Читать книгу Die heimliche Geliebte - Ilka Sokolowski - Страница 7

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Zuerst war der Notarzt da, dann kam der Streifenwagen mit einem älteren, ziemlich dicken Polizisten und einer jungen Frau, deren Dauerwelle beängstigend steif unter der Uniformmütze hervorstand.

Während der Arzt nur noch den Tod feststellen konnte und die Polizistin schon einmal anfing, Leos Personalien aufzunehmen, durchsuchte ihr Kollege die Jacke des Toten; vermutlich nach einem Ausweis oder Führerschein oder etwas anderem, das einen Hinweis auf seine Identität geben konnte.

|12|Der Polizist musste fündig geworden sein, denn er stieß einen kurzen Pfiff aus, drehte der offenen Tür, durch die Leo ihn beobachtete, den Rücken zu und schnaufte etwas in sein Mobiltelefon.

Es dauerte keine zehn Minuten, dann kam er. Und er schien einen besonderen Status zu haben, dem dienstbeflissenen Eifer nach zu urteilen, mit dem Arzt und Polizisten ihm den Stand der Dinge mitteilten.

Leo konnte ihn auf Anhieb nicht leiden. Vielleicht lag es an dem verklärten Leuchten, das bei seinem Anblick über das Gesicht der Beamtin huschte, vielleicht auch an der Art, wie er Leo zunächst ignorierte. Er äußerte etwas im Ton einer Bitte und die Beamtin verschwand.

Leo hatte auf einem der Umzugskartons gehockt und war höflich aufgestanden, um ihn zu begrüßen. Das bereute sie sofort. So konnte sie sich höchstens mit dem obersten Hemdknopf ihres Gegenübers unterhalten. Er überragte sie um mehr als Haupteslänge und hatte nicht einmal den Anstand, rasch und unauffällig Platz zu nehmen.

Also setzte Leo sich. Jetzt war es noch schlimmer, statt des Hemdknopfs hatte sie die Gürtelschnalle in Augenhöhe.

Draußen tauchten indessen immer mehr Männer auf. Einige trugen weiße Overalls und Metallkoffer, andere einen Sarg. Blitzlichter flammten auf, als der Tote fotografiert und dann auch noch ihre Haustür, die Fußmatte, das Treppenhaus in allen Einzelheiten festgehalten wurden.

»Sie haben den Toten gefunden?«

»Ja«, sagte Leo zu der Gürtelschnalle.

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Wir kennen uns, glaube ich, auch noch nicht.«

Irritiert blickte er zu ihr herunter. Sie bemerkte den Bartschatten auf seinen Wangen und dem Kinn, der eine Spur dunkler als der Rotton seiner Haare war. Sein Gesicht war blass, die Schultern hingen schlapp nach vorn. Er machte einen übermüdeten Eindruck |13|und sah aus, als ob er in seinen Kleidern geschlafen hätte. Leo schnüffelte. So roch er auch.

»Entschuldigen Sie.« Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Ich bin seit fast achtundvierzig Stunden im Dienst, und ich fürchte, irgendwann in dieser Zeit ist mir der Sinn für Umgangsformen verloren gegangen.«

Er fummelte in seiner Jacke herum und hielt ihr dann einen Dienstausweis vor die Nase.

Martin Sandved, las sie. Hauptkommissar.

»Und Sie sind …?« Er warf einen Blick auf den Zettel, den ihm die Polizistin in die Hand gedrückt hatte.

»Leonore Heller«, ergänzte Leo, die im wahren Leben natürlich niemals Leonore hieß. Der Name passte zu manikürten Frauen mit sorgfältig frisierten Haaren, aber nicht zu ihr. Auf ihrem Kopf saß keine schicke Frisur, sondern ein dichter Mopp aus zauseligen dunklen Haaren, und ihre Fingernägel hätten auch eine hartgesottene Kosmetikerin zum Weinen gebracht. Nach ihrem Beruf gefragt, pflegte Leo zu sagen: Gärtnerin. Das verstand jeder, und sie musste nicht erklären, womit sich Gartenarchitekten die Arbeitszeit vertrieben. Das antwortete sie auch dem Kommissar, als er fragte. Obwohl es nicht ganz stimmte. Schließlich war sie arbeitslos, aber das ging ihn nichts an.

