Читать книгу Die Früchte der Tränen - Ilse Tielsch - Страница 6
ОглавлениеNachts, wenn es dunkel ist, klingen die Stimmen fremd, auch jene, die es nicht sein dürften.
Judith ist tot, sagte die Stimme.
Die Hand hielt den Telefonhörer umklammert, die Bakelitmuschel lag kalt am Ohr. Es war kein Licht im Zimmer, nur der schwache Schein der Straßenbeleuchtung hing in den Vorhängen, und vom Herbstwind bewegte Baumzweige warfen zitternde Schatten. Die Stimme sprach in abgerissenen Sätzen, sie berichtete und versuchte zu erklären, was sich nicht erklären ließ, sprach Vermutungen aus, die, später von anderen ergänzt, dennoch Vermutungen bleiben würden. Tote wehren sich nicht, sie stellen nicht richtig, sie beantworten keine Fragen. Tote verteidigen sich nicht, beschuldigen niemanden, und sie weinen nicht mehr. Tote sind IN EINER ANDEREN WELT, aber Judith war plötzlich in meinem Zimmer, sie löste sich aus dem Schatten und nahm Farben an, ihre helle Haut, ihre graublauen Augen, ihr dunkles Haar, lockig abstehend vom Kinderkopf, lang auf Schultern und Rücken fallend, wie sie es als Fünfzehnjährige getragen hat.
Während die fremd gewordene Stimme sprach, erschienen Bilder.
Judith, die geschickteste Ballspielerin auf dem Schulhof, BALL ÜBER DIE SCHNUR, Judith im knappen Badeanzug auf dem Sprungbrett des neuen Schwimmbades in der Stadt, in der wir das Gymnasium besuchten, ein braun gebrannter Mädchenkörper, der viele Blicke auf sich zog, die beste Schwimmerin unseres Alters, Klassenbeste in Mathematik und Latein. Judith, über ihre Geige gebeugt im Schulorchester, schön an ihrem fünfzehnten Geburtstag im neuen, blau-weiß gemusterten Kleid. Judith, die überall Mittelpunkt war, wohin sie kam, auch später in Wien, als sie wieder unter uns lebte und wir ausgingen und uns mit Freunden trafen. Dann kein Bild mehr, nur einmal ein Zeitungsfoto, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob es sie wirklich darstellt. Erst später jene Schwarzweißfotografie, auf der sie als Braut zu sehen ist, schüchtern lächelnd und fremd, an die Schulter eines jungen Mannes gelehnt, dessen Blick entschlossen auf etwas gerichtet ist, das wahrscheinlich ZUKUNFT bedeutet hat.
Das Begräbnis ist Mittwoch, sagte Christians fremd klingende Stimme, hoffentlich wird es dir möglich sein, zu kommen.
Die Bilder verschwammen im Dunkel, ich sah nur noch jenes eine, das ich von der Fotografie her kannte, die ich seither oft betrachtet hatte. In Judiths Gesicht floß mit einemmal vieles von dem zusammen, was wir damals dachten und waren, es stand symbolhaft für unsere jungen Jahre.
Das Wort JUGEND zwang sich mir auf, eigentlich war es mehr ein Gefühl als ein Wort, eine Art sanfter Schmerz.
Natürlich werde ich kommen, sagte ich.