Читать книгу FLUCHT AUS DER SOWJETUNION - Iga Wagnerowska - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеIch war damals drei Jahre alt, als meine Mutter sich in einen anderen Mann verliebt hat. Viel später, da war ich schon erwachsen, erfuhr ich von meiner Großmutter väterlicherseits, dass mein Vater meine Mutter mit dem Liebhaber in flagranti erwischt hatte. Sie wollte ihn gar nicht um Verzeihung bitten, stand zu ihren neuen Gefühlen, und sie beschlossen sich scheiden zu lassen. Sie bekam ein Engagement an der Opera in Luck (eine Stadt in der Westukraine, damals Polen), zog dorthin um, und bald heiratete sie den Neuen. Mich ließ sie bei meinem Vater, und das Schicksal ihres einzigen Kindes interessierte sie nie mehr. Ab und zu, sehr selten, schrieb sie einen lakonischen Brief.
Zur Zeit der Scheidung war mein Vater erst 24 Jahre alt, hatte aber das Gefühl, dass sein Leben schon total kaputt wäre. Er kapselte sich ab, wollte niemanden sehen und nichts von den anderen Frauen wissen. Mir versuchte er seine ganze Liebe zu schenken, aber ich hatte jetzt niemanden, mit dem ich deutsch sprechen konnte. Obwohl er die Sprache beherrschte, durfte ich sie bei ihm nie benutzen.
Nicht mal die deutschen Lieder, die mir meine Mutter beigebracht hat, durfte ich in seiner Gegenwart summen. Ich vermisste meine Mutter sehr und konnte lange gar nicht verstehen, warum sie mich verlassen hat? Ich war doch noch zu klein, dass man mir das alles hätte erklären können. Ich habe das Leiden meines Vaters gesehen und seine unendliche Traurigkeit gespürt, also weinte ich auch sehr oft.
Ich bin tief überzeugt, dass diese Erlebnisse einen Riss bei mir hinterlassen haben, und es sollte noch viel Schlimmeres kommen.
Fünf Jahre, in denen mein Vater in einem Zölibat lebte, waren vergangen, und als er 29 Jahre alt wurde, lernte er eine Frau kennen. Es war eine 10 Jahre ältere, kinderlose Mathematiklehrerin. Er brachte sie oft zu uns nach Hause, und sie beschenkte mich immer, entweder mit Süßigkeiten oder mit Puppen. Sie war von mir begeistert, zeigte sich sehr kinderlieb. Obwohl sie sich sehr um meine Zuneigung bemühte, mochte ich sie von Anfang an nicht. Ich spürte in ihr etwas Falsches, was es mir unmöglich machte, sie zu lieben. Ich sehnte mich immer noch nach einer Mutter, aber ich war sicher, dass sie kein Ersatz sein konnte. Wie sich später herausstellen sollte, hatte ich mich nicht geirrt. Es stimmt also, dass die Kinder und die Hunde sofort erkennen welcher Mensch gut und welcher schlecht ist.
Mein Vater ließ sich von ihrer gespielten Kinderfreundlichkeit blenden, dachte, dass sie mir eine gute Mutter sein würde und heiratete sie. Wie sehr hat er sich doch geirrt! Sie war eine so böse Stiefmutter, wie man sie aus den Märchen kennt.
Außerdem war sie auch keine gute Ehefrau und kein guter Freund für ihren Mann.
Sie war sehr egoistisch, sorgte immer nur für sich, und mir gönnte sie nicht mal das Brot. Ich war immer hungrig.
Mein Vater arbeitete von 8 Uhr morgens bis 22 Uhr. Er war Diplom- Betriebswirt, tagsüber arbeitete im Kommissariat der Schwerindustrie, und abends unterrichtete er die Studenten.
Sie hatte keine Lust sich mit den Schülern zu ärgern, und gleich nach der Heirat kündigte sie ihre Stelle als Lehrerin. Sie nahm ihm immer das ganze Geld ab, verprasste es und machte noch Schulden überall, wo sie es nur konnte. Die befreundeten Nachbarinnen versuchten mich immer zu überreden, den verschlossenen Schrank, während der Abwesenheit der Stiefmutter, aufzubrechen und mich satt zu essen. Das alles wurde doch von dem Geld, das mein Vater verdiente, gekauft.
