Читать книгу Die heimliche Geliebte - Ilka Sokolowski - Страница 9

|27|-3-

Оглавление

Es geschah etwa gegen neun Uhr morgens. Leo nagte gerade an einer Scheibe Toast, blätterte die Stellenanzeigen der Zeitungen vom vergangenen Wochenende durch und wartete, dass der Kaffee durchlief, als sie das verräterische Geräusch von der Straße hörte. Ein dumpfer Aufprall, ein Knirschen, eine krachend umgelegte Gangschaltung. – Stille. – Dann wurde eine Autotür zugeschlagen. Vom Küchenfenster aus sah Leo einen jungen Chinesen in schwarzen Jeans und Lederjacke im Imbiss verschwinden. Der Lieferwagen, ein weißer Mitsubishi Van, stand in einer Parklücke, die groß genug für einen Lkw gewesen wäre. Aber zwischen seiner Stoßstange und dem misshandelten Straßenbaum hätte sich nicht einmal mehr eine Amöbe hindurchquetschen können. Die Linde musste diese Folter offenbar schon seit geraumer Zeit über sich ergehen lassen, denn wo eine gesunde Rinde hätte sein sollen, klaffte die Borke in Stoßstangenhöhe wie eine Wunde auseinander.

Leo klopfte sich die Krümel von den Händen und ging hinunter.

»Tut mir so leid, aber ist noch nicht geöffnet!« Mit einem bedauernden Lächeln im Gesicht und einem beeindruckenden Messer in den Händen kam Wang Li aus der Küche. Leo ging jedenfalls davon aus, dass der freundlich lächelnde Mann, den sie schon mehrmals im Imbiss gesehen hatte, der Wang Li war, der in asiatisch stilisierten Lettern an der rot lackierten Eingangstür als Inhaber ausgewiesen wurde. Und weiterhin nahm sie an, dass der junge Mann, der regelmäßig Wangs zerbeulten Lieferwagen beim Einparken gegen den Straßenbaum vor ihrem Haus rammte, zu Wang Lis vielköpfiger Familie zählte.

Als Wang Li die Besucherin sah, legte er das Messer beiseite und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab, das er sich in den Hosenbund gestopft hatte.

|28|»Die neue Frau in Professors Wohnung«, rief er erfreut. Dann legte sich unvermittelt ein Schatten auf sein Gesicht.

»Haben toten Mann gehabt gestern? Viel Aufregung! Und keiner da zu helfen. Waren alle in Küche. Nur alte Frauen oben, gehen nie raus, haben immer Angst. Bitte entschuldigen!«

Nichts da. Leo war entschlossen, sich nicht beirren zu lassen. Gar nicht so einfach, denn nahezu alles an diesem Mann wirkte auf Anhieb nett: seine freundlichen Augen, das unermüdliche Lächeln und die Art, wie er sich ihr beim Zuhören leicht zuneigte. Besonders nett fand sie, dass er sogar noch etwas kleiner war als sie selbst.

Der sehnige kleine Mann lächelte mitfühlend. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und nur vier vollständige Finger an jeder Hand. Rechts fehlte ihm die Kuppe des Daumens, links das erste Glied des kleinen Fingers. Trotz der Kälte trug er lediglich ein weißes T-Shirt und eine Kattunhose. Die nackten Füße steckten in Plastiksandalen.

»Herr Wang Li, nehme ich an?«, fragte Leo.

Er nickte und lächelte weiter.

Leo zeigte entschlossen auf den Van.

»Und das ist Ihr Wagen da draußen?«

»Mein Neffe hat eingekauft. Fährt jeden Tag zum Großmarkt. Bei uns immer alles frisch!«, sagte Wang Li stolz. »Professor hat gern hier gegessen.«

»So. Ja.« Sie räusperte sich. »Ihr Neffe hat offenbar Schwierigkeiten beim Einparken. So ein Straßenbaum hat es schon schwer genug. Seine Wurzeln sind zubetoniert, er bekommt kaum Wasser und er muss die ganzen schädlichen Abgase schlucken und im Winter das fiese Streusalz, da sollte man ihm doch wenigstens Attacken mit der Stoßstange ersparen, finden Sie nicht auch?«

Schwer zu sagen, was Wang Li fand. Er hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und blinzelte.

»Wenn Sie’s nicht für die Linde tun, dann vielleicht für Ihren Wagen«, versuchte Leo es weiter. »Dem bekommt das sicher auch nicht gut. Würden Sie Ihrem Neffen das wohl ausrichten?«

|29|Irgendwo hinter Wang Li in der Küche glaubte sie einen dunklen Schatten wahrzunehmen.

»Das wäre sehr nett!«, sagte sie etwas lauter.

Wang Li lächelte, nickte und schwieg.

»Vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.« Leo fühlte sich, als sei sie unter vollen Segeln auf Grund gelaufen. Ziemlich lächerlich.

Trotzdem malte sie ein provisorisches Schild (An alle Autos: Bitte Abstand halten!) und schnürte es der Linde um den Stamm.

Bäume waren die Zuflucht ihrer Kindheit gewesen. Immer, wenn sich die Situation unerträglich zugespitzt hatte, war sie fortgerannt und wie ein Eichhörnchen auf einen Baum geklettert, der möglichst groß und möglichst weit weg von zu Hause war. Ungezählte Stunden hatte sie hoch oben im Geäst zwischen Vogelnestern und Blattlandschaften verbracht und im grünen Licht gebadet, bis alle Ängste und Zweifel wieder auf ein erträgliches Maß geschrumpft waren. Leo duldete es nicht, wenn Bäume litten. Sie fahndete in ihren Umzugskartons noch nach der Dose mit dem Baumharz, wurde fündig und spachtelte eine dichte Schicht auf die Wunde. Aufmunternd strich sie der Linde über die Borke. Wenn sie von nun an in Ruhe gelassen wurde, konnte sie sich wieder erholen.

Wang Li und einige andere verschwommene Gesichter beobachteten sie durch die Scheiben. Sie fanden ihre neue Nachbarin zweifellos etwas überspannt. Leo wischte sich die Hände ab, winkte in ihre Richtung und ging frühstücken.

Eine Stunde später verließ sie mit Rucksack und Fahrrad das Haus. Die Luft war exakt so, wie es sich für einen lausigen Novembertag gehörte: wattig grau und so kalt, dass sie einem beim Fahren die Tränen in die Augen trieb. Leo hielt kurz bei einem kleinen Blumenladen, kaufte Erde und einige Pflanzen, verstaute alles in den Gepäcktaschen und suchte sich ihren Weg durch das Straßengeflecht der Südstadt. Sie folgte der Hildesheimer Straße, bog in die Garkenburgstraße Richtung Messegelände ein und erreichte |30|schließlich den Seelhorster Friedhof, auf dem Onkel Ludwig lag. In der riesigen parkähnlichen Anlage waren Hunde, spielende Kinder und Fahrräder nicht erwünscht. Leo schloss ihr Rad am dafür vorgesehenen Fahrradständer an, lud sich die Gepäcktaschen auf und wanderte durch die Gräberreihen. Die verwelkten Kränze und Gebinde, die vor ein paar Tagen noch auf dem Grab gelegen hatten, waren abgeräumt, die Erde sah schwarz und nackt aus. Auf den nassen Krumen klebte hier und da gelbes Laub. Auffällig hob sich die kleine weiße Marmortafel vom dunklen Untergrund ab. Schmutzspritzer sprenkelten seit dem letzten Regen die Oberfläche und saßen in den Linien der schlichten Inschrift:

Ludwig Heller

* 13. März 1934

† 20. Oktober 2008

Ach, Onkel Ludwig, wie trostlos. Ein unauffälliges Reihengrab, pflegeleicht und komplett bezahlt. Niemand sollte Arbeit oder Kosten haben.

