handfläche. Er schlürfte das Wasser auf und füllte nach, während ich mich neben ihn stellte und das Gleiche tat. Gemeinsam tranken wir Wasser von dem Gestein.

Als wir unseren Durst gestillt hatten, wandte Frank seine Aufmerksamkeit den Algen zu und zog ein paar Blätter aus dem Haufen. Sie sahen aus wie Salat, der im Gemüsefach verwelkt war, doch Frank schüttelte die Steinchen, Zweige und winzigen Muscheln ab. Dann steckte er die Algen in den Mund. Bei dem Kaugeräusch gurgelte es in meinem Magen. Seit dem Abend auf der Puff hatte ich nichts mehr gegessen.

«Woher weißt du, dass man das essen kann?», fragte ich.

Er sah mich an, als wäre ich dumm. «Das kann man alles essen, du Penner.»

«Wer sagt das?»

Er gab keine Antwort, sondern kaute weiter und stopfte sich noch mehr Algen in den Mund.

«Woher weißt du, dass man das essen kann?», fragte ich ihn noch mal.

Aber er verriet es mir immer noch nicht.

Mittlerweile war ich so hungrig, dass es mir egal war, ob mir von den Algen schlecht würde. Ich zupfte ein verschrumpeltes Blatt heraus und fing an zu essen. Nachdem ich einmal damit begonnen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Die Algen waren zum Teil knusprig, andere waren weich und schleimig und glitten durch meine Kehle wie Rotz. Sie schmeckten allesamt abscheulich, aber ich schlang sie trotzdem hinunter.

Frank blickte aufs Meer hinaus und auf die kleine Bucht. Dann fragte er mich, während er noch kaute: «Wo ist Jack?»

Die Frage verblüffte mich irgendwie. Ich hatte Angst, ihm die Wahrheit zu sagen, weil ich befürchtete, er würde erneut in seinen unheimlichen Schlaf verfallen. Oder er könnte sich weigern, sich zu bewegen, bevor ich ihm Hunderte von Fragen beantwortet hätte. Deshalb servierte ich ihm eine schändliche Lüge. «Er ist vorgefahren, um Hilfe zu holen.»

«Dann suchen wir ihn.» Frank stand auf. Er ließ erneut den Blick schweifen und schaute auf meine Füße. «Hey, wo sind deine Schuhe?»

«Die habe ich verloren», sagte ich.

«Schwachkopf.»

Die Klippe war keine sieben Meter hoch, aber das Gestein war spitz und schartig. Mit meinen zerkratzten Händen und nur mit Socken an den Füßen kletterte ich viel langsamer als Frank.

Doch er bot mir nicht an, mir zu helfen. Er kraxelte einfach nach oben und verschwand über dem Rand.

Als ich endlich die Spitze der Klippe erklommen hatte, war ich sicher, dass er bereits meilenweit weg war. Aber stattdessen lag er auf dem Rücken im Gras und hatte einen vertrockneten Halm im Mund.

Ich hatte nie gedacht, dass wir direkt hinter der Bucht auf Menschen stoßen würden. Aber es war doch eine große Enttäuschung, nach Norden zu blicken und zu erkennen, dass die verlassene Wildnis sich unendlich weit ausdehnte. Falls wir auf einer Insel gelandet waren, war sie riesig, zu groß, um darum herumzulaufen, zu gebirgig, um sie zu überqueren. Wenn wir stattdessen auf dem Festland waren, sah es so aus, als müssten wir tausend Meilen weit laufen, um eine Menschenseele zu finden. Es schien sinnlos, weiterzugehen, aber genauso sinnlos, an Ort und Stelle zu bleiben.

«Wie weit waren wir gekommen, bevor wir gesunken sind?», fragte ich.

Frank reagierte nicht.

«Wie lange sind wir gesegelt?»

Er schenkte mir immer noch keine Beachtung, sondern spuckte seinen Grashalm aus und warf die Haare aus dem Gesicht. «Jack ist tot, oder?», fragte er.

Ich konnte es nicht derart unverblümt bestätigen und nickte nur.

«Wieso hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?»

«Weiß ich nicht», antwortete ich. «Ich wollte dir helfen.»

Frank warf mir einen bösen Blick zu. «An dem Tag, an dem ich deine Hilfe brauche, bringe ich mich um.»