Eines Tages befolgte ich den Rat der Nachbarinnen und brach in den, mit Essen vollgestopften, Schrank ein. Als die Stiefmutter zurück nach Hause kam, bemerkte sie sofort das „ schreckliche Verbrechen“, und, dass sie mich damals nicht erschlagen hat, grenzte an ein Wunder. Sie lief hinter mir her mit einem großen Stück Holz, mit dem der Ofen geheizt wurde. Dank der Nachbarin, die meine verzweifelten Schreie gehört hat und sofort gelaufen kam, ist es damals nicht zu einer Tragödie gekommen. Mein Vater hat nie davon erfahren. Ich liebte ihn so sehr, dass ich ihm den Kummer ersparen wollte, und was hätte ihm die Stiefmutter sagen sollen? Dass sie die zwölfjährige Tochter ihres Mannes erschlagen wollte, nur dafür, dass die etwas aufgegessen hat? Aber ihm gönnte sie auch Garnichts.
Er war kultiviert, delikat und schaffte es nicht, sich gegen sie zu stellen. Sie nützte das natürlich ganz unverschämt aus.
Er hat trotz allem niemals ein schlechtes Wort zu ihr, und auch nicht über sie, gesagt. Ich habe auch nie von ihm etwas Böses über meine Mutter gehört. Und da gäbe es wirklich vieles zu erzählen!
Vieles über sie habe ich zuerst von meiner Nanny erfahren, und sie hat nichts ausgelassen und nichts verschönert. Später sprach ich oft darüber mit meiner lieben Großmutter.
So hörte ich, dass meine Mutter meinen Vater seit Anfang der Ehe betrogen hat. Sie tat es sogar mit seinem Cousin, dem Sohn von meinem Großonkel und meiner Großtante. Der war so sehr in sie verliebt, dass er später eine ihre Doppelgängerin geheiratet hat.
Mein Vater verkörperte für mich das Ideal von allem, was in einem Menschen das Allerwertvollste sein kann, und das nicht nur zum Schein, sondern ständig im alltäglichen Leben. Er sah sehr gut aus, war groß, schön gebaut, war edel, klug und gebildet. In seinem Leben hatte er jedoch kein Glück. Seine beiden Ehefrauen waren sehr schlimm, seiner nicht wert. Eigentlich hat er meine Mutter geheiratet, um sich in der Verzweiflung wegen einer Anderen zu trösten.
Er liebte seine Cousine sehr, beide waren damals 20 Jahre alt.
Ihre Mütter waren Schwestern. Seiner Mutter war es egal in wen ihr Sohn verliebt war, und wahrscheinlich hätte sie dieser Heirat zugestimmt, aber ihre Schwester war auf Grund des Verwandtschaftsgrades kategorisch dagegen.
Sie hat auch sehr energisch reagiert, in dem sie ihre Tochter zu den Verwandten ihres Mannes nach Nowosibirsk schickte. Dort hat das junge Mädchen jemanden geheiratet aber bekam keine Kinder. Genau so, wie mein Vater, hat auch sie kein Glück in der Ehe gefunden. Im Jahre 1938 traf sie das gleiche, schreckliche Schicksal wie ihn. Sie wurde von der NKWD gefoltert und ermordet.
In den Jahren 1932-1933 herrschte in Kiew, sowie in der ganzen Ukraine, ein fürchterlicher Hunger. Die Menschen in den Städten erhielten Brotmarken. Auf dem Lande, in den Dörfern gab es wörtlich gar nichts zum essen. Auf einen Befehl des Stalins wurde den Leuten absolut alles weggenommen. Die Dorfbewohner haben sich von Unkraut, Fröschen, Mäusen, Ratten ernährt. Nirgendwo ist ein Hund oder eine Katze übrig geblieben. Es gab auch Fälle des Kannibalismus, und das nicht selten. Die Menschen aßen die Leichen. Ganze Dörfer starben den Hungerstod.
In Kiew gab es Bäckereien mit so genanntem Kommerzbrot, das im freien Verkauf ohne Brotmarken, aber zu einem sehr hohen Preis, verkauft wurde. Es passierte oft, dass ein vom Hunger geschwollener Bauer in die Stadt kam, verkaufte das Beste, was er noch zum Anziehen hatte und verbrachte die ganze Nacht in einer Schlange vor der Bäckerei. Morgens kaufte er ein noch heißes Brot, verschlang es sofort, und bald danach war er schon tot.
