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1. Brief – Gedanken zum neuen Alltag
Von der Bedeutung des Übens
ОглавлениеEigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit: Wir wachen jeden Tag in einer neuen Welt auf. Aber derzeit ist das Aufwacherlebnis für viele von uns ein bisschen surreal. Ist das alles nicht nur ein wirrer Traum? So viele Alltäglichkeiten, die ins Wanken geraten, so viel Selbstverständliches, das mir zu entgleiten droht … Was immer ging, geht plötzlich nicht mehr, völlig ungeahnte Handlungen werden selbstverständlich, und vieles, was ich noch nie gedacht habe, dringt in mein Bewusstsein ein. Wie gehe ich damit um?
Plötzliche Veränderungen können sehr verunsichernd sein, wenn ich eigentlich mit der Lebenshaltung unterwegs bin, dass alles im Wesentlichen immer gleich bleiben wird, gleich bleiben soll – es sei denn, dass ich es verändern will. Was ich gelernt habe, die Gemütshaltungen, die ich mir angewöhnt habe, der Alltag, in den ich mich eingelebt habe – sie mögen bitte auch tragen!
Eine von außen herbeigeführte Veränderung kann aber auch fast schon beruhigend sein, wenn ich Sehnsucht danach habe, dass sich in einer allzu festgefahrenen, bequemen und durchaus auch dekadenten Welt endlich Grundlegendes ändern muss. Vielleicht wird das Ungewohnte mir und uns dabei zur Hilfe werden?
Und je nachdem, ob ich mit Mut und Zuversicht, mit Vertrauen und Glauben an das Gute in die Welt schaue oder mit Skepsis, festen Urteilen und Resignation, sehe ich dann auch unterschiedlich auf die Veränderungen des Tages. Das Glas ist längst halb leer – oder schon halb voll?
Rudolf Steiner beschreibt als Voraussetzungen eines geistigen Lebens verschiedene Übungen, die eine zentrale Stellung einnehmen, wenn unser inneres Leben gesund und unsere Wahrnehmung der Welt eine wahrhaftige sein sollen. Vieles von dem da zu Übenden kommt auch im Evangelium vor, namentlich in der Bergpredigt, und will uns auch dort den Weg zum höheren Ich, zu größerer innerer Autonomie weisen, den man auch den Weg zum »Christus in mir« nennen kann. Die Mystiker des Christentums haben in ähnlicher Weise einen inneren Weg beschrieben als die »Nachfolge Christi«. In seinem Schulungsbüchlein gleichen Namens schreibt Thomas a Kempis:
»Je größer und tiefer dein Wissen um die Dinge ist, desto strenger wirst Du gerichtet werden, wenn dein Leben nicht gerade um so viel heiliger gewesen sein wird, als deine Einsicht besser war.«2
Wie kann es uns gelingen, dass wir uns an der Krise nicht nur zu immer stärkeren Meinungen und Überzeugungen, sondern zu einer Einsicht entwickeln, in der das Menschsein im Mittelpunkt steht? Wie kann uns die derzeitige, immer wieder neue Lebenssituation dienen, um auf unserem inneren Weg ganzheitlich weiterzukommen? Dazu möchte ich in diesem Auftakt-Brief und dann in loser Folge in weiteren kleinen Artikeln einige Beobachtungen und Anregungen aufschreiben. Dabei ist mein Ausgangspunkt und die Ordnung meiner Gedanken in erster Linie die Beschreibung der Nebenübungen, aber es werden mit der Zeit auch andere, eher religiöse Aspekte hinzukommen, die ich zum Teil den Anregungen anderer und zum Teil eigenen Erfahrungen verdanke. Hier zunächst eine Art Überblick als erste Bestandsaufnahme:
1.