Niemand, das war sie. Leo ließ die Gepäcktaschen zu Boden gleiten und setzte den Rucksack ab.

Er hätte Anspruch auf ein hübsches Plätzchen im Heller’schen Familiengrab in Hamburg gehabt. Aber Leo konnte sich schon denken, was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte.

Sie schnürte den Rucksack auf, zog eine große Terrakottaschale heraus und machte sich an die Arbeit.

Mit Ludwig hatte es schon immer Ärger gegeben. So lautete der Standardsatz von Leos Mutter, wenn die Rede auf ihren Bruder kam. Was genau passiert war, blieb Leo lange Zeit ein Rätsel. Niemand sprach in ihrer Gegenwart darüber, aber mit den feinen Antennen des Kindes fing Leo die Anklagen und Beschuldigungen auf, die in der Luft lagen, und sie hatte bald begriffen, dass zwischen ihrem Onkel und ihrer Mutter ein wackliger Waffenstillstand herrschte. Aber warum?

|31|Leo mochte Onkel Ludwig sehr gern. Niemand konnte so schön die Streiche von Max und Moritz vortragen wie er. Onkel Ludwig kannte alle Verse auswendig, und Leo war einzig durch seine Imitation der krautvernarrten Witwe Bolte dazu zu bewegen, das verhasste Sauerkraut zu essen, das sonntags auf den Tisch kam.

Leos Liebe zu ihrem Onkel war schuld, dass der Waffenstillstand zwischen den Geschwistern zerbrach. Als sie begann, ihn Papa zu nennen, war für Hanna Heller das Maß voll. »Ihm verdankst du es, dass du keinen Vater hast!« Ansonsten lautete die stereotype Antwort, wann immer Leo nach ihrem Vater fragte: »Wir haben uns getrennt.« Und weil ihre Fragen mit der Zeit immer heftigere Anfälle von Depression hervorriefen, fragte Leo schließlich nicht mehr.

Onkel Ludwig zog aus und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Leo wurde größer und älter und aufmerksamer. Sie besuchte ihren Onkel meist heimlich, denn sie verabscheute den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, wenn die davon erfuhr. An einem dieser gestohlenen Nachmittage hatte sie schließlich die ganze Geschichte erfahren.

Es war ein drückend heißer Spätsommertag kurz vor Leos neunzehntem Geburtstag. Die Sonne schien milchig durch einen zähen Schleier und die Luft war klebrig vor Feuchtigkeit. Sie hatten einen Spaziergang gemacht, weil es in Onkel Ludwigs Büro noch unerträglicher war. Vor ihnen lag ein kleiner Teich, auf dem matt ein paar Enten dümpelten. Leo und Ludwig setzten sich auf eine Bank am Ufer.

Schon eine ganze Weile hatte sich das Gespräch um seine Arbeit gedreht. Wilhelm Busch oder Leos Erlebnisse in der Schule waren ihre üblichen Themen, sie waren unverfänglich und neutral.

»Was findest du bloß so spannend an diesem alten Busch«, wollte Leo, die nicht viel mehr als die Max-und-Moritz-Geschichte kannte, wissen. Sie hatte keine Ahnung, was sie selbst nach ihrem Abitur anfangen sollte. Onkel Ludwigs Wunsch war es, dass sie Kunstgeschichte und Literatur studierte wie er, und das entpuppte |32|sich als eine seiner wenigen Ideen, mit denen auch Hanna Heller sich anfreunden konnte. Wenn es nach ihr ging, sollte Leo wahlweise reich heiraten oder ihr Leben mit erlesenen Dingen anfüllen. Am besten beides. Sotheby’s und Christie’s waren betörende Namen für ihre Mutter, die ihre Tochter schon inmitten der feinen Gesellschaft Kontakte knüpfen und Geschäfte abschließen sah. Rückblickend war sich Leo durchaus bewusst, dass ihr Entschluss, Gartenbau zu studieren, sehr viel mit Trotz zu tun hatte. Damals aber wusste sie gar nichts.

»Wieso ausgerechnet Busch? Lohnt es sich, sein halbes Leben an so einen alten Zausel zu verschwenden?«

Onkel Ludwig hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose, nahm seinen Strohhut ab und wischte sich die Stirn trocken. Dann setzte er den Hut wieder auf.

»Zufall«, sagte er schließlich. »Es war reiner Zufall, was den Erstkontakt angeht. Wie das eben beim Studieren so passiert. Du schreibst eine Hausarbeit, in dem du jemanden erwähnst, weckst das Interesse deines Professors, der regt an, dies und jenes eingehender zu untersuchen – und schon steckst du mittendrin. Aber dass ich dabei geblieben bin, das liegt an Buschs persönlicher Geschichte. Wilhelm Busch ist nicht nur der, den alle zu kennen glauben, er ist mehr.«

Ungeduldig wedelte Leo eine Fliege weg, die ihr beständig um den Kopf schwirrte. Das war doch bloß kryptisches Gerede, nichts als heiße Luft.

»Was soll er denn sonst sein«, sagte sie gereizt. »Jeder ist so, wie er ist. Du bist Ludwig Heller und ich Leo.«

»Klare Verhältnisse, ja? Du bist so geradlinig, Leo. Das mag ich an dir. Aber das ist auch dein Problem.«

»Ich sehe nicht, was daran problematisch sein soll. Mein Leben ist schon kompliziert genug. Ich muss sowieso langsam los, Mama ist bestimmt schon unruhig.«

Es war eine Scheißidee gewesen, an einem Tag wie diesem herzukommen. |33|Die Hitze machte sie verrückt und bissig wie die verdammten Fliegen.

Onkel Ludwig jedoch hatte seelenruhig die Hände auf seinem Bauch gefaltet, über dem sich die helle Leinenweste merklich spannte, und deutlich gemacht, dass Hanna, wenn sie denn auf Leos Rückkehr wartete, sich noch ein Weilchen gedulden musste.

»Was fällt dir zu Wilhelm Busch ein? Du hast ein fertiges Bild im Kopf, nicht wahr?«

Leo antwortete mit einem Schulterzucken und scharrte missmutig mit ihrer Schuhspitze in der staubigen Erde herum.

»Ein Bild, das alle kennen«, fuhr Onkel Ludwig fort. »Das von dem einsiedlerischen alten Junggesellen, der in seinem Dorf hinter dem Ofen hockt, Pfeife schmaucht und Bildergeschichten kritzelt. Das ist die eine Geschichte.«

Er wischte sich erneut mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Atem ging schwer, und Leo warf ihm von der Seite heimlich einen besorgten Blick zu.

»Die andere geht so: Ein Teenager setzt sich gegen den Willen seines Vater von der Schule ab, um Kunst zu studieren. Aber dann gibt er es auf, den alten Meistern nachzueifern. Er zieht in die Welt hinaus – ich würde mal sagen, München ist schon eine ganz hübsche Herausforderung für jemandem vom flachen Land –, schlägt sich als Zeichner durch, hat unverhofft Erfolg. Er erweist sich als scharfzüngiger Beobachter, entdeckt, dass er ebenso gut mit Worten wie mit dem Kohlestift umgehen kann. Er genießt das Münchner Nachtleben, die Gunst der Frauen, die Eindrücke von Reisen, anregende Briefwechsel. Und das tut er zeitlebens. Aber immer wieder kehrt er zurück in die provinzielle Einsamkeit.«

Onkel Ludwig nahm seinen Strohhut ab und drehte ihn in den Händen. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein roter Streifen ab, wo das Hutband zu straff gesessen hatte. Er hielt die Augen auf den Teich vor ihnen gerichtet und wandte kein Auge von den Enten, während er weiterredete.