Nun ja, ich hatte ihm bereits das Leben gerettet, doch darauf wollte ich nicht herumreiten.

Frank stand auf und ging los. Im nächsten Moment drehte er sich schnell um und schrie mich an: «Weißt du, dass er tot ist?»

«Ja», sagte ich. «Ich habe es gesehen.»

«Was hast du gesehen?»

Als mir die Tränen kamen, wandte ich mich ab. «Er war im Boot, als es sank», sagte ich. «Er stand direkt vor mir unten in der Kabine.»

«Und wieso hast du ihn dann nicht gerettet?»

Jetzt hob ich den Blick und starrte zurück, und es kümmerte mich nicht mehr, ob meine Augen rot waren. «Wieso hast du ihn nicht gerettet?», fragte ich.

«Hätte ich gemacht», antwortete Frank. «Wenn ich so nah dran gewesen wäre.»

«Er hat mir befohlen, draußen zu bleiben!» Ich hatte die Fäuste so fest geballt, dass meine Fingernägel sich in die Haut bohrten. «Er ist runtergegangen, um das Walkie-Talkie zu holen, und wurde vom Wasser eingeschlossen. Was hätte ich denn bitte tun sollen, du Vollidiot?»

«Du hättest es versuchen können», sagte Frank.

Jetzt kreischte ich. «Das Boot ging unter!»

Wir standen nur ein paar Meter auseinander und fauchten uns an wie Tiere, die sich an die Gurgel gingen. Mein Herz raste, und Frank war vor Wut ganz rot im Gesicht. Doch als ich schon dachte, er würde mich schlagen, warf er sein Haar zurück. Dann drehte er sich zum Meer hin, und wir beruhigten uns wieder ein wenig.

«Was ist denn nun mit dem Funkgerät?» Er kehrte mir den Rücken zu. «Hat er es gefunden? Hat er um Hilfe gerufen?»

«Nein», sagte ich.

«Und warum nicht?»

Ich hätte meinen misslungenen Versuch, es aufzufangen, gern für mich behalten, doch plötzlich stand mir ein Bild von Onkel Jack in dem sinkenden Boot vor Augen, und es schien unfair, Frank nicht die ganze Wahrheit zu sagen. «Er hat das Walkie-Talkie gefunden», sagte ich. «Er hat es durch die Luke geworfen, aber ich habe danebengegriffen.»

Frank gab ein leises Geräusch von sich. Da ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich nicht, ob er sauer war oder sich lustig machte, und als er sich umdrehte, hatte er nur das Gesicht wieder zu seiner nervigen Schmollmiene verzogen, sodass es nichts verriet.

«Du bist so was von blöd», sagte er. «Ich hätte es aufgefangen.»

«Du konntest dich nicht mal mehr bewegen. Du warst der reinste Zombie.» Ich schaute genervt zu ihm hoch. «Wieso warst du überhaupt auf dem Boot? Woher kennst du meinen Onkel Jack?»

Frank zuckte nur mit den Schultern.

«Wer bist du?»

Ich fand es furchtbar, zu ihm hochzusehen. Er glotzte zurück, bis ich den Blick abwenden musste. Dann lachte er und sagte: «Ich bin dein Schutzengel, Chrissy. Man hat mich auf die Erde geschickt, um dich zu retten.»

«Ja, klar.»

Ich machte mich auf dem schmalen Streifen zwischen Wald und Klippe erneut auf den Weg nach Norden. Frank rannte an mir vorbei und übernahm die Führung. Aus seiner durchweichten Jacke troff das Wasser, und seine Stiefel gaben bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch von sich.

Oh, wie ich ihn um seine Stiefel beneidete! Meine Strümpfe waren an den Fersen bereits aufgescheuert, und vorne schauten die Zehen heraus. Jeder Stein und jede Wurzel pikten direkt in meine Füße. «Wir könnten uns mit den Stiefeln abwechseln», schlug ich vor.

«Ja, das könnten wir machen», sagte Frank und ging ungerührt weiter.

An Felsvorsprüngen nahmen wir eine Abkürzung durch den Wald und folgten den Wildspuren. Da Frank Gefallen daran fand, die Zweige zu biegen und zu mir zurückschnellen zu lassen, hielt ich ein bisschen mehr Abstand. Er pflückte Beeren von den Sträuchern und steckte sie in den Mund.

«Die solltest du nicht essen», sagte ich.