Die Polizistin mit der wippenden Dauerwelle tauchte mit einem Becher Kaffee auf. »Vom Chinesen unten. Ich hoffe, er taugt was«, sagte sie mit dem Lächeln einer besorgten Hausfrau, bevor sie sich wieder zu ihrem Kollegen ins Treppenhaus gesellte, wo inzwischen einer nach dem anderen die Mitglieder der chinesischen Familie unauffällig wie Schatten auftauchten und wieder fortgescheucht wurden.

Sandved nahm den Becher mit einem zerstreuten Nicken entgegen. Offenbar war er es gewohnt, dass jeder und insbesondere jede auf ein Wort von ihm herumsprang. Er probierte einen Schluck. Mit Genugtuung beobachtete Leo, wie er das Gesicht verzog.

Mittlerweile waren die Männer draußen dabei, den Toten in |14|einer Plastikhülle mit Reißverschluss zu verpacken. Als sie ihn zu viert anhoben, gerieten für einen Moment seine Beine in Sicht. Für einen so gut gekleideten Mann hatte er bemerkenswert dreckige Schuhe, dachte Leo.

»Kannten Sie den Toten?«, fragte Sandved, dem ihr Blick nicht entgangen war.

»Nein.«

Er pustete in seinen Kaffee. »Erzählen Sie mir noch mal genau, was passiert ist.«

Leo sah in aufmerksame braune Augen, die in irritierendem Widerspruch zum müden Gesicht des Kommissars standen. Also die Geschichte noch einmal von Anfang an. Bitte sehr. Das konnte sie inzwischen ganz gut, denn sie hatte sie bereits der Polizistin und dann dem Arzt erzählt.

Der klopfte gegen den Türrahmen, als Leo ihren Bericht gerade ein drittes Mal beendete. »Martin? Wir bringen ihn jetzt in die Pathologie. Ich tippe auf ordinäres Herzversagen. Genaueres kann ich dir frühestens morgen Nachmittag mitteilen.«

Sandved entließ den Arzt mit einem kurzen Nicken und wandte sich wieder Leo zu.

»Also noch einmal: Sie haben den Toten nie vorher gesehen?«

Schwer von Begriff, dachte Leo. »Wie ich schon sagte, ich kenne ihn nicht. Aber ich rate jetzt einfach mal, dass er für Sie kein Unbekannter ist – ich meine, so eilig, wie Ihr uniformierter Kollege Sie herbeitelefoniert hat.«

Sandved beugte sich so plötzlich vor, dass sein Kaffee überschwappte. Er stützte sich auf die Kartons, die aufeinandergetürmt zwischen ihnen standen. Leo konnte die Sommersprossen auf seinen Händen erkennen.

»Sehr richtig, Frau Heller. Und ich verrate Ihnen noch etwas: Ein Kommissar des LKA taucht nicht ohne Grund auf, schon gar nicht, wenn er eigentlich seit Stunden Feierabend haben sollte.«

Diesmal blickten die braunen Augen ziemlich gereizt. Leo beschloss, etwas weniger widerborstig zu sein.

|15|Mit einem Seufzen richtete sich Sandved wieder auf.

»Der Tote ist Anton Jablonsky, ein Antiquar und Kunsthändler, Experte für Bücher und Handschriften«, erklärte er zwischen zwei Schlucken Kaffee, bevor er das Gebräu endgültig beiseite stellte. »Wir haben seit geraumer Zeit den Verdacht, dass er in Geschäfte mit der Kunstmafia verwickelt ist … war«, verbesserte er sich. »Jablonsky hat bereits vor ein paar Jahren wegen Betrugs und Dokumentenfälschung gesessen. Danach verhielt er sich unauffällig. In letzter Zeit allerdings gab es Anzeichen, dass er auf seinem Fachgebiet wieder aktiv werden wollte.«

»Sie meinen, er fälschte alte Dokumente und verkaufte sie? So wie dieser Typ mit Hitlers Tagebüchern?« Das Ganze begann Leo zu interessieren.

Sandved tigerte inzwischen auf einem akkuraten Parcours zwischen den Kartons entlang, die Leo sorgfältig beschriftet hatte. In solchen Dingen entwickelte sie zuweilen eine sie selbst überraschende Ordnungsliebe. Drei Schritte bis zu »Regenkleidung, Gummistiefel, Bergschuhe«, eine Kehrtwende um »Werkzeug, Bohrmasch., Schraubensort«. Die Fachbücher ließ er links liegen, und den Zeitschriften gönnte er nur einen kurzen Blick. Weder das Magazin für den Gartenbauprofi noch Thalackers Allgemeine Samen- und Pflanzenofferte schienen ihn sonderlich zu fesseln.