Gelingt es mir, meine Gedanken zusammenzuhalten, zum Beispiel im Gebet, in der inneren Arbeit, der Meditation, aber auch in der ganz gewöhnlichen Arbeit oder in einem Gespräch? Kann ich ihnen eine Richtung geben, ohne mich ständig ablenken zu lassen? Das ist gar nicht so einfach in diesen besonderen Zeiten, in denen wir so viele »Sorgen« haben! Was ist das: das Wesentliche? Die Sorgen um den sich verändernden Alltag, die dahinschwindenden Sicherheiten auf vielen Gebieten bringen mich einerseits in Gefahr, fahrig und unkonzentriert zu werden, zum Spielball der unablässig auf mich einströmenden äußeren Impulse. Andererseits fällt gerade in dieser Zeit auch einiges an Ablenkungen weg, die wir oft zur Verdrängung unserer eigentlichen Aufgaben nutzen – alltägliche Verrichtungen, Treffen, Termine, Abendveranstaltungen. Aber es entstehen auch neue Versuchungen: Die durchschnittliche Internet-Nutzungszeit steigt dramatisch an in Zeiten, in denen wir Informationen suchen, die uns in der neuen Lebenslage Sicherheit geben sollen. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört es, sich selbst Grenzen zu setzen, auch in der Aufnahme von – vor allem digitalen, aber auch angelesenen – Informationen.
Denn: Eine Sensation jagt die andere, und man weiß oft nicht, wem man glauben soll. Und: Sind es überhaupt Glaubensfragen, die hier gestellt sind? Wie die Berliner Patienten-Initiative Gesundheit Aktiv schon ganz am Anfang der Pandemie schreibt: »Leider haben auch Fake News, Panikmache und Verschwörungstheorien Hochkonjunktur und gehen viral. Das raubt Energien, schwächt das Vertrauen und schafft zusätzliche Verunsicherung.«
Es entstehen neue Ängste, die oft bestimmender werden, als die, die das Krankheitsgeschehen selbst auslöst. Man braucht schon eine Portion gesunden Menschenverstand, um nicht an der Fülle des Materials zu verzweifeln – und Mut, um Komplexität und Widersprüchlichkeiten auszuhalten.
Mein Denken muss lernen, immer wieder neu hinzuschauen, ohne schnelles Urteil wahrzunehmen, Zusammenhänge zu erkennen, Lücken aufzuspüren in vermeintlich fertigen Erklärungen. So wie wir es bei wirklichen Wissenschaftlern erleben, die es sich zur Aufgabe machen, Transparenz herzustellen für eine breite Öffentlichkeit, indem sie darauf hinweisen, was man alles noch nicht weiß, und die gern zugeben, dass sie von Tag zu Tag dazulernen und bereit sind, auch Fehler und Fehlwahrnehmungen umgehend in ihre Betrachtung einfließen zu lassen, so müssen auch wir aufpassen, dass sich unsere Urteile nicht zu schnell verfestigen. Gerade die langsame Entwicklung von wachstumsfähigen Anschauungen statt Meinungen schafft Vertrauen und zeigt uns, was klare Gedanken sein können: immer neue Annäherungen an die Wirklichkeit, nie die letzte Wahrheit. Jeder kann sich kritisch fragen: Wie steht es insofern mit meinem Gedankenleben? Und wie kann ich es stärken?
2.
Wie steht es um meinen Willen? Schaffe ich es, zu tun, was ich will? Was will ich überhaupt? Weiß ich das – oder meine ich es nur zu wissen? Beobachte ich, was ich tue, so bemerke ich schnell, dass mein Handeln sich meist an Gewohnheiten und Stimmungen orientiert. Schaffe ich es, mir einen neuen, ganz eigenen Alltag unter neuen Bedingungen zu schaffen, so wie ich es eigentlich will? Kann ich Gewohnheiten noch ändern, bewusst neue aufnehmen, die in dieser Situation gesund sind? Oder kapituliere ich vor dem, was mir von außen entgegenkommt? Aber auch: Kann ich mich bewusst und »frei-willig« einordnen in größere Zusammenhänge – oder empfinde ich meinen Willen als von außen aufgezwungen, wenn nicht alles nach meinem gefühlsmäßigem »Möchten« geht?
