Читать книгу Resilienz - Ilse Wellershoff-Schuur - Страница 5
Am Anfang
ОглавлениеDie Briefe, aus denen dieses kleine Buch im Wesentlichen besteht, entstanden in der Zeit von März bis Juni 2020, von der wir als der »Corona-Zeit« sprechen, und waren an die Menschen aus dem Umfeld der Überlinger Gemeinde gerichtet. Die ersten Gemeindebriefe wurden in der Passionszeit im März geschrieben, der letzte zu Johanni im Juni. Unsere Online-Gemeindemitteilungen erschienen in diesen Monaten wöchentlich, weil man sich wegen der Kontaktbzw. Ausgangsbeschränkungen und der anfänglichen Gottesdienstverbote nicht oft sehen konnte, Mut und Stärkung aber aufgrund der heftigen Verunsicherungen überall umso mehr gefordert waren. Allmählich wurde dann wieder mehr Begegnung möglich, und ab Anfang Mai durften die öffentlichen Gottesdienste und andere gut organisierte Treffen in der Gemeinde vorsichtig wieder aufgenommen werden, sodass die Frequenz der Briefe abnahm. Die Serie zu den Nebenübungen und zum Beichtsakrament wurde aber in größeren Abständen noch bis Johanni fortgeführt.
Ich schrieb dieses Vorwort zur Buchausgabe noch im Juni 2020 und ahnte weder, wie lange diese besonderen Zeiten noch anhalten, noch, in welcher Weise sie unser Leben dauerhaft beeinflussen würden. Auch nach vielen Monaten des »neuen Normalzustandes« ist die Verunsicherung, die Erschütterung, die Disruption bei vielen Menschen groß, was zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führt. Immer wieder erstaunt es mich, wer große und ungeplante Veränderungen in seinem Leben ganz locker und geschmeidig wegsteckt – und wer andererseits in von außen gesehen völlig irrationaler Weise mit großen Ängsten reagiert. Und damit meine ich weniger die Angst, am Virus zu erkranken, die es selbstverständlich mitunter auch gibt, als vielmehr die diffusen Ängste vor dem inneren und äußeren Umsturz alles Gewohnten. Merkwürdige Erklärungversuche haben um sich gegriffen und werden wahrscheinlich auch wieder vergehen … Die damit verbundenen Gruppenbildungen haben die Tendenz, die Menschen gegeneinander aufzubringen. Manche soziale Schieflage entsteht, Konflikte, die sich nur daran entzünden, dass andere ihre Krise anders bewältigen als ich.
Vielleicht haben wir – um in Seuchenbildern zu bleiben – die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber wenn wir uns für die Cholera entscheiden, heißt das nicht, dass wir sie lieben … Am bequemsten wäre es wohl für jeden, wenn sich alles nur als ein böser Traum herausstellen würde und wir gar nicht wählen müssten, wie wir uns zu den Veränderungen stellen wollen. Solches Verdrängen ist auch ein Weg – allerdings einer, der eher nicht zu einer wirklichen Bewältigung der Herausforderung führt und daher neue Probleme mit sich bringt.
Die Disruptionen unseres Zeitalters werden uns immer öfter vor solche schwierigen und unser Leben auf den Kopf stellenden Entscheidungen stellen. Es muss nicht immer eine Pandemie sein, auch beispielsweise der Klima-Wandel und die großen Migrationsbewegungen, die uns mit dem Elend in anderen Teilen der Welt mehr oder weniger unmittelbar in Berührung bringen, haben seit einigen Jahren das Potenzial, uns existentiell zu erschüttern, wenn auch so allmählich und zunächst oft hintergründig, dass wir die an sich gesunden Seelenbewegungen, die mit ihnen verbunden sind, scheinbar leichter verdrängen können. Immer wieder und meist andernorts sind es aber dieser Tage auch Naturkatastrophen, Kriege, Gewalt, Hungersnöte, die die Menschen aus dem scheinbaren Gleichgewicht katapultieren – und all diese Faktoren sind in gewisser Weise miteinander verbunden.
In unserer neu definierten Wirklichkeit tauchen Fragen auf, die zwar nicht völlig neu sind, die aber plötzlich mit einer anderen Dringlichkeit vor uns stehen:
Haben wir den Mut, uns mit dem zu konfrontieren, was unser Leben solcherart durcheinanderbringt?
Sind wir in der Lage, offen auf das hinzuschauen, was die Zeit von uns fordert?
Wie können wir gesund im Leben stehen, wenn uns der Boden unter den Füßen wegzurutschen droht?
Dass unsere Gesundheit mit der einigermaßen erfolgreichen Bewältigung all dieser Krisen in unserer Seele zusammenhängt, ist eine Erkenntnis, die brandaktuell, aber nicht ganz neu ist. Unser Immunsystem, das darüber entscheidet, ob letztlich sogar unser Körper Krankheitsantworten auf die seelischen Herausforderungen gibt, ist auch in der medizinischen Wissenschaft erst sehr anfänglich erforscht.
Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass die Resilienz des Menschen mit seinen inneren Haltungen, Gesinnungen, seelischen Gestimmtheiten zusammenhängt. In seinem Konzept der Salutogenese schaute der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky auf die Entstehung von Gesundheit und fügte damit dem noch heute vorherrschenden Paradigma einer Medizin, die der Heilung von Krankheiten dient, eine neue Orientierung hinzu, die in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Plausibilität gewann: Die Salutogenese will in erster Linie gesund erhalten, also Krankheiten vorbeugen, statt Schäden zu reparieren. Gesundheit entsteht aus einer offenen Anpassungsfähigkeit an die Umstände des Lebens, die gespeist wird durch ein Gefühl der Kohärenz: Ich kann das Leben verstehen, ich kann etwas tun im Leben, mein Leben hat einen Sinn …
Nur wenn wir auf die Fragen nach Zusammenhang, Eigeninitiative und Bedeutung befriedigende Antworten geben können, leben wir in einem inneren Gleichgewicht, das unser Immunsystem so stark macht, dass wir größere Chancen haben, nicht nur psychisch, sondern auch physisch gesund zu bleiben oder wenigstens leichter mit Krankheitsanfechtungen fertig zu werden. Selbst den schwersten Schicksalssituationen und Krankheiten können wir dann hoffentlich noch einen Sinn abringen, der unser inneres Gleichgewicht und damit das Gefühl der menschlichen Würde stärkt.
Antonovsky erforschte die psychischen Zustände von Überlebenden der Vernichtungslager in der NS-Zeit. Zu ähnlichen Erkenntnissen wie er kam der österreichische Psychiater Viktor Frankl, der selbst ein Überlebender der Vernichtungsmaschinerie der Nazis war und gewissermaßen im Selbstversuch und um sich eine innere Aufgabe zu geben, in der unvorstellbaren Grausamkeit der Lager Beobachtungen machte, die in die von ihm begründete Logotherapie (»Sinn-Therapie«) mündeten1. Seine Frage lautete: Wie kann der Mensch es schaffen, im schwersten Leiden seelisch möglichst gesund zu bleiben und damit auch späteren psychischen und psychosomatischen Erkrankungen vorzubeugen?