»Jablonsky fälschte und handelte mit Fälschungen«, sagte Sandved und blieb bei den Gummistiefeln stehen. »Aber auch mit wertvollen Originalen, deren Herkunft im Dunkeln liegt. Durch Jablonskys Hände sind Millionenbeträge gewandert. Und da wüsste ich doch gern, warum dieser Mann jetzt tot vor Ihrer Tür liegt. Was wollte er von Ihnen?«

»Das frage ich mich allerdings auch«, stimmte Leo zu.

»Wer wohnt sonst noch hier?«

»Wenn sich Ihre Frage auf diese Wohnung bezieht: Niemand außer mir. Falls Sie das Haus meinen – keine Ahnung.«

»Was soll das heißen?«

Leo breitete die Hände aus, eine Geste, die in der Regel auch |16|erschöpfte rothaarige Kommissare verstanden. Sie zählte an den Fingern ab: »Ich kenne nur Wang Li, den Chinesen unten vom Imbiss, und zwei oder drei Mitglieder seiner Familie, allerdings alle nur vom Sehen. Sie bewohnen den gesamten ersten Stock. In der Etage unter mir lebt vermutlich ein Mann mit Hund. Die Wohnung daneben – sie liegt unter dieser – steht seit mindestens vier Tagen leer. So lange wohne ich jetzt hier, und ich habe noch keinen Laut gehört, nicht mal das Rauschen einer Wasserleitung. Abgesehen von dem Hund ist mir im Haus noch niemand begegnet.«

Sandved horchte auf. »Sie sind neu hier? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Sie haben mich nicht gefragt«, erklärte Leo liebenswürdig.

»Wer hat vor Ihnen hier gewohnt?«

»Mein Onkel. Er ist vor kurzem gestorben und hat mir die Wohnung vermacht.«

Sandved sah sich mit neuer Aufmerksamkeit um, als nähme er erst jetzt das Chaos aus Kartons und Kisten wahr. Nicht, dass es besonders viele waren, aber sie reichten, um das Wohnzimmer, in das man von der Eingangstür gleich trat, ziemlich vollzustellen. Leo verzichtete auf den Hinweis, mit dem Auspacken noch nicht sehr weit gekommen zu sein. Aber ihr entging nicht, wie er die Wände musterte, die durchaus einen neuen Anstrich hätten vertragen können. Sie hatte dazu eben keine Zeit gehabt! Sandveds Augen wanderten über den abgetretenen Teppich, der auf dem Fußboden lag. Wahrscheinlich fand er die Wohnung so schäbig wie das ganze Haus. Sollte er. Gleichgültig, wie der Rest des Hauses aussah: In Leos Augen war Onkel Ludwigs Wohnung ein Traum. Jetzt konnte sie statt eines winzigen möblierten Zimmers drei schöne Räume und Unmengen von Büchern ihr Eigen nennen, die Onkel Ludwig ihr ebenfalls hinterlassen hatte. Doch das wahre Glanzstück dieser Wohnung war der große Dachbalkon, und irgendwann würde Leo ihn vielleicht sogar genießen können. Vorerst stand sie ihm noch mit gemischten Gefühlen gegenüber, denn hier |17|hatte sich Onkel Ludwig vom Leben verabschiedet. Doch das war eine andere Geschichte.

Edwina jedenfalls würde sich wohlfühlen, wenn sie im Sommer draußen sein durfte. Edwina war Leos selbst gezüchtete Kletterrose, ein prachtvolles Stück und ihr ganzer Stolz. Sandved beachtete sie gar nicht und strich stattdessen an der Bücherwand am Ende des Zimmers entlang.