Zu bewussten Willensimpulsen gibt es gerade jetzt viele Anregungen: So vieles habe ich mir früher vorgenommen für Zeiten, in denen ich mal einige Freiräume habe – tue ich das jetzt wirklich? Nicht jeder hat durch die Veränderungen wirklich mehr Zeit, aber was tue ich überhaupt in den Zeiten, die ich zur freien Verfügung habe? Es gibt viele Möglichkeiten für kleine Freiheiten drinnen und draußen, das große Aufräumen, mehr frische Luft und gesunde Bewegung sind immerhin auch bei verringertem Bewegungsradius gut möglich! Man kann üben, tief ein- und auszuatmen, den Kreislauf zu trainieren. Aber auch für genügend Schlaf zu sorgen, für gesundes Essen – und für eine innere Harmonie im Leben. Was für ein Luxus, dass wir das alles können! Im Vergleich mit den meisten anderen Menschen auf der Erde ist das wirklich viel!
Aber wie schaffen wir es, von all dem Guten, was man anpacken könnte, immer mehr auch tatsächlich zu tun?
3.
Innere Harmonie, Gefühlsgleichgewicht: Wie lasse ich mich immer weniger von meinen Gefühlen herumtreiben, lerne sie immer besser kennen und erhebe mich ein wenig über sie? Angst, Frustration, Zorn auf andere – das wollen wir alle gern loswerden. Aber auch überschwängliche Freude, Schwelgen in Genüssen, die mich von meinen Aufgaben ablenken, die kleinen Süchte aller Art … auch sie muss ich besser kennenlernen, wenn sie nicht die Herrschaft über meine Seele gewinnen sollen. Was hilft?
Ich denke da als Hilfe zunächst an das, was Frieden schafft in der Seele: die religiösen Grundgesten: Ehrfurcht vor dem Höheren, Dankbarkeit diesem Wesenhaften gegenüber, auch wenn es uns im Mitmenschen gegenübertritt oder in der Schöpfung. Und dann die Hingabe an mein, unser aller Schicksal mit der Frage: Was soll mir das? Was soll uns das alles? Ich muss den Blick nicht darauf richten, wer »schuld« ist, sondern darf mir vor die Seele führen, wozu die veränderte Lebenssituation auch dienen kann. Da höre ich überall auch viel Schönes – von der Zeit für Wesentliches, für Kunst, Lektüre, Partnerschaften, Familie, die nun endlich einmal da ist, bis zu einer Ruhepause für die Natur, die sich vom »Verbrauchtwerden« durch den Menschen hoffentlich ein wenig erholen kann. Solche Gedanken schaffen uns ein ruhiges Herz!
4.
So beginnen wir im Bewusstwerden unserer Gefühlswelt bereits, den neuen und verunsichernden Entwicklungen trotz aller Unbill auch positiv gegenüberzutreten, und das scheint fast am schwierigsten zu sein. Positivität zu üben, heißt ja nicht, sich alles schönzureden und völlig unkritisch zu werden gegenüber den deutlich auftretenden Schattenseiten der Entwicklungen und Krisen, die uns treffen. »Krise« aber heißt auch Entscheidungssituation, Punkt der Zuspitzung, an dem sich vieles offenbart, was vorher im Verborgenen lag. Insofern haben alle Krisen Offenbarungscharakter. Das ist nicht nur ein Phänomen des Untergangs, sondern vor allem die Stunde, in der sich zeigt, was an so manchem Alten schon immer schief war, sodass es nun neue Entscheidungen braucht. Wie lernen wir, mit einem wohlwollenden, nicht verurteilenden »Offenbarungsblick« auf die Phänomene zu schauen und die Chance des Neuen zu würdigen?
5.