«Wieso nicht?»

«Sie könnten giftig sein.»

Er lachte sein nerviges Lachen und aß weiter.

«Hast du noch nie etwas von giftigen Beeren gehört?», fragte ich.

Ein schwerer Ast löste sich aus seiner Hand und schwang in meine Richtung. «Hat dir niemand gezeigt, welche die guten sind? Dein Dad zum Beispiel?»

«Nein», sagte ich.

«Warum nicht?»

«Keine Ahnung.» Blöde Frage. «Hat er eben nicht.»

Frank knurrte.

«In der Stadt sucht man keine Beeren», sagte ich. «Wo wohnst du denn?»

Auf diese Frage bekam ich ebenfalls keine Antwort, aber er wollte mir unbedingt beweisen, dass er mehr wusste als ich. «Die dunkelroten sind Salalbeeren», belehrte er mich. «Die roten sind Heidelbeeren und die blauen auch, glaube ich.»

Er blieb stehen und brach einen Zweig mit roten Beeren ab, pflückte eine Handvoll und stopfte sie sich in den Mund. Der Saft lief ihm über das Kinn, als er mir den Zweig hinhielt. «Probier mal.»

«Ich warte noch ein bisschen.»

«Blödmann.» Er zuckte nur mit den Schultern und ging weiter.

Ich beobachtete ihn genau, um zu sehen, ob er ins Taumeln geriet. Andererseits hatte ich immer noch den ekligen Geschmack der Algen auf der Zunge und war sehr hungrig. Deshalb probierte ich die Beeren nach einer Weile doch. Die Salalbeeren schmeckten bitter, doch die Heidelbeeren waren süß und saftig. Sie stillten meinen Durst, aber ich war genauso hungrig wie zuvor.

Unterwegs trockneten unsere Sachen. Frank zog seine Jacke aus und trug sie über der Schulter, und auf den nächsten Meilen redeten wir keine zwei Worte miteinander. Es graute mir, dass die Sonne wieder tiefer sank, und ich wünschte, mein Vater wäre mehr wie der von Frank gewesen. Niemand hatte mir je beigebracht, wie man Wasser an einer Klippe entdeckte oder im Wald etwas zu essen fand.

Als Frank stehenblieb, um aus einem Bach zu trinken, trottete ich weiter und dachte über so einiges nach. Es wurde dunkel im Wald, und als ich mich umschaute, war Frank nicht mehr da.

Ich rief seinen Namen. Er reagierte nicht. Da ich keine Ahnung hatte, wie weit ich ohne ihn gelaufen war, ging ich wieder zurück – erst langsam, dann immer schneller – und fand Frank an dem Bach wieder. Er kniete vor einer Ansammlung von Zweigen und Moos und rieb Stöckchen aneinander.

«Was machst du da?», fragte ich.

«Wonach sieht’s denn aus?» Er hob nicht einmal den Kopf. «Ich mache Feuer.»

«Du hättest mir sagen können, dass du nicht weitergehst», sagte ich.

«Wieso?», fragte er, ohne aufzublicken.

«Wieso nicht?», fragte ich zurück. «Ich habe dich an Land gebracht. Ich habe dir das Leben gerettet. Wir müssen zusammenbleiben.»

«Wieso?»

«Weil man das so macht!», schrie ich.

«Wieso?»

Am liebsten hätte ich ihm mit einem Stein aus dem Bach den Schädel eingeschlagen. Stattdessen ließ ich mich ins Gras sinken und sah ihm zu.

Obwohl ich immer gedacht hatte, es müsste relativ leicht sein, ein Feuer zu machen, hatte ich noch nie gesehen, wie es jemand versucht hatte. Frank rieb die Stöcke kräftig aneinander, aber ich sah weder Funken noch Rauch. Sein ernsthafter, störrischer Blick war irgendwie traurig anzusehen.

Als seine Hände zu zittern begannen, kniff er die Lippen fest zusammen. Er beugte sich über seine kleinen Moosfetzen und arbeitete anfallsweise, bis er erschöpft war. Schließlich ließ er sich zurücksinken, murmelte vor sich hin und sah das Häufchen böse an.

Ich wollte ihn aufmuntern. «Es wird schön sein, wenn wir ein Feuer haben», sagte ich.

Das machte ihn unglaublich wütend! «Meinst du, du kannst es besser?», fragte er.