»Sie haben eine ausgeprägte Leidenschaft für Wilhelm Busch, wie ich sehe.«

»Nicht ich, mein Onkel. Er war Literaturprofessor, seit einigen Jahren emeritiert.«

Sandved blieb stehen. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

»Wir reden hier nicht zufällig von Ludwig Heller, dem Busch-Experten? Professor Ludwig Heller war Ihr Onkel?«

Leo erwiderte seinen überraschten Blick ebenso verblüfft. Sie hatte nicht geahnt, dass selbst dieser Kommissar etwas mit Onkel Ludwigs Namen anzufangen wusste. Dann fiel ihr ein, dass 2008 ein Busch-Jubiläumsjahr war. Anlässlich seines hundertsten Todestages hatte man Wilhelm Busch allerorten in den Mittelpunkt von Ausstellungen, Veranstaltungen und Vorträgen gehoben, und in diesem Zusammenhang war Ludwigs Name natürlich immer wieder genannt worden. Festreden, Interviews, Ausstellungseröffnungen; Leo hatte ihren Onkel ein paar Mal in der Zeitung und einmal auch in den Fernsehnachrichten entdeckt.

»Wenn ich mich recht erinnere, war er die meiste Zeit in Hamburg. Ich habe einige seiner Vorlesungen besucht, aber das ist schon Jahre her«, sagte Sandved.

»Sie werden ja wirklich gründlich ausgebildet bei der Polizei.«

Er zuckte mit den Schultern und zog einen Band aus dem Regal.

»Das war davor. Ich dachte eine Zeit lang daran, Lehrer zu werden und ins Ausland zu gehen. – Was wollte Anton Jablonsky von Ihrem Onkel?«

|18|Es dauerte einen Moment, bis Leo begriffen hatte, was er damit andeutete. Ihr wurde heiß vor Empörung.

»Das ist nicht Ihr Ernst! Nie im Leben hätte sich mein Onkel mit zwielichtigen Typen eingelassen. Wirklich, das ist absurd.«

Irgendwo in Leos Hinterkopf tauchte unscharf eine andere Stimme auf, die sie an etwas erinnern wollte. Sie sperrte sie aus.

»Nein«, sagte sie so ruhig sie konnte, »Onkel Ludwig hatte mit Sicherheit kein Interesse an fragwürdigen Geschäften. Ich weiß wirklich nicht, wie Sie darauf kommen.«

»Ach, was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen …«

»Hören Sie auf«, sagte Leo ärgerlich.

Sandved zog einen weiteren Band heraus. »An alten Erstausgaben wie dieser hier war Ihr Onkel offensichtlich schon interessiert.«

Sie zuckte die Achseln. Es machte sie verlegen, nicht einmal zu wissen, was für Bücher da eng gedrängt Einband an Einband standen.

»Wilhelm Busch, die Kritik des Herzens. Die Erstausgabe von 1874 ist auf dem Markt kaum noch zu bekommen.« Sandved blätterte ungläubig in dem Buch, als hielte er eine Kostbarkeit in den Händen.

Draußen auf dem Flur war Ruhe eingekehrt, nur die beiden Polizisten warteten weiterhin auf dem Treppenabsatz. Leo hatte den Eindruck, dass ihre Ohren stark in ihre Richtung gespitzt waren.

Sandved stellte das Buch sorgsam zurück an seinen Platz. »Sie scheinen nicht besonders informiert zu sein.« Sein Lächeln ließ offen, ob er Onkel Ludwig oder Leos Allgemeinbildung meinte. »Wie lange, sagten Sie, ist Professor Heller bereits tot?«

Mistkerl, dachte Leo. Ich habe dir gar nichts gesagt.

Sie wartete einen Moment, bis sie einigermaßen sicher war, dass ihre Stimme sich nicht in die Höhe schrauben würde, dann antwortete sie.

»Seit zwei Wochen.«

»Und vor vier Tagen sind Sie hier eingezogen?«

Er stellte die Frage in neutralem Tonfall, aber sie konnte sich vorstellen, |19|was er dachte: Eine habgierige Erbin, die gar nicht schnell genug an die Wohnung kommen konnte und mit Ignoranz gegenüber den kunsthistorischen Werten des Nachlasses geschlagen war.

Leo hatte einen Kloß im Hals. Das machte sie noch wütender. Er schien es zu merken, jedenfalls musterte er sie nachdenklich.

»Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Ihrem Onkel?«

»Ich sehe nicht, weshalb das hier von Belang sein sollte.«

Er machte eine ungehaltene Geste in Richtung Flur, auf dem eben noch Jablonskys fein betuchter toter Leib gelegen hatte.