»Weltbürger hier, Einzelgänger da, Maler, Dichter, Hagestolz, |34|Provinzler, Rosenliebhaber, Bienenzüchter, es sind zahllose Etiketten, die ihm aufgeklebt wurden, du kannst sie dir aussuchen. Aber wer ist der wahre Wilhelm Busch, Leo?«

»Weiß ich doch nicht.« Es interessierte sie ungefähr so sehr wie die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Quantenphysik. Sie wusste ja nicht einmal, wer sie selbst war.

»Ich möchte, dass du begreifst, dass es immer noch eine andere Version von den Dingen gibt als die, die wir kennen«, sagte Onkel Ludwig. »Die eine Geschichte ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Manchmal wäre es angenehmer, die andere nicht zu erfahren. Aber irgendwann drängt sie doch hervor.«

Leo ahnte, dass sie gar nicht mehr von Wilhelm Busch sprachen.

»Was soll das? Worum geht es hier eigentlich?«

Ihr war heiß, sie war nervös und angespannt bei dem Gedanken, dass ihre Mutter wahrscheinlich schon auf sie wartete.

»Es geht darum, dass du und deine Mutter eigentlich in der Heller’schen Villa wohnen und ein sorgenfreies Leben führen solltet.«

Leo warf ihrem Onkel einen ungeduldigen Blick zu. »Ich weiß. Die alte Leier. Sie wird ja nicht müde, das ohne Ende zu wiederholen. Aber vielleicht verrät mir endlich mal jemand, warum das nicht der Fall ist.«

»Ja«, sagte er, »ich denke, es wird Zeit. Wenn sie es nicht tut, tue ich es.«

Leo rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. Sie wollte es lieber doch nicht wissen.

»Deine Großeltern, Leo, führten ein Handelskontor. Im Krieg hatten sie zwar alles verloren, aber danach schafften sie es mit hanseatischer Nüchternheit und Strenge in kürzester Zeit, ihr Vermögen wieder aufzubauen. Sie hinterließen Hanna und mir beachtliche Werte in Form von Grundbesitz und Wertpapieren.«

Er schwieg einen Moment und ließ zwei Spaziergänger passieren. Einige Enten flatterten schnatternd auf, zogen in einem flachen Halbkreis dicht über dem Wasser dahin und ließen sich in einiger Entfernung nieder. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort:

|35|»Man kann sagen, dass wir ziemlich wohlhabend waren. Und naiv, oh mein Gott! Ich hatte da so einen Traum, weißt du, von einer Privatschule, die sich zu einem Institut mausern sollte und dann, in goldener Zukunft, zu einer kleinen, aber feinen Privatuniversität. Es war gar nicht schwer, Hanna zu überreden, unser gemeinsames Erbe in ein riskantes Immobiliengeschäft zu stecken.«

»Und dann?«, fragte Leo gegen ihren Willen, obwohl sie die Antwort kannte. Onkel Ludwig reckte den Hals, als gäbe es hinten bei den Enten etwas sehr Interessantes zu beobachten.

»Es ging den Bach runter. Gründlich. Wir mussten die Villa verkaufen und hatten trotzdem noch einen Haufen Schulden am Hals. Das heißt, ich hatte sie am Hals, denn ich war schließlich schuld an dem Dilemma. Allerdings brach es nicht unvermittelt über uns herein. Unser Schiffbruch zog sich über zwei Jahre hin. In dieser Zeit lernte deine Mutter einen viel versprechenden jungen Mann aus Diplomatenkreisen kennen.«

»Meinen Vater«, warf Leo ein. Ihr Onkel nickte.

»Er war begeistert von Hanna und der vermeintlich aussichtsreichen Zukunft. Leider nur so lange, bis unser Ruin nicht mehr zu verheimlichen war. Dann löste er vorsichtshalber die Verlobung und verschwand. Später bekam ich heraus, dass er die erstbeste Möglichkeit genutzt und sich nach Ceylon hatte versetzen lassen.«

»Sie war schwanger mit mir«, stellte Leo nüchtern fest. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits, nur der Grund für das Verschwinden ihres Erzeugers war immer verschwiegen worden. Hanna hatte sich in tränenreiche Ausbrüche geflüchtet, wann immer Leo nachfragte.

»Und? Warum habt ihr ihn nicht unter Druck gesetzt? So etwas wie Unterhaltspflicht gab es doch auch damals schon.«

»Deine Mutter ist stolz«, sagte Onkel Ludwig nur. »Sie hätte standesgemäß heiraten und einem gepflegten großen Haushalt vorstehen sollen. Niemand hatte sie auf das Leben vorbereitet, das sie nun führen musste. Sie gehört zu einer anderen Generation, Leo. |36|Frauen wie deine Mutter wurden nicht dazu erzogen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.«

Hanna musste zumindest aus der Ferne die 68er miterlebt haben, und da klammerte sie sich immer noch an der Rolle der höheren Tochter aus gutem Hause fest? Leo konnte es nicht begreifen. Aber ihre Familie war ja schon immer irgendwie anders gewesen.

»Unsere Rettung damals war mein Lehrauftrag hier an der Hochschule«, schob sich Onkel Ludwigs Stimme in ihre Gedanken. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich ihn bekam. Wir zogen in die Mietwohnung, die ihr beide euch jetzt teilt.«

Leo erinnerte sich an ihre ersten Kinderjahre, an die Zeit zu dritt, und dachte, dass die Situation nach ihrer Geburt bestimmt nicht einfacher geworden war. Von da an war für ihre Mutter erst recht nicht daran zu denken gewesen, sich eine Arbeit zu suchen, und es blieb ihr unangenehm viel Zeit, sich auf ihre Tochter zu konzentrieren.

»Es war schöner, als du noch bei uns warst«, sagte Leo leise. Sie nahm Onkel Ludwigs Hand, und er erwiderte ihren Händedruck.

»Deine Mutter hat mir keine Wahl gelassen.«

»Das wusste ich nicht. Nicht so direkt, meine ich. Aber ich habe es wohl geahnt.«

»Ja«, sagte Ludwig. »Das hast du wohl. – Siehst du, so ist das. Es gibt immer noch eine zweite Geschichte.«

Im Licht dessen, was Ludwig ihr an jenem Nachmittag erzählt hatte, begann Leo, rückblickend vieles besser zu verstehen. Sie besuchte Ludwig nach wie vor nur heimlich, es war besser, wenn ihre Mutter davon nichts wusste. Einen von beiden schien sie immer zu verraten. Dann nahmen Studium und Praktika Leos Zeit immer mehr in Anspruch, und irgendwann schliefen die Besuche ganz ein.

Dass Leo weder ein allzu schweres Bündel mit Schuldgefühlen mit sich herumschleppte noch auffällige Zwangsstörungen entwickelte, lag sowohl an einer gewissen Robustheit als auch an ihrer Freundin Katie.

|37|Katarina Singer studierte Medizin und ein paar Semester Psychologie und genoss es, ihre frisch erworbenen Kenntnisse auf Leo anzuwenden. Sie wusste, dass Leo ohnehin nichts davon glauben würde, also konnte es auch keinen Schaden anrichten. Was wirklich half, war das gemeinsame Studentendasein, der Unialltag, das ganz normale Leben. Und, natürlich, auch die mit endlosen Diskussionen angefüllten alkoholgetränkten Nächte.

Leo hatte endlich erkannt, dass ihre Mutter krank war. Mehrmals hatte Hanna Heller sich wegen Depressionen bei einem alten Freund der Familie in Behandlung begeben. Während Leo jetzt das tote Laub von Ludwigs Grab scharrte, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Katie auf der Schwelle von Irschingers Praxis. Anfangs begleitete Leo ihre Mutter zu den Sitzungen bei Irschinger und holte sie später wieder ab, bis Hanna dann schließlich in ein Heim wechseln musste.