«Nein», antwortete ich. «Das habe ich nicht …»

«Wer meint, es wäre leicht, im Regenwald Feuer zu machen, hat keine Ahnung.» Frank griff wieder nach seinen Zweigen.

Es wurde dunkler am Himmel. Ein Mückenschwarm kam, und Frank schlug danach, während er sich weiter zu schaffen machte. Mit einem Mal schob er das Moos beiseite und warf das gesammelte Holz weg. «Wir brauchen heute Abend kein Feuer», sagte er. «Ist eh zu warm.»

Ja klar, ihm war warm. Er schwitzte vor Anstrengung, aber mir war kalt.

Frank schlang seine Jacke wie ein kleines Zelt um sich und verkroch sich darin vor den Mücken. Ich schlug weiter nach ihnen, während sie um mich herumsummten und ich in meinem T-Shirt und meinem Pullover bibberte. In der Ferne heulten Wölfe. Die Laute zerrten an meinen Nerven, und die Tatsache, dass sie nur gedämpft zu hören waren, machte sie nur noch unheimlicher.

Ich schlief ein, als sich der Himmel aufhellte. Es kam mir so vor, gerade erst die Augen geschlossen zu haben, als Frank aufstand und gegen meine wunden Füße trat. «Komm», sagte er.

Heidelbeersaft hatte seine Finger und seinen Mund blau gefärbt, doch er hatte mir keine Beeren mitgebracht und ließ mir auch keine Chance, selbst welche zu finden. Nach einem weiteren Tritt marschierte er Richtung Norden, und ich musste mich beeilen, ihm zu folgen.

Wir blieben nah an der Küste, zeitweise sehr weit oben auf nackten Klippen, oder auch unten auf kleinen Kies- oder Steinstränden. Drei- oder viermal schaute ich auf meine Uhr und sah, dass die Zeiger um drei Uhr fünfzehn stehengeblieben waren. Es fühlte sich an, als wären wir dazu verdammt, bis ans Ende unserer Tage weiterzulaufen, während die Zeit immer gleich blieb.

Ich trottete hinter Frank her und sah immer nur seinen Rücken. «Wohin gehen wir?», fragte ich ihn in einem Wäldchen. «Was sollen wir machen?»

Wie üblich schenkte er mir keine Beachtung. Nachdem wir eine weitere halbe Meile über einen Kamm und zurück zu den Klippen gelaufen waren, blieb Frank stehen und drehte sich um. Er machte einen wütenden Eindruck. «Wieso gehen wir nach Norden?», fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. «Ist doch pipi, oder?»

«Ist doch pipi», ahmte er mich lachend nach. «Wie alt bist du eigentlich? Acht?» Sein Haar war vom Salz hart und stumpf geworden und hing wie die Augenklappe eines Piraten über seinen Augen. «Und woher willst du wissen, dass südlich von hier keine Stadt liegt?»

Noch eine Frage, auf die es keine Antwort gab. «Ich glaube nicht, dass es hier überhaupt eine Stadt gibt», sagte ich.

«Das kannst du nicht wissen, du Penner.»

«Ich habe das Land vom Boot aus gesehen», konterte ich. «Du nicht.»

Frank verschränkte die Arme. «Vielleicht sollten wir uns trennen. Du gehst nach Norden, ich nach Süden.»

Er wusste genau, dass mir diese Idee nicht gefiel, und wollte nur, dass ich ihn anflehe. Doch das hatte ich schon zu oft bei den Schulhofmobbern getan. Wenn ich mich einmal von ihm herumschubsen ließ, würde es nicht mehr aufhören. Im Gegenteil, beim nächsten Mal wäre es noch schlimmer. Ich zuckte mit den Schultern, sagte «egal» und ging weiter in nördliche Richtung.

Frank kam nicht mit. Da es zu peinlich gewesen wäre, umzukehren und hinter ihm herzutrotten wie ein Hündchen, lief ich einfach weiter. Nach einer halben Meile wurde mir bewusst, dass ich einen großen Fehler begangen hatte.

Weiter unten lag ein kleiner Strand, der mit Müll übersät war. Ich beschloss, mich dort nach einem Paar Schuhe für meine wunden Füße umzuschauen. Anschließend konnte ich wieder hochklettern, umkehren und Frank einholen. «Da ist niemand», könnte ich dann sagen. «Gehen wir nach Süden.» Der Plan war schlau, denn Frank würde bekommen, was er wollte, und ich musste nicht nachgeben. Mein Vater hätte es als «Win-Win-Situation» bezeichnet.