Als ich morgens zur Schule ging, sah ich auf den Straßen Unmengen von solchen geschwollenen Leichen. In der Stadt kreisten Lastwagen, auf die die Leichen geschmissen wurden und niemand wusste, wohin man sie gebracht hat.
In dieser Zeit starben in der Ukraine vor Hunger 7 Millionen Bürger dieses Landes, obwohl die Erde außergewöhnlich fruchtbar und das Klima hervorragend war. Sie starben auf Befehl des „Batiuschka“ Stalin.
Wenn man 16 Jahre alt war, erlebte man solche fürchterliche Ereignisse anders als die Erwachsenen. Man hat ein Stück trockenes Brot aufgegessen, und wenn man manchmal das große Glück hatte, im Laden etwas von der Wurst aus Pferdefleisch zu bekommen, dann freute man sich riesig. Damals wurde in Kiew gemunkelt, dass eine Bande Kinder entführte und aus ihnen Wurst machte, die sie dann teuer verkaufte. Die Bande hätte behauptet, die Wurst sei aus Kalbfleisch gemacht. Das Ganze ist schwer zu glauben, aber damals war alles möglich. Das eine jedoch war sicher, nirgendwo in den Dörfern gab es Kälber!!!
Eine große Rarität und ein absoluter Luxus waren damals die Pellkartoffeln mit rohen Zwiebeln, aber das konnte man sehr selten im Geschäft kaufen.
Wahrscheinlich wurde das aus Russland gebracht, weil es zu dieser Zeit in der Ukraine solche „Köstlichkeiten“ nicht gab. Der Junge, der mich immer gegen die anderen Kinder verteidigte, blieb mir „treu“ und brachte mir manchmal etwas zum Essen. Ich vermutete, dass er selbst auf etwas verzichtete, um mir eine Freude zu machen.
Ich mochte ihn sehr, er wuchs zu einem schönen Jüngling heran.
Ich wollte ihm nichts weg essen und fühlte mich in solcher Situation sehr unwohl, aber er ließ mir keine Ruhe, solange es nicht in meinem Mund verschwand. Er hieß Kola. Wir lernten in der Schule die deutsche Sprache, in der ich wirklich gut war. Das, was ich in meiner frühen Kindheit gelernt hatte, kam jetzt wieder zurück.
Kola fiel das Lernen nicht so leicht, und so konnte ich mich bei ihm für seine Freundschaft revangieren. Wir lernten zusammen, und ich half ihm bei den Hausaufgaben. Es tat mir gut, ihn als Freund zu haben. Jetzt brauchte ich mich vor niemandem zu fürchten. In der Schule wussten alle, dass ich eine Stiefmutter habe, und keiner erwähnte mehr mein deutsches Blut. Kola glotzte mich immer während des Unterrichts an, und ich hatte Angst, dass ein Lehrer es merkte, und dann würde es bestimmt Ärger geben. Andererseits konnte ich nicht behaupten, dass mir das unangenehm war. In dieser schrecklichen Zeit war das eine willkommene Ablenkung von der Realität. Eines Tages erschien Kola nicht in der Schule. Am nächsten Tag wurden alle Schüler von irgendwelchen geheimen Typen verhört. Wir erfuhren, dass Kola ein Verräter wäre und bestraft würde. Ich hatte schreckliche Angst, dass sie mich auch verhaften, aber zum Glück lernte ich mit Kola immer im Schulgebäude, also wurde ich nur, so wie meine Kollegen, verhört. Am selben Tag hatten wir schon einen neuen Schuldirektor, der uns informiert hat, dass Kola Mitglied einer konterrevolutionären Organisation war, und dass man solche, wie ihn, ausrotten musste. Er lobte den Denunzianten, Kolas Nachbarn, der zum Helden ernannt wurde. Ich hatte die ganze Zeit Eis am Rücken.
Kola und seine ganze Familie wurden als Feinde der Sowjetischen Macht und des ganzen Volkes verhaftet, und niemand wusste, was mit ihnen danach geschah. Nach diesem grausamen Tag bin ich krank geworden. Ich lag eine ganze Woche mit hohem Fieber im Bett. Danach trauerte ich sehr lange um meinen ersten, echten Freund, den ich hatte.