Joseph Irschinger war ein Kriegsgefährte ihres längst verstorbenen Großvaters und der einzige Arzt, zu dem Hanna Heller Vertrauen hatte, was Leo mehr als merkwürdig fand. Sie selbst hatte als Kind vor diesem hageren Mann mit den durchdringenden blauen Augen immer Angst verspürt, auch dann, wenn er ihr kleine Geschenke mitbrachte wie den Bernsteinbrocken, der immer noch als Briefbeschwerer auf ihrem Schreibtisch lag. Joseph Irschinger musste inzwischen weit über achtzig sein; das letzte Mal waren sie sich bei der Beerdigung von Leos Mutter begegnet. Irschinger und Ludwig Heller waren sich meist aus dem Weg gegangen. Vielleicht vermied Onkel Ludwig eine Begegnung, weil er sich für den Geisteszustand seiner Schwester mitverantwortlich fühlte. Doch als er starb, schrieb Irschinger einen freundlichen Brief an die liebe Leonore mit einer Einladung nach München.

Sie hätte ihn längst schon einmal besuchen sollen und nahm sich vor, nicht so lange zu warten, bis es zu spät war wie bei ihrem Onkel.

Das brachte sie wieder zurück an das unscheinbare Grab und in die Kälte dieses nebligen Novembertages. Leo fing an, den Efeu in |38|der Schale zu arrangieren und dann die Wurzelknollen sorgfältig mit Erde zu bedecken. Ein paar Grünpflanzen waren ein jämmerlicher Dank für das, was Onkel Ludwig getan hatte. Sein Leben lang hatte er für Hanna und ihre Tochter gesorgt. Er beglich die Miete, unterstützte Leo während des Studiums und übernahm schließlich einen Großteil der Kosten für das teure Pflegeheim, in dem ihre Mutter die letzten Jahre ihres Lebens in geistiger Verwirrung verbrachte. Mit ihren sporadischen Verdiensten als Aushilfsgärtnerin hätte Leo das niemals finanzieren können. Die monatlichen Kosten konnten einen Menschen mit einer Strumpfmaske über dem Gesicht und einer Schreckschusspistole in der Hand in die nächste Bankfiliale treiben. Bevor Leo eine kriminelle Karriere startete, opferte Onkel Ludwig seine Ersparnisse und die Lebensversicherung, die er hatte. Für Hanna war das Beste gerade gut genug. Wenigstens am Ende ihres Lebens sollte seine Schwester bekommen, was ihr nach ihrer Meinung immer zugestanden hatte, auch wenn sie davon nichts mehr begriff.

Wie schnell dann alles gegangen war. Leo hielt inne, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen. – Verdammte Kälte.

Erst Hanna, dann Onkel Ludwig. Von seinem Tod hatte Leo erst nach der Beerdigung erfahren. Zu der Zeit befand sie sich gerade auf einem Fortbildungsseminar auf der Insel Mainau. Das hatte sie dem Gartenbaubetrieb, der ihr kurzfristig gekündigt hatte, noch als Abfindung abtrotzen können.

Erst in Hamburg hatte Leo einen Anruf von Onkel Ludwigs Anwalt erhalten und die Unglücksgeschichte mit Hans, dem Raben, erfahren. Den geschraubten Worten des Testamentsvollstreckers hatte sie entnommen, dass es außer der Wohnung kaum etwas zu erben gab. Ludwig Hellers Reserven waren bis auf klägliche fünftausend Euro aufgebraucht. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dieser Mitteilung hatte den Mann ziemlich irritiert. Aber immerhin konnte sie die überfällige Miete und die aufgelaufenen Schulden bezahlen. Blieben noch dreitausendachthundert übrig. Leo fühlte sich eigentlich fast reich.

|39|Auf vertrackte Weise hing immer alles am Geld. Der Absturz aus dem Wohlstand hatte die Krankheit ihrer Mutter zum Ausbruch kommen lassen. Und das dramatische Augenrollen des Bankangestellten, der sich weigerte, Leos Kreditrahmen zu erhöhen, hatte letztlich dafür gesorgt, dass sie sich in Onkel Ludwigs Wohnung wiederfand. Mit allen Konsequenzen, die dazugehörten, wie toten Ratten und ebenso toten Antiquaren.

Zu allem Übel musste sie feststellen, dass die Vergangenheit immer noch nicht abgehakt war. Etwas nicht klar Erkennbares lag wie ein Schatten auf Onkel Ludwigs Grab und drängte sich dreist in die Gegenwart hinein, als wollte es Leo daran erinnern, dass sie noch etwas gutzumachen hatte.

Okay, dachte Leo und setzte die fertig bepflanzte Schale auf das Grab. Sie würde Onkel Ludwig aus den Ermittlungen der Polizei heraushalten, was immer auch dahinter steckte. Dass es ihre Sache war, genau das herauszufinden, stand fest.

Dunkelgrün hing der Efeu über das Terrakotta und umrahmte mit seinen Ranken ein Büschel weißer Heide. Dahinter hatte Leo einen Zwergwacholder gesetzt, der winzig kleine Beeren trug. Alle Pflanzen waren winterfest und sollten in dieser Schale ohne weiteres den Frost überstehen. Leo brachte das Laub weg, wusch sich die Hände im eiskalten Brunnenwasser und verabschiedete sich mit dem stummen Versprechen, wiederzukommen und zu berichten, wie die Dinge liefen.

Niemand begegnete ihr auf dem Weg zum Ausgang. In der Luft lag der Geruch von Holzfeuer und brennenden Laubhaufen; zwischen den Bäumen hing Nebel.

Auf dem Rückweg entdeckte Leo in der Fiedelerstraße eine Buchhandlung und erstand eine Radwanderkarte der Stadt und der angrenzenden Landkreise. Eine Weile trödelte sie noch in verschiedenen Geschäften herum und kaufte Batterien für das Fahrradblinklicht, eine Flasche Rum, Orangen, Schokolade und eine Wollmütze, nachdem ihr auf dem Rad fast die Ohren abgefroren waren.

|40|Als Leo vor dem Haus ankam, war es bereits dunkel. Ein anderer Wagen stand jetzt in der Parklücke vor der Linde und hielt artigen Sicherheitsabstand zu dem Baum. Bei Wang Li herrschte Hochbetrieb. Leo warf einen Blick durch das Fenster und sah voll besetzte Tische. Auch am Tresen warteten Leute, die ihre bestellte Mahlzeit abholen wollten. Leos Magen erinnerte sie knurrend, dass er seit dem Frühstück nichts bekommen hatte. Es fing an zu regnen, als sie das Fahrrad durch die Toreinfahrt auf den dunklen Hinterhof schob.

Plötzlich öffnete sich die Tür der Imbissküche und eine Lichtschneise fiel über den Hof. Wang Lis Neffe sprintete mit einem Abfalleimer durch den Regen, leerte den Kübel in einen der Container und hastete zurück. Als er Leo entdeckte, warf er ihr einen eisigen Blick zu.

Leo kettete ihr Fahrrad unter der Feuertreppe an. Dieser bizarren Außentreppe aus Stahl hatte sie in gewisser Weise die Aufmerksamkeiten der lästigen Bulldogge zu verdanken. Nachdem sie sich anfangs noch gewundert hatte, wie das Tier aus der verschlossenen Wohnung in das Treppenhaus gelangen konnte, erwischte sie den Hund auf frischer Tat. Sie war gerade dabei, die zweite Ratte in einem der Müllcontainer auf dem Hinterhof zu beerdigen, als der Mörder auf krummen Beinen durch die Toreinfahrt tappte, die Feuertreppe auf der rückwärtigen Seite des Hauses erklomm und durch eine Klappe in der Wohnung im zweiten Stock verschwand. Sehr praktisch, diese Feuertreppe, und irgendwie amerikanisch, hatte Leo gedacht und einen Eimer Blumenerde über den Kadaver gekippt.