In Vancouver hätte ich am Strand von English Bay nicht einmal eine Viertelmeile laufen müssen, um einen Flip-Flop, eine Sandale oder einen Sneaker zu finden. Zusammen mit Baseballkappen und Einwegfeuerzeugen lagen sie dort wie Muscheln herum. In Alaska war es sogar noch besser.

Es war ein weicher Kiesstrand, und ich sank sofort ein, sodass es sich anfühlte, als würde ich durch eine Schüssel mit Murmeln waten. Zwischen angeschwemmten Baumstämmen entdeckte ich das gleiche Zeug, das ich auf dem Meer hatte schwimmen sehen, und ich musste an Onkel Jack denken. «Das Problem ist, dass eines Tages alles an Land geschwemmt wird.» Ich fand Flaschen und Eimer und die Knochen eines riesigen Wals. Ich fand zwei Feuerzeuge, die nicht funktionierten, und eine Sandale für meinen rechten Fuß. Sie war viel zu groß und hätte Bozo, dem Clown gehören können. Dennoch zog ich sie an und entdeckte kurz darauf einen pinkfarbenen Flip-Flop mit einem Herzchen auf der Sohle.

Stolz, wenigstens ein Problem gelöst zu haben, nahm ich die Felsen am Ende des Strandes in Angriff und kletterte immer höher, bis ich auf einer Klippe herauskam, die so hoch war, dass mir schwindelig wurde. Darunter flogen die Möwen und wiegten sich im Wind, und ich konnte sicherlich hundert Meilen weit sehen, über Wälder und Berge hinweg, ohne die Spur eines Menschen.

In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass wir im Norden niemals auf eine Menschenseele stoßen würden. Ich wollte Frank wiederfinden und nach Süden gehen, doch zunächst lag ein größerer, besserer Strand vor mir. Sein Sand sah aus wie goldener Zucker. Der Streifen zog sich über eine Meile an der Küste entlang, und die Brecher tosten und funkelten. Von hoch oben fühlte es sich an, als würde alles, was ich sah, mir gehören.

Ich war unmittelbar in den Lieblingsfilm meiner Mutter geschlüpft: Robinson Crusoe. Ich konnte mir genau vorstellen, wie der Schiffbrüchige in seiner abgerissenen Kleidung aus Ziegenfell von einem Felskamm auf seine einsame Insel hinunterblickte. Meine Mutter musste bei diesem Film immer weinen. «Wir sind alle Schiffbrüchige», hatte sie eines Tages zu mir gesagt. «Wir werden auf die Felsen des Lebens geworfen, aber irgendwie überleben wir doch.»

Ich warf einen Blick zurück auf den Hügel, den ich erklommen hatte. Etwas kam durch das Gebüsch auf mich zu und schlich sich an.

Wölfe, dachte ich. Starr vor Angst beobachtete ich nur, wie sich das Gebüsch seitwärts neigte und niedergedrückt wurde. Ich hörte, wie die Zweige knackten. Und dann tauchte Frank zwischen zwei Bäumen auf.

Er rannte quasi auf allen vieren den Hang hinauf – fast schon panisch –, als wäre etwas hinter ihm her. Er zog mit den Händen, schob mit den Füßen und brach stolpernd durchs Gestrüpp. Als er aufblickte und mich vor sich stehen sah, dachte ich für einen Moment, er würde wieder umkehren. Er sank ins Gebüsch, kam wieder hoch und stieg nun aufrecht den Hügel hoch. Als er bei mir war, keuchte er heftig.

«Ich habe meilenweit nach Süden geschaut», sagte er. «Da ist niemand.» Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Also gehen wir nach Norden, und du kannst aufhören zu heulen, du kleine Heulsuse.»

Tja, ich heulte gar nicht. Es war Frank, der irgendwie durchgedreht war, und das wussten wir beide. Er drängte sich an mir vorbei, und ich folgte ihm – es war die mir schon vertraute Reihenfolge. Doch das war mir egal geworden. Ich hatte eine interessante Beobachtung gemacht: Nicht einmal Frank wollte in der Wildnis allein gelassen werden.

Skeleton Tree

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