»Weil vor dieser Tür, die vor noch gar nicht langer Zeit die Ihres Onkels war, ein Toter gefunden wurde. Vielleicht ist er wirklich einem Herzversagen erlegen, mag sein, aber warum gerade hier? Was hat er von Ihnen oder Ihrem Onkel gewollt? Es kann sich wohl kaum um ein Versehen gehandelt haben, schließlich gibt es hier oben im Dachgeschoss nur die eine Wohnung, der Name Heller steht groß und deutlich auf dem Türschild, und ein Mann mit Anton Jablonskys Konstitution würde doch wohl genau darauf achten, ob er vielleicht nur bis in den ersten oder zweiten Stock steigen muss!« Er fuhr sich gereizt durch den rotbraunen Schopf, der schon in alle Richtungen abstand.

»Hat Ihr Onkel Ihnen etwas anvertraut, das uns einen Hinweis geben könnte? Und sei es eine noch so nebensächliche Kleinigkeit? Sie können einander doch nicht völlig fremd gewesen sein, immerhin hat er Ihnen seine Wohnung vermacht!«

»Ich war die Letzte aus der Familie.«

Er räusperte sich. »Also gut. – Sie sind durcheinander, ich bin müde. Ich schlage vor, wir brechen unsere anregende Unterhaltung hier ab. Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«

Er legte seine Karte auf Ludwigs alten Schreibtisch und rauschte grußlos hinaus. Die beiden Polizisten, die versucht hatten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen und gleichzeitig die Fähigkeiten von Richtmikrofonen zu entwickeln, konnten gerade noch beiseite treten. Leo hörte, wie sie hinter dem Kommissar die Treppe hinunterpolterten.

|20|Endlich war der Spuk vorbei. Leo beschlich das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Doch sie erhielt keine Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen, denn Sandved kehrte unvermutet noch einmal zurück.

»Letzte Frage: Woran ist Ihr Onkel gestorben?«

Sie spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam und wollte ihn nur noch loswerden.

»An einem Schädelbruch«, antwortete sie erschöpft. »Er ist vom Balkon gestürzt.«

»Was Sie nicht sagen. Von diesem hier?«

Er spähte an ihr vorbei zu der offenen Glastür, an der Edwina die letzten ihrer weißen Blüten im Luftzug schaukeln ließ.

»Ja. Wahrscheinlich verlor er das Gleichgewicht, als er Hans einfangen wollte. Seinen zahmen Raben.«

Er sah sie durchdringend an. »Hans. – Aha.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand die Treppe hinunter.

Er hatte die Tür nicht hinter sich zugemacht. Leo starrte auf die verrutschte Fußmatte. – Falsch. – Sie starrte auf den Fleck, wo eine verrutschte Fußmatte hätte liegen sollen. Da war sie aber nicht.

Sie hatten sogar die verdammte Matte mitgenommen.

Die Spurensicherung suchte nach Spuren. Was das bedeutete, wurde ihr erst nach und nach klar.

Vielleicht war das Herzversagen gar kein natürlicher Tod.

Vielleicht saß sie ganz schön in der Klemme.

Aber warum?

Es kostete Kraft, aufzustehen und die Tür zu schließen. Leo fühlte sich auf einmal so müde, als wäre sie seit zwei Tagen auf den Beinen gewesen und nicht dieser Sandved. Hinter ihren Schläfen begann es zu hämmern.

Aspirin. Sie brauchte dringend Aspirin, bevor sich der Schmerz wie ein stählerner Ring um ihren Kopf schloss. Auf der Suche nach den Tabletten schlurfte sie ins Bad und bemerkte erst jetzt, dass sie immer noch den Lippenstift in der Hand hielt.

Verdammt. Das Vorstellungsgespräch!

|21|Viel zu spät.

Trotzdem stürzte sie zum Telefon, um sich von einer kühlen Frauenstimme erklären zu lassen, die Firmenleitung lege besonderen Wert auf die Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter. Dass man darunter auch Pünktlichkeit verstehe, müsse wohl nicht betont werden. (Nein, dachte Leo. Natürlich nicht.) Man habe sich inzwischen anderweitig entschieden, vielen Dank. Leo verzichtete darauf, zu ihrer Rechtfertigung eine Geschichte aufzutischen, in der ein toter Antiquar vorkam, den sie vor ihrer Tür gefunden hatte. Eine miesere Ausrede konnte man sich ja gar nicht ausdenken.