Aus der Hundewohnung quetschte sich ein schwacher Lichtschein unter der Tür hindurch, als Leo jetzt hinaufging. Auch in der Wohnung gegenüber schien inzwischen jemand zu sein, denn leise Klaviermusik war zu hören. Im schummrigen Treppenhauslicht studierte sie das Türschild: Eine Ruth Herwig wohnte unter ihr.

Leo bog um die Ecke, stieg die letzten Stufen hoch und blieb am Ende der Treppe wie angewurzelt stehen.

|41|Was für eine Überraschung. Die Ratte des Tages.

Der kleine Kadaver lag hübsch drapiert an der Stelle der nicht mehr vorhandenen Fußmatte. Fehlte nur noch ein Apfelschnitz im offenen Maul und die Aufforderung, es sich schmecken zu lassen, unterschrieben mit einem Pfotenabdruck.

Zwei Minuten später klingelte Leo an Ostermanns Tür. Aufgeregtes Bellen brach los. Kaum öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, versuchte die Bulldogge ihren Kopf hindurchzuzwängen. Ein Filzpantoffelfuß schob sie beiseite. Das Gesicht, das jetzt erschien, war stark gerötet, auf der Stirn glitzerten Schweißperlen. Leo beobachtete fasziniert, wie sich die Augen hinter den runden Brillengläsern plötzlich verengten, wie sich die rosige Haut in Falten legte und die Nasenflügel zu beben begannen. Hastig trat sie zurück, bevor sie die Druckwelle eines gewaltigen Niesers mit voller Wucht abbekam.

»Gesundheit.«

»Verzeihung – danke – ich meine …« Leos Nachbar blinzelte hektisch, bis er eine Brille hervorgefingert und aufgesetzt hatte. Paul Ostermann war ziemlich kurzsichtig, von kräftiger Statur, oberhalb der Ohren fast kahl und im Übrigen stark erkältet. Er hatte sich einen senfgelben Wollschal um den Hals gewickelt, meterlang, struppig befranst und vermutlich original siebziger Jahre. Unter dem weißen Saunabademantel zeichnete sich ein beachtliches Bäuchlein ab, das zu seinen runden Wangen passte.

»Das hier gehört Ihrem Hund, glaube ich«, sagte Leo und hielt ihm die in Zeitungspapier eingewickelte Ratte unter die gerötete Nase.

»Was zum …« Ostermann nieste erneut, die Bulldogge versuchte mittlerweile, an Leo hochzuklettern. Ein Fußtritt seines Herrchens beförderte das Tier wieder in die Ecke, was seine Begeisterung aber nicht weiter dämpfte.

»Halt die Klappe!«, fuhr Ostermann den Hund an, der sich davon nicht im mindesten beeindrucken ließ.

»Entschuldigen Sie! Er bellt sonst nur, wenn ich aus der Wohnung gehe, wahrscheinlich hat er immer Angst, dass ich |42|nicht wiederkomme. Aber das hier ist Freudebellen. Ich glaube, er mag Sie.«

Der gedrungene Hundekörper zitterte vor Aufregung, der Schwanz trommelte auf den Fußboden. Ostermann wurde unterdessen von einer neuen Niessalve geschüttelt.

Leo schlug das Zeitungspapier auseinander, um sicherzugehen, dass er den Inhalt auch zur Kenntnis nahm.

»Oh nein. Er hat es also wieder getan.« Ostermanns Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Mit einem müden Blick auf die Ratte schnäuzte er sich.

»Rufus, du Mistköter!« Das Bellen verstummte für einen Moment, um dann mit unverminderter Euphorie weiterzugehen.

»Sie sind die neue Nachbarin von oben, nicht wahr? Es tut mir schrecklich leid, ich weiß einfach nicht, wie ich Rufus davon abhalten soll. Manchmal vergesse ich, die Hundeklappe dichtzumachen, aber andererseits kann ich ihn doch auch nicht immer einsperren! Ich habe ihn erst im August aus dem Tierheim geholt. Ich fürchte, es handelt sich bei ihm um eine gestörte Persönlichkeit. Das mit den Ratten hat er schon beim Professor gemacht. Sie werden das wahrscheinlich nicht besonders charmant finden, aber die Ratten sind so etwas wie ein Zeichen seiner Wertschätzung.«

Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Offenbar hat Rufus seine Zuneigung auf Sie übertragen.«

Der Hund war unterdessen langsam wieder näher gerobbt. Er sah Leo aus glänzenden schwarzen Augen an und ließ seine rosa Zunge aus dem Maul hängen. Sie beugte sich zu ihm hinunter.

»Du bist pervers, weißt du das? Ratten werden von Katzen gefangen, nicht von Hunden. Du bist für den Briefträger zuständig.«

Er drehte sich wonnevoll auf den Rücken und zeigte seinen runden Bauch.

Ostermann streckte die Hand nach dem Päckchen aus. »Geben Sie es mir. Ich bringe es auf den Müll.«

»Schon gut. Das erledige ich selbst. In Ihrem Zustand gehen Sie besser nirgendwo hin.«

|43|Er sah an sich herab und zupfte an den senfgelben Fransen herum, die ihm vor dem Bauch hingen. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich habe eben ein Dampfbad genommen.« Er lächelte kläglich. »Ich fürchte, ich habe mir einen miesen Grippevirus eingefangen.«

Leo zog sich unauffällig weiter auf den Flur zurück. »Dann gute Besserung. Versuchen Sie, Ihren Hund doch wenigstens ein bisschen im Auge zu behalten, ja? Guten Abend.«

Es goss in Strömen, als Leo über den Hof zu den Müllcontainern und zurück flitzte. Der Regen hatte sich zu einem wilden Wolkenbruch gesteigert. Sie war froh, als sie endlich ihre Tür hinter sich schließen konnte. Ihr war kalt, sie fühlte sich auf einmal erschöpft und auf unbestimmte Weise traurig.

In der Küche füllte sie einen Topf mit Kartoffeln und Wasser und setzte ihn auf den Herd. Auf dem Weg ins Bad knipste sie alle Lichter an und stellte die Heizung höher. Unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche entspannte sie sich allmählich. Sie schlüpfte in ein warmes Fleeceshirt und ausgeleierte Hosen und zog sich Wollsocken über die Füße.

In der Küche duftete es nach frisch gegarten Kartoffeln. Leo pellte sie, verteilte großzügig Butterflöckchen darauf, kochte noch eine Kanne Pfefferminztee und machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem. Der Regen rauschte immer noch an den Fenstern hinunter.

Während Leo aß, sah sie sich die Landkarte an, die sie gekauft hatte. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchen sollte, aber eines schien ziemlich sicher: Der Ort, an den Onkel Ludwig bestellt werden sollte, musste irgendwo in der Nähe liegen. Der Termin war schon morgen, und gestern hatte der Antiquar ihren Onkel aufsuchen wollen. Wenig Zeit also, um großartig herumzureisen.

Sie holte Jablonskys Notiz vom Schreibtisch.

13/11 Ma t. Wied hl.

Ein Ortsname mit Ma oder Wied am Anfang. Im ersten Fall kurz und mit einem t am Ende, im zweiten Fall etwas länger. Leo seufzte. |44|Die Karte hatte kein alphabetisches Ortsverzeichnis; sie musste ein Planquadrat nach dem anderen absuchen. Systematisch arbeitete sie sich vor und hatte bald alles gründlich nach verdächtigen Ma-Orten durchforstet, ohne Erfolg. Dann also W. Sie zog die Karte näher heran und kaute nachdenklich.

