Читать книгу Zara Nesbit - Blutrabe - Ily Romansky - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL 2
Die Sonne berührte bereits den Horizont, als Zara den Hang zur Burg hinauf stieg. Die Anstrengung und die kalte Luft ließen sie angestrengt nach Luft schnappen. Als sie endlich das Tor erreichte, lehnte sie sich erschöpft gegen das dicke Holz. Es dauerte einen Moment, bis sie zu Atem kam.
Bevor sie anklopfte, überprüfte sie noch einmal ihre Kleidung, richtete den Hut und bändigte die Haare. Sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen, auch wenn die Burg ihr Bemühen nicht erwiderte. Das Tor war rissig und alt. Es drohte jeden Moment vor ihren Augen zu verwittern. Neben der Türklappe hatte jemand einen Schriftzug in das weiche Holz gekratzt.
Durch mich geht man hinein, las sie. Der Rest war nicht zu entziffern. Zara hatte mehr vom Schloss eines Barons erwartet. Auf ihr Klopfen erschien ein alter Diener, das Gesicht zerfurcht von Pockennarben. Zara erklärte ihr Anliegen und das Gesicht des Mannes verschwand wieder hinter dem Tor. Unerträglich lange geschah nichts. Dann hörte sie, wie auf der anderen Seite ein schwerer Riegel zurückgeschoben wurde. Widerspenstig knarrte das Holz des Tores, als der Diener es öffnete. Vor hundert Jahren hätte das Tor einer Armee standhalten können. Jetzt wurde es nur von verrosteten Scharnieren und Holzwürmern zusammengehalten.
Der Diener ließ sie eintreten und öffnete den Blick in den Hof. Hohe Mauern erhoben sich steil zu allen Seiten des geschlossenen Innenhofs. Drohend ragten sie in den Himmel und beobachteten die Besucherin kritisch aus kleinen Fenstern. Die Aura eines verlorenen Glanzes hing über dem alten Stein. Als wäre die Welt weitergewandert und hätte die Burg auf dem Hügel zurückgelassen. Nicht ganz tot, aber auch nicht am Leben. Wo einmal ein Chor aus Stimmen und Gedanken durch die Gänge galoppiert war, lag jetzt gespenstische Stille. Das verräterische Klacken ihrer Schritte ließ Zara daran denken, welche Geister sie wohl weckte.
Zu ihrer Linken säumte eine Galerie sowohl das Erdgeschoss, als auch das erste Stockwerk. Von den steinernen Wänden bröselte der Putz. Zu ihrer Rechten gab ein Tunnel den Durchgang zu einem weiteren Hof frei. Über dem Torbogen prangte ein zerstörtes Wappen. Zu den Seiten ragten zwei Türme empor, die Fenster eilig zugemauert.
Zara blieb beunruhigt stehen. Ein schlimmer Verdacht manifestierte sich. Der stumme Diener drehte sich nach ihr um. Ausdruckslos wie ein Hund, der sich fragte, warum sein Herr ihm nicht folgte, sah er sie an.
Stumm wies er ihr den Weg zu einer bemalten Holztür. Ein Pferd war daneben angebunden. Ein abgenutztes und abgehetztes Geschöpf, das Mitleid mit jedem erregen musste, der es sah.
Kaum hatte sich Zara der Tür auf wenige Schritte genähert, als diese krachend aufschwang. Ein Mann stürmte heraus, sein Gesicht so rot wie der Umhang, den er trug.
“Verflucht seist du, Wycliff”, schrie er über die Schulter zurück in den dunklen Gang, aus dem er gekommen war. “Du und deine gesamte Brut! Seid verflucht bis auf den Tod und darüber hinaus!”
Ohne Zara zu beachten, stieg der Mann auf das Pferd. Ihm nachfolgend trat ein Greis auf den Hof, zwei Jagdhunde zu seinen Flanken.
“Ha! Fluch so viel du