Tage, die mit einer Leiche vor der Tür anfangen, sind schlechte Tage. Wie sollte es nun weitergehen?

Leo hatte ein paar merkwürdige Angewohnheiten. Eine davon war die, mit ihren Pflanzen zu reden und insbesondere vor Edwina lange Monologe zu halten. Das ließ die Rose nicht unbedingt besser gedeihen, half Leo aber, Ordnung in die Gedanken zu bekommen.

Ob sie das nicht auch merkwürdig fände, fragte sie Edwina. Erst Onkel Ludwig, dann der Antiquar. Geisterten sie vielleicht in irgendeiner immateriellen Form noch hier herum und sahen zu, wie sie hinter einer Nebelwand von Kopfschmerzen und Selbstvorwürfen versank?

Edwina antwortete nicht, und Leo nahm es nicht persönlich. Aber sie hatte höllische Kopfschmerzen, und in den einsamen Stunden des Nachmittags wurde sie unvermittelt zum Opfer eines diffusen Aberglaubens und dachte an Fenster, die geöffnet bleiben mussten, damit die Seelen den Ausgang fanden, und Spiegel, die sie vielleicht besser verhängen sollte. In den etwas lichteren Momenten des Tages erklärte sie sich und Edwina, dass sie einfach in eine kleine Depression schlitterte, kein Grund zur Panik, das würde vorübergehen.

Alles in allem hatte sie sich bei ihrem ersten Toten von Angesicht zu Angesicht doch recht wacker gehalten. Sie hatte nicht gekreischt |22|und war diesem Sandved auch nicht schluchzend an die Brust gesunken.

Dass sie die Stelle in der Gärtnerei nicht bekommen hatte, war auch kein Drama. Irgendwann würde es besser werden, bestimmt.

Inzwischen, sagte sie sich ganz vernünftig, konnte sie die Zeit doch nutzen, um Ordnung zu schaffen und die restlichen Kartons auszupacken.

Vielleicht war es der Aufregung zuzuschreiben; oder dem schlechten Gewissen, wie Leos Freundin Katie gesagt hätte. Beides waren jedenfalls hervorragende Gründe, etwas aus dem Gedächtnis zu verlieren. Leo erinnerte sich erst in dem Augenblick wieder an den Zettel, als sie sich bis zum Schreibtisch vorgearbeitet hatte.

Ganz unschuldig lag er oben auf dem Stapel der Post, die in den letzten Tagen noch für Ludwig Heller gekommen war. Praktischerweise mit der Rückseite nach oben, so wie sie ihn hastig abgelegt hatte, bevor sie die Polizei rief. Sandved hatte ihn nicht weiter zur Kenntnis genommen, als er am Schreibtisch stand.

Leo betrachtete den Zettel mit gemischten Gefühlen. Irgendwo zwischen den dumpf hämmernden Kopfschmerzen tauchte der Gedanke auf, dass sie Informationen unterschlagen hatte, möglicherweise sogar Beweismittel. Hatte Onkel Ludwig tatsächlich Geschäfte mit Anton Jablonsky gemacht?

Nein. Niemals.

Sie faltete das Papier auseinander. Mit einem harten Bleistift, dessen Spitze offenbar durch zu festes Aufdrücken mitten im Wort abgebrochen war, hatte jemand eine kurze Mitteilung daraufgekritzelt; wenn man die kryptischen Zahlen und Wortfetzen überhaupt so nennen konnte.

13/11 Ma t

Wied hl »Backstube«, 15.00

—> C.

|23|Beeindruckend. Es fehlte nur noch der Zusatz, dass der Zettel sich nach Ablauf eines geheimen Verfallsdatums selbst vernichten würde.

Stammte das von Jablonskys Hand? Die Schrift wirkte hektisch, die Buchstaben hasteten in großer Eile über das Papier.

13/11 war vermutlich eine Datumsangabe, der dreizehnte November. Dieses Jahres oder wann?

Das folgende Wort konnte sie nicht entziffern. Wo der Bleistift sich in das Papier gebohrt hatte, klaffte eine Lücke. Die letzten Buchstaben waren unvollständig ausgeführt; ein unleserlicher Kringel, ein t oder l.