Wie. Oder Wie hl?

Wietze. Wiedenrode. Wiedenbrügge. – W’s ohne Ende. Sie suchte weiter. Wiesenfeld. Wiebrechtshausen. Wiedensahl.

Leo schluckte einen Mund voll Kartoffeln hinunter.

Wiedensahl. – Woran erinnerte sie das?

Sie schob den Teller beiseite, ging zur Bücherwand, griff sich die erstbeste Busch-Biografie und schlug die Übersicht mit den Lebensdaten auf.

Da stand es schwarz auf weiß: Heinrich Christian Wilhelm Busch, geboren am fünfzehnten April 1832 um sechs Uhr morgens in Wiedensahl nordwestlich von Stadthagen.

Triumphierend klappte Leo das Buch zu. Das war es! Wiedensahl, der Geburtsort von Wilhelm Busch. Onkel Ludwig musste ihn oft genug erwähnt haben, sodass er schließlich Einlass in ihr Unterbewusstsein gefunden hatte.

Leo richtete sich wieder in ihrer Sofaecke ein und trank einen Schluck Tee. Warum sollte Onkel Ludwig nach Wiedensahl kommen? Vielleicht hatte dieser Kommissar Sandved doch recht, und es ging wirklich um eine Hinterlassenschaft von Busch, die Jablonsky aufgetan hatte und die Ludwig sich ansehen sollte.

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Leo studierte die Karte. Auf Landstraßen bis zur Autobahn Dortmund–Berlin, dann über eine Brücke darüber hinweg. Durch eine Reihe von Dörfern nach Stadthagen, von dort Richtung Nordwesten; der Weg führte in einen Forst und durchquerte ihn an seiner schmalsten Stelle. Schaumburger Wald, las sie. Gleich dahinter lag Wiedensahl.

Leo versuchte die Strecke abzuschätzen. Dreieinhalb Stunden mit dem Rad, vielleicht vier. Es würde ein anstrengender Tag werden. |45|Und wenn es nicht aufhörte zu regnen? Es gab eine Bahnverbindung nach Stadthagen. Von dort konnte man sicherlich mit dem Bus weiterkommen. Aber das war der Notplan. Wenn es irgend ging, würde sie das Rad nehmen. Sie fühlte sich besser, wenn sie sich körperlich anstrengte. Das war einer der wenigen Punkte, in denen Leo und Doktor Katie Singer einer Meinung zu sein pflegten: Je munterer die Endorphine, desto besser die Stimmung. Merkwürdigerweise hatte ihre Freundin diese Regel nie auf sich selbst bezogen; sie hasste körperliche Betätigung.

Leo griff nach Onkel Ludwigs Adressbuch und schlug die Seite mit dem Eselsohr auf. Sie sah sich noch einmal die Karte an. Der Ort, wo Katie jetzt lebte, war gar nicht weit von Wiedensahl entfernt. Katarina Singer hatte vor zwei Jahren die Leitung eines Heimes für geistig verwirrte Senioren übernommen. Es war in einem alten Forsthaus untergebracht, wie Leo von gemeinsamen Bekannten erfahren hatte, und lag irgendwo im Schaumburger Wald.

Leos Finger fuhr suchend die Karte ab. Tatsächlich, es war eingezeichnet. Die Wald-Residenz musste es sein.

Ob es das war, was die mondäne und lebenshungrige Katie sich erträumt hatte?

Ich könnte sie besuchen, dachte Leo. An der Gesamtstrecke gemessen wäre es nur ein kleiner Umweg. Zwei lange Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Vielleicht war genug Zeit vergangen, um einen neuen Anfang zu machen. Sie und Katie hatten schließlich eine gemeinsame Geschichte. Dummerweise kam auch der gleiche Mann darin vor.

Leo verbot sich jeden weiteren Gedanken daran und holte sich noch eine Portion Kartoffeln. Nach dem Essen stellte sie zusammen, was sie für den nächsten Tag brauchte. Sie steckte die Karte ein, stellte eine Thermoskanne für Tee bereit, füllte ein kleines Fläschchen mit Rum ab und packte es zusammen mit der Schokolade in den Rucksack. Regenjacke, Regenhose, Flickzeug, Fahrradblinklicht. Alles da, gut. Zum Schluss steckte sie noch die Digitalkamera ein. Ursprünglich hatte an der Wand neben Onkel Ludwigs |46|Schreibtisch ein Bild von Wilhelm Busch gehangen, der Nachdruck eines Ölgemäldes, das eine Dorfstraße mit windschiefen Bauernkaten zeigte. Leo hatte es abgenommen, weil sie die düsteren braunen und grauen Farben so deprimierend fand, und es hinter den Schreibtisch geschoben. Die Pinnwand, die sie stattdessen aufgehängt hatte, war voll mit Fotos und Farbausdrucken: Steingärten, japanische Gärten, Naturgärten, Wassergärten, verwilderte Gärten, englische Gärten, Bauerngärten. Eine optische Erinnerung, damit sie nicht aus den Augen verlor, was sie eigentlich wollte: grüne Lebenswelten schaffen.

Sie musste früh aufbrechen, wenn sie sich in Ruhe umsehen wollte. Bis fünfzehn Uhr sollte sie es auf jeden Fall nach Wiedensahl schaffen. Ein Weilchen brütete sie noch über Jablonskys Notiz. War diese Backstube ein Café, in dem ein Treffen stattfinden sollte? Eine Galerie, in der um fünfzehn Uhr eine Ausstellung eröffnet wurde? Andererseits: Eine offizielle Einladung war diese Kritzelei wohl kaum. Leo sah dem kommenden Tag mit einiger Neugier entgegen. Sie überlegte, ob sie sich einen Schluck Rum als Schlummertrunk gönnen sollte, doch auf halbem Weg in die Küche wurde sie von der Türklingel gestoppt. Jemand läutete einmal zaghaft, dann etwas beherzter.

Leo hatte das letzte Mal noch in unguter Erinnerung. Wer oder was würde jetzt vor ihrer Tür liegen? Sie hatte weder Lust auf Leichen noch auf späten Besuch.

Trotzdem öffnete sie und wich unwillkürlich zurück, als sie sich Ostermann gegenübersah, der sich mit einer Hand die Nase putzte und in der anderen einen regennassen Blumenstrauß hielt.

»Als Entschuldigung, auch im Namen von Rufus. Und als Willkommensgruß, sozusagen«, schnorchelte er. »Ich hoffe, Sie sind uns nicht mehr böse. Ich …« Und schon wurde er von einer neuen Niesattacke unterbrochen.

Einen Cent für jeden Idioten, der ihr in den nächsten zehn Tagen noch über den Weg lief, und sie wäre reich. Leo packte Ostermann |47|am durchnässten Ärmel seines Mantels und zog ihn in die Wohnung.

»Sind Sie lebensmüde? Bei diesem Wetter und in Ihrem Zustand draußen herumzulaufen!«

»Nur bis zum Blumenladen«, krächzte er. »Mein Auto ist nicht angesprungen, und deshalb …«

»Wollten Sie sich den Tod holen. Es gibt zuverlässigere Methoden, als sich zu Tode zu niesen.« Sie nahm ihm die Blumen und den Mantel ab.

»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, protestierte er.

»Sie tropfen aber alles voll, wenn Sie so stehen bleiben.«

Sie warf den Mantel über einen Küchenstuhl und reichte ihm ein Handtuch. »Für Ihre Haare.«

Ostermann lächelte und setzte seine beschlagene Brille ab.

