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Die Nebenübungen

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Als Rudolf Steiner am Anfang des letzten Jahrhunderts, in der Zeit noch vor dem Ersten Weltkrieg, immer wieder die sogenannten Nebenübungen beschrieb, war die Welt noch eine völlig andere als die, in der Frankl und Antonovsky ihre Erkenntnisse fruchtbar machten. Trotzdem richtete er sich an Menschen, die gewissermaßen an »Abgründen« standen und sich mit einer zu erwartenden Orientierungslosigkeit konfrontieren wollten – meist ohne selbst so genau einschätzen zu können, wie diese sich gestalten würde.

Rudolf Steiner war nicht Arzt oder Psychologe, seine Rolle war die eines Lehrers in geistig-seelischer Schulung. Er sprach zu Interessenten seiner geistigen Forschungen, die sich selbst auf einen inneren Weg begeben wollten, der sie dazu führen sollte, Wahrnehmungen in den Bereichen des Daseins zu machen, die sich unseren normalen Sinnen in der Regel nicht von selbst erschließen. Sie strebten nach einem »Schwellenübertritt« in übersinnliche Gefilde, als Erkenntnissucher, die ihr Weltbild vervollständigen und die Wirklichkeit umfassender kennenlernen wollten.

In dieser Zeit begann sich bei wissenschaftlich denkenden Menschen das Bewusstsein zu entwickeln, dass die Naturwissenschaft allein nicht zu einem ganzheitlichen Bild des Menschen, des Lebens, der Erde führen kann. Eine Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung erschien als Silberstreif am Horizont einer zweigeteilten Welt, in der das naturwissenschaftliche Dogma das kirchliche abzulösen begann – ohne zu einem wirklich integrativen Bewusstsein zu führen, in dem auch eine Welt ihren Platz hat, die über die Begrenztheiten der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit hinauszugehen vermag.

Man darf sich die in den theosophisch-anthroposophischen Kreisen angestrebte Bewusstseinserweiterung nicht vorstellen wie eine Art Vordringen in eine abgetrennte, irgendwie psychedelische Region des Daseins, das man aus einer Neugier heraus erkunden wollte. Vielmehr brachten unterschiedliche Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhundert es mit sich, dass eine erste Offenheit dafür entstand, das nicht mit den bekannten Sinnen Fassbare als immer und überall anwesend in der sinnlichen Welt zu empfinden, nur eben nicht als so ohne Weiteres wahrnehmbar. Das Erschließen dieser Gebiete der Wirklichkeit war von demselben Erkenntnisdrang getragen wie die Suche nach naturwissenschaftlichem Wissen.

Tatsächlich sind wir hundert Jahre später mehr oder weniger alle in einer vergleichbaren Lage, denn wir haben es heute mit einer Menschheit zu tun, die mit viel größerer Selbstverständlichkeit mit den Phänomenen jenseits dieser »Schwelle« umgeht, auch wenn das alltägliche Leben eher von den Ergebnissen der Erkenntnisarbeit der mess- und wägbaren Naturwissenschaft, der Berechenbarkeit und auch von entsprechend materialistischen Kosten-Nutzen-Abwägungen geprägt ist:

Wir sprechen von Gedanken, die den Phänomenen zugrunde liegen, von Naturgesetzen, die in ihnen wirksam sind, von den wenig berechenbaren Grundlagen des lebendigen Lebens (zum Beispiel in den Human- und Lebenswissenschaften Medizin oder Biologie), die nicht nur physikalisch-chemisch erklärbar sind, von Stimmungen und Gefühlslagen, auch von Kommunikation jenseits des sinnlich Erfassbaren, von den realen Wirkungen der Zuwendung, des Interesses oder auch der negativen Gedanken und sogar von Erlebnissen mit Verstorbenen, Ungeborenen, Engeln und Schutzgeistern. All das ist sinnlich nicht verifizierbar, aber es umgibt uns und hat seine Wirkungen, obwohl wir in dieser Welt noch relativ desorientiert umherirren.

Insofern sind wir heute alle »Einzuweihende«, »Mysterienschüler«, Wahrheitssucher in einem höheren Sinne. Gerade weil wir geprägt sind von der Suche nach einer vollständigeren und objektiveren Erkenntnis, wie sie dem alltäglichen Leben mit den Naturwissenschaften im besten Sinne immanent, aber wenig bewusst ist, können wir uns nicht damit zufriedengeben, einfach zu denken »Das ist halt so« und »Wir wissen es nicht, und wir werden es auch nicht wissen können« – »Ignoramus et ignorabimus«, wie der Physiologe Emil du Bois-Reymond es schon zu Rudolf Steiners Zeiten ausdrückte. Tatsächlich werden wir auf diese Weise nicht zu eindeutigen Antworten gelangen, zu letztgültigen Zielen, aber die Fragen auf dem Wege, die zu immer neuen Fragen führen, helfen uns, in unserer Entwicklung weiterzukommen und uns damit einigen Wahrheiten immer mehr anzunähern.

Rudolf Steiner hat den Menschen, die erste Schritte auf diesem unbekannten Terrain machten, dringlichst angeraten, zunächst dafür zu sorgen, in diesem Suchen nicht den Kontakt mit der Wirklichkeit und damit die seelische Gesundheit zu verlieren. Die Übungen, die er dafür gab, hatten nicht die übersinnliche Erkenntnis selbst zum Ziel. Daher nannte er sie »Nebenübungen«, obwohl sie eigentlich der zentrale Punkt in einer Schulung der Seele sein sollten. Ihr Ziel war und ist das Erlangen des Gleichgewichts in der Seele, ohne das jeder andere Schritt wertlos oder im schlimmsten Falle schädlich wirken muss. Denn so wie wir im sinnlichen Leben sehr unterschiedlich auf die Realität schauen und dabei zu ganz verschiedenen Schlüssen kommen, gilt dies erst recht in einer weniger dreidimensional geordneten Wirklichkeit. Die Gefahr ist groß, auf diesem Felde zu verzerrten Wahrnehmungen zu kommen und diese vorschnell für Erkenntnisse zu halten, obwohl sie nur eine individuelle Sicht auf die Phänomene enthalten. Jeder schaut durch seine Brille – und die ist vielleicht dunkel getönt oder rosarot, hat eine verzerrende Sehkorrektur oder einen Schriftzug am unteren Bildrand auf dem »Katholische Kirche«, »Karl Marx«, »Tierschutz«, »Meine Eltern haben mich nicht genug geliebt« oder auch »Rudolf Steiner hat gesagt« steht, je nach Vorlieben … Und dann sehen wir auf alles, was uns unter die Augen kommt, mit dieser Prägung (die auch noch spiegelverkehrt erscheint …). Wie kommen wir zu einer etwas unverzerrteren, objektiveren Wahrnehmung der Welt?

In der gegenwärtigen Lage könnten wir uns auch fragen: Wie bleiben wir bescheiden in Bezug auf unsere persönlichen Erkenntnisse über das große Ganze und das kleine Detail? Wie lernen wir wegzukommen von der Anmaßung, die Wahrheit zu kennen, weil wir aus unserer eigenen Perspektive einen kleinen, vielleicht nur für uns selbst bedeutsamen Ausschnitt sehen? Denn das erweist sich als Voraussetzung für eine auch im Sozialen gesund wirkende Gesinnung.

Resilienz

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