Für Leo ergab es keinen Sinn. Nicht viel besser das nächste Wort: Nach der ersten Silbe war der Bleistift in einer flüchtigen Linie weitergehastet, so wie man schreibt, wenn man kleine Buchstaben einsparen will. Erst zum Schluss hatte sich die Schrift wieder gefangen. Auffällig das Wort »Backstube«, leserlich und in Anführungsstrichen offenbar zuletzt hinzugefügt. Eine Uhrzeit: Drei Uhr am Nachmittag. Ein Pfeil, der Großbuchstabe C, dick unterstrichen.

Was sollte sie damit nun beginnen?

Ein Datum, ein Ort. Ein Treffpunkt? Was bedeutete dieser Pfeil? Und das C?

Vielleicht die Abkürzung für ein Café, dachte Leo. Das war das Einzige, was ihr im Zusammenhang mit einer Backstube in den Sinn kam. Nur wollte ihr nicht so recht einleuchten, was ihr Onkel dort zu suchen hatte. Denn dass diese Notiz für ihn bestimmt war, bezweifelte sie nicht. Der Antiquar hatte offenbar nicht gewusst, dass Onkel Ludwig tot war, sonst wäre dieser Tag ganz anders verlaufen, dachte Leo bedauernd.

Aber Jablonsky hätte nicht erst einen Zettel schreiben müssen, wenn er vorhatte, ihn persönlich vorbeizubringen. Oder es war gar nicht Jablonsky selbst, der sich mit Onkel Ludwig treffen wollte. Vielleicht war er nur der Überbringer.

Leo kam ein Gedanke. Sie zog eine Schreibtischschublade nach der anderen auf. Wo hatte sie es nur hingelegt? Irgendwo musste es |24|sein, Onkel Ludwigs altes Adressbuch. Ein kleines, in weinrotes Leinen gebundenes Büchlein, nicht besonders dick, eigentlich sogar erstaunlich schmal für einen Professor mit vielfältigen Kontakten und Verbindungen. Leo war sich sicher, dass sie es nicht weggeworfen und auch nicht mit Ludwigs umfangreichen schriftlichen Unterlagen in den Keller gepackt hatte. Sie hatte es aufbewahrt, weil sie nicht wusste, ob sie Danksagungen auf die Kondolenzbriefe verschicken sollte. So viele waren dann gar nicht gekommen. Offenbar wusste kaum jemand, dass es eine Hinterbliebene gab.

Hinterbliebene. Schauderhaftes Wort, dachte Leo.

Da war es. In der untersten Schublade. Vielleicht enthielt es irgendeinen Hinweis, vielleicht waren berufliche Kontakte gesondert vermerkt. Leo ging Seite für Seite durch. Privatadressen von Professoren, von Unikollegen, dem einen oder anderen Studenten. Die meisten Namen kamen ihr bekannt vor, alte Wegbegleiter ihres Onkels. Sein Zahnarzt. Seine Hausärztin. Sein Anwalt. Irschinger stand auch drin, erstaunlich. Und Katie, na ja, das war kein Wunder. Die beiden hatten sich gut verstanden. Onkel Ludwig hatte sogar die Anschrift des Heimes, das Katie jetzt leitete. Leo markierte die Seite mit einem Eselsohr und blätterte das Buch bis zum Ende durch.

Nichts. Und unter J überhaupt keine Eintragung.

Leo untersuchte noch einmal den Zettel. Die Notiz war offensichtlich in Eile hingekritzelt worden. Vielleicht hatte Jablonsky sie hastig mitgeschrieben, vielleicht war sie ihm diktiert worden.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Leo grübelte hin und her und kam immer nur zu demselben Ergebnis: Sie wollte nicht glauben, dass Onkel Ludwig tatsächlich in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte.

Der Dreizehnte war in zwei Tagen. Das Treffen stand also noch bevor, wenn es überhaupt ein Treffen war. Es konnte ja auch der Termin für eine Auktion sein, eine Ausstellungseröffnung, einen Bücherflohmarkt, weiß der Teufel, es konnte alles Mögliche sein, |25|und vielleicht noch nicht einmal in diesem Jahr, vielleicht war es schon lange vorbei. Es gab tausend Möglichkeiten, je harmloser, desto besser, denn dann gehörte diese Nachricht keinesfalls zu den Dingen, die sie Kommissar Sandved unter seiner persönlichen Telefonnummer unbedingt mitteilen musste.

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Die heimliche Geliebte

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