»Das haben Sie nett gesagt.«

Ostermann hatte ein glattes, altersloses Gesicht, doch sein Schädel war nahezu kahl. Dabei war er vermutlich noch gar nicht so alt, Leo schätzte ihn auf Anfang vierzig. Als er sich trocken rieb, bemerkte sie, wie gepflegt seine Hände waren, die Nägel rosig und kurz geschnitten. Wenn Ostermann lächelte, wirkte er sehr sympathisch. Lächelte er nicht, hatten seine Augen einen leicht besorgten Ausdruck, als würde er sich ständig fragen, ob auch alles in Ordnung sei.

Ganz der freundliche Nachbar von nebenan, dachte Leo. Einer, dem man mit Freuden die Wohnungsschlüssel aushändigte, um unbesorgt in Urlaub zu fahren und der auch immer ausreichend Kaffee oder Zucker da hatte, wenn man mal gerade welchen brauchte. Ein schrecklich netter Typ eben. Der einem irgendwann furchtbar auf die Nerven ging, wenn er sich mitfühlend erkundigte, ob man schlecht schlief, weil das Licht die ganze Nacht brannte oder zum tausendsten Mal die Post mitbrachte – sehen Sie nur, meine Liebe, Tante Hilde hat Ihnen wieder geschrieben! –, weil der Briefträger ihm zufällig gerade begegnet war.

Ostermann setzte seine Brille wieder auf.

|48|»Es tut mir wirklich leid, dass Rufus Sie belästigt hat, und ich …«

»Ist gut jetzt, ich glaub’s Ihnen ja.«

Leo goss ihm einen Becher mit Tee ein und gab einen Schuss Rum dazu. »Hier, trinken Sie das. Das wärmt Sie auf.«

»Oh, danke.«

Sie bemerkte, wie aufmerksam er sich umsah, während sie nach einer Vase für die Blumen suchte. Es waren verschiedene Rosen in satten Gelb-, Rot- und Orangetönen.

»Wirklich schön. Vielen Dank.«

Sie stellte die Vase auf den kleinen Wohnzimmertisch und setzte sich. Ostermann nahm in einem der beiden Sessel ihr gegenüber Platz und blies in seinen dampfenden Becher.

»Nett haben Sie’s hier«, sagte er. »Aber insgesamt haben Sie nicht viel verändert, oder?« Er beugte sich ein Stück über den Tisch. »Um ehrlich zu sein – vorhin hatte ich für einen Moment das Gefühl, Professor Heller würde noch leben. Halten Sie mich bitte nicht für neugierig, aber …«

Für was denn sonst, dachte Leo.

»Haben Sie das alles hier übernommen?«

»Ja.«

Er wartete einen Augenblick. Leo sagte nichts weiter und Ostermann räusperte sich.

»Also … ich habe von Wang Li gehört, dass es gestern Ärger gab. Und heute Mittag war die Polizei bei mir. Der Tote vor Ihrer Tür muss ein grauenvoller Schock gewesen sein!«

»In der Tat recht unerfreulich.« Es bereitete Leo ein unerklärliches Vergnügen, ihn zappeln zu lassen.

»Kannten Sie Herrn Jablonsky?«, wollte Ostermann wissen.

»Nein. Sie?«

»Flüchtig. Ich war einige Male in seinem Antiquariat.«

»Ich nehme an, er wollte zu meinem Onkel.«

Ostermann war verblüfft. »Sie sind eine Verwandte von Professor Heller?«

»Die Nichte.«

|49|Leo hatte sich bislang nicht namentlich vorgestellt, und an ihrer Tür befand sich noch kein Schild. Allerdings hätte sie doch vermutet, dass zumindest gerüchteweise ihr Name im Haus schon einmal gefallen wäre.

»Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Ihr Onkel hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat Sie sehr gern gehabt.«

Leo konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute mehr über sie wussten als sie selbst über diese. Katie hätte das vermutlich als zwanghaften Wunsch nach Kontrolle bezeichnet, Professor Irschinger hätte ihr wohl zugestimmt. Leo konnte nichts Zwanghaftes daran finden. Sie wusste nur gern, woran sie war. Ostermann kam ihr jedenfalls merkwürdig vor, als ob er schauspielerte und den Unbefangenen zu geben versuchte; seine Vorstellung war bescheiden.

»Kannten Sie meinen Onkel gut?«

Ostermann nickte. »Ich konnte ihm einige Male bei seinen Forschungsarbeiten weiterhelfen. Ich arbeite im Archiv der Landesbibliothek – die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek am Waterlooplatz, Ihr Onkel hat sie vielleicht mal erwähnt … Nein? Wie auch immer, wenn Professor Heller besondere Fachliteratur benötigte, wandte er sich an mich. Ich habe die Fernbestellungen für ihn ausgeführt und Bücher und Dissertationen aus aller Welt besorgt. Es war immer sehr interessant. Und außerdem waren wir ja Nachbarn.«

»Ich wusste nicht, dass mein Onkel in letzter Zeit noch so viel gearbeitet hat«, sagte Leo überrascht.

»Doch, doch. Professor Heller war kein Mann, der untätig herumsitzen konnte. Zuletzt …« Ostermann stockte, bevor er weitersprach.

»Noch kurz vor seinem Tod erarbeitete er die neue Ausstellung, die im Wilhelm-Busch-Museum zu sehen ist. – Hätten Sie Lust, morgen mit mir dorthin zu gehen?« fragte er unvermittelt. »Ich würde Ihnen gerne alles zeigen.«

Leo fühlte sich überrumpelt. »Nein«, sagte sie forscher als nötig. |50|»Sie gehen morgen höchstens zum Arzt. Und ich bin sowieso den ganzen Tag unterwegs.«

Ostermann zog ein gebügeltes Taschentuch hervor und putzte sich umständlich die Nase, als wollte er seine Verlegenheit über die Abfuhr verbergen.

»Vielleicht ein anderes Mal«, fügte Leo etwas freundlicher hinzu. Selbstverständlich wollte sie Onkel Ludwigs letzte Arbeit sehen. Aber nicht morgen. Sie musste doch nach Wiedensahl. Ihr kam ein Gedanke.

»Wo ist das überhaupt, dieses Wilhelm-Busch-Museum?«

»Sie kennen es nicht? Dann müssen Sie mir aber wirklich versprechen, mit mir dorthin zu gehen! Es ist hier in der Stadt, im alten Wallmodenschlösschen mitten im Georgengarten, einem wunderbaren Landschaftspark aus dem 18. Jahrhundert.«

Schade. Es hätte so gut gepasst. Kommen Sie um fünfzehn Uhr ins Wilhelm-Busch-Museum in Wiedensahl, in die Cafeteria namens Backstube. Oder so ähnlich.

»Das Museum ist eines der bekanntesten für Karikatur in Europa und das einzige, in dem sich eine solche Zahl an Lebenszeugnissen und Originalwerken von Busch befindet«, erklärte Ostermann, dessen Stimme immer rauer wurde.

Leo war an etwas anderem interessiert. »Wenn Sie sich so gut auskennen – wissen Sie, ob noch ein zweites Busch-Museum existiert? Irgendwo in der Nähe vielleicht?«

Ostermann schüttelte den Kopf. »Es gibt kleine Gedenkstätten und Heimatmuseen in den Orten, in denen Busch gelebt hat. In seinem Geburtsort Wiedensahl zum Beispiel oder in Ebergötzen, wo er seine Jugend verbracht hat. Aber ein größeres Museum? Ich glaube nicht. Weshalb fragen Sie?«

»Ach, nur so«, wich Leo aus. »Bei Gelegenheit werde ich mir ansehen, womit mein Onkel sich so befasst hat.«

Hoffentlich gab Ostermann sich damit zufrieden. Vorläufig war es besser, nichts über das Geheimprojekt Backstube zu erzählen.

|51|Bedächtig stellte Ostermann seinen Teebecher ab und heftete seinen Blick auf Leo.