Unvoreingenommenheit wird dabei zur Not-Wendigkeit, einer Eigenschaft die Not wenden kann. Wir müssen nicht alles beurteilen, Meinungen haben, Sündenböcke finden. Halten wir das aus – auch mal keine Meinung zu haben? Oder wenigstens anzuerkennen, dass unsere Meinungen nicht endgültige Wahrheiten sind, sondern oft nur Krücken zur Bewältigung unserer eigenen Unsicherheiten?
Wie oft werden wir Pfarrer nicht danach gefragt, was man denn nun von dem einen oder anderen Aspekt der Krise halten soll, wer »schuld ist«, wer »recht hat« … Dabei ist das ja gar nicht so einfach zu beantworten. Die Welt ist ein sehr kompliziertes Geflecht, ein Organismus, an dem wir alle Anteil haben. Menschliche – und gar menschheitliche – Entwicklungen bestehen aus einem größeren Ganzen von Einzelschicksalen und -handlungen. Das Abwägen verschiedener Interessen ist in einer immer bewusster werdenden Welt nie eine Frage von richtig und falsch. Vieles kommt darauf an, wie weisheitsvoll wir soziale Prozesse gestalten. Auch hier ist das Gewachsene sehr komplex, und es ist leichter, erstmal »dagegen« zu sein und zu kritisieren, als Neues zu gestalten.
Es ist eine Aufgabe unserer Zeit, wegzukommen von einfachen Erklärungen, Sündenböcken und Schwarz-Weiß-Denken. Dadurch wird das Leben anstrengender, bescheidener – und wahrhaftiger! Es lohnt sich, jeden Tag neu und unbefangen auf das zu schauen, was wir wirklich selbst wahrnehmen und nicht nur die Meinungen anderer nachzubeten und bei anderen Zustimmung zu suchen.
6.
Und schließlich können wir mit Goethe, Steiner und vielen anderen Weisheitslehrern feststellen, dass wir nur erkennen können, was wir lieben! Das Leben zum Beispiel, unser Schicksal, die Zeit, die uns herausfordert, Liebe und Solidarität mit den Schwächsten zu lernen!
Dabei ist Bauchgefühl noch nicht Herzdenken. Es geht zum Beispiel bei den Abstandsgeboten im Zusammenhang mit Corona nicht unbedingt darum, dass wir uns nicht anstecken wollen, oder dass wir für uns selbst Wege suchen, verschont zu bleiben, ein besseres Schicksal zu haben als andere, weil wir zu den »Guten« gehören! Man könnte aus Eigennutz auf den Händedruck verzichten – aber eben auch aus Rücksicht auf andere. Handle ich so, wie es »mir gefällt« (Bauchgefühl) oder so, wie es für den anderen gefällig ist (Empathie)? Denke ich zunächst an mich selbst, meine Gesundheit, meine Selbstentfaltung, meine wirtschaftliche Existenz? Oder will ich den Mitmenschen respektieren, schützen, anderen nicht zur Last fallen, indem ich leichtfertig mich und meine Nächsten gefährde durch mein meist ganz unbewusstes, aber doch eher selbstzentriertes Verhalten?
7.
Und in der Folge schließlich: Wie wirkt das alles im Sozialen? Kann man auf Abstand lieben? »Social Distancing« ist kein schönes Wort, obwohl es auch etwas von Respekt beinhaltet, Abstand wahren, um den anderen nicht zu vereinnahmen, übergriffig zu werden mit meiner Auffassung von Nähe. Ist es überhaupt eine wirkliche Distanz, die entsteht, wo ich mich physisch zurückhalte? Nur weil ich den Nächsten, das Du, nicht anfasse, umarme, ihm die Hand schüttele? Physischer Abstand kann durchaus einhergehen mit seelischer Nähe! Und das Gespräch wird vielleicht umso intensiver, weil wir es für eine Weile auch mal auf Abstand oder sogar schriftlich führen müssen! Oder nicht jeden Gedanken gleich aussprechen können …
In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir gesund werden in jeder Hinsicht, und dabei neugierig, offen und positiv bleiben!