»Ich war es, der Ihren Onkel gefunden hat. Hat man Ihnen das gesagt?«

Leo schüttelte erstaunt den Kopf. Sie hatte allerdings auch nicht danach gefragt.

Er verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufsah, glänzten seine Augen verdächtig, was offensichtlich nicht nur am Fieber lag.

»Wussten Sie, dass Ihr Onkel eine zahme Krähe hatte?«

Leo nickte. »Einen Raben. Hans. Ich habe davon gehört.« Bei einem ihrer seltenen Telefonate hatte Ludwig seinen gefiederten Hausgenossen erwähnt.

»Hans Huckebein, genau wie bei Wilhelm Busch«, sagte Ostermann. »Ihr Onkel hat ihn gefunden. Kennen Sie die Geschichte? – Nein? – Eines Tages lag Hans mit gebrochenem Flügel auf dem Hof. Er war noch sehr jung, hatte noch nicht mal fliegen gelernt. Der Professor hat den Flügel geschient und den Vogel wieder aufgepäppelt. Als er ihn wieder in die Freiheit entlassen wollte, weigerte Hans sich. Er ließ sich einfach nicht vertreiben; am Ende durfte er bleiben. Wenn der Professor auf Reisen war, kümmerte ich mich um den Vogel. Ihr Onkel hatte extra einen großen Käfig für diese Gelegenheiten gekauft. Hier in der Wohnung durfte Hans frei herumhüpfen, aber bei mir musste er zur Sicherheit in den Käfig.«

Er warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Wegen Rufus.«

Leo spähte zur Dachterrasse. Der Käfig befand sich immer noch dort draußen. Von dem riesigen Gitterwerk, das gut einen Meter in der Breite und noch etwas mehr in der Höhe maß, waren in der Dunkelheit nur schwarze Umrisse zu erkennen.

Ostermann hustete. Seine Stimme war noch rauer und tiefer geworden.

»Vor drei Wochen hatte ich Hans das letzte Mal in Pflege. Gleich an dem Abend, als der Professor zurückkam, brachte ich ihn |52|hinauf. Ihr Onkel …« Wieder ein rascher Blick zu Leo. »Tut mir leid, wenn ich das so direkt sage, aber er war ziemlich betrunken. So kannte ich ihn gar nicht. Er ließ den Vogel gleich aus dem Käfig. Keiner von uns beiden achtete auf die Terrassentür, die nur angelehnt war. Und da ist es passiert. Während wir uns unterhielten, entwischte Hans nach draußen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir das bemerkten. Hans hockte auf dem Sims über dem Badezimmerfenster und beobachtete die ganze Aufregung ungerührt.«

Ostermann schüttelte den Kopf. »Der Professor lockte und rief ihn, aber Hans blieb stur auf dem Sims. Ihr Onkel versuchte ihn zu fangen und kletterte auf die Brüstung, bevor ich ihn davon abhalten konnte. Es war nass draußen, es hatte geregnet. Die Steine auf der Terrasse und der Mauer waren glatt. Er muss einfach ausgerutscht sein.«

Ostermann sah zu Boden und versank in Schweigen.

»Und dann?«

»Bin ich nach unten gerannt, aber Wang Li war schon bei ihm. Der Notarzt kam …«

»So schnell?«

»Einer von Wang Lis Leuten muss sofort angerufen haben. Aber es war trotzdem zu spät. Der Professor kam nicht mehr zu Bewusstsein.

»Und der Vogel?«

Ostermann sah verwirrt auf.

»Haben Sie ihn gefangen?«, fragte Leo.

Er schüttelte den Kopf. »Hans ist verschwunden.«

Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.

»Meine Schuld«, flüsterte Ostermann heiser.

»Reden Sie keinen Unsinn!«, sagte Leo gereizt. »Sie waren nicht Onkel Ludwigs Aufpasser. Steigern Sie sich da nicht in etwas hinein. Sie haben Fieber und gehören ins Bett.«

Das Lampenlicht spiegelte sich in Ostermanns Brillengläsern und Leo konnte nicht sehen, wie er auf den Anraunzer reagierte. Er stand auf.

|53|»Wahrscheinlich haben Sie recht. Es tut mir leid, wenn ich …«

»Und hören Sie um Himmels willen auf, sich ständig zu entschuldigen.« Mit jedem Wort, das er sagte, stieg ihre Gereiztheit und proportional dazu auch ihr schlechtes Gewissen.

»Nehmen Sie zwei Aspirin und ziehen Sie sich die Decke über die Ohren.«

»Mach ich.« Er rang sich ein Lächeln ab. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Danke für den Tee. Und wenn ich was für Sie tun kann – sagen Sie es mir bitte. Jederzeit!«

»Danke, Herr Ostermann.«

»Paul.«

»Also dann, gute Besserung, Paul.« Leo gab ihm die Hand und registrierte seinen kräftigen Händedruck.

Leo wartete, bis Ostermanns Schritte auf der Treppe verklangen und ein Stockwerk tiefer die Wohnungstür geschlossen wurde. Dann schaltete sie das Licht aus und ging durch die dunkle Wohnung zur Terrasse. Der schwache Lichtschein aus der Küche reichte gerade, um die Hindernisse auf dem Weg dorthin zu erhellen. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war kalt und schwer. Leo roch die Abgase von Autos und Schornsteinen und einen schwachen Dunst von Bratöl, der von Wang Lis Küche hochstieg. In Ostermanns Wohnung ging das Licht an. Sein Balkon mit dem Zugang zur Feuerleiter lag direkt unterhalb ihrer Dachterrasse. Sie betrachtete das kleine Tor, das am linken Ende der Brüstung schief in den Angeln hing. Die Eisenstäbe waren rostig. Es quietschte leise, als sie es bewegte. Unten wurde die Balkontür geöffnet und wieder geschlossen. Eine Jalousie ratterte herunter.

Die Fliesen auf dem Boden und der Brüstung glänzten feucht vom Regen. Wie in der Nacht von Onkel Ludwigs Sturz, dachte Leo. Sie beugte sich über den Rand, sah hinab in den Hof und versuchte, die Höhe abzuschätzen. Drei Stockwerke. Fünfzehn Meter, vielleicht auch etwas mehr. Nicht überwältigend hoch, wenn man von unten hinauf sah, aber brutal tief, wenn man hinunterstürzte.

Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Dann sah sie sich |54|die Wände an den Enden der Terrasse genauer an. Rechter Hand befand sich eine Dachgaube mit dem Schlafzimmerfenster. Auf der linken Seite gab es eine zweite Gaube, die vom Bad abführte. Was Paul Ostermann als Sims bezeichnet hatte, war vermutlich das spitze Gaubendach. Wenn Leo sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie das obere Ende gerade eben erreichen.

Niemand in ihrer Familie war besonders groß gewesen, Onkel Ludwig auch nicht. Aber er war nicht so klein wie sie. Er hätte nicht unbedingt auf die Brüstung steigen müssen, um den verdammten Raben zu fangen. Warum hatte er nur so einen Blödsinn gemacht? Weil er betrunken war? Konnte ein Betrunkener wirklich so schnell klettern, dass es unmöglich war, ihn zurückzuhalten?

Noch etwas beschäftigte sie. Paul Ostermann hatte erzählt, dass Ludwig Heller verreist war. Leo wusste, dass ihr Onkel es gehasst hatte, ohne Not den Aufenthaltsort zu wechseln. Er verabscheute Züge, Koffer und Hotels. Wo war er gewesen?

***

Die heimliche Geliebte

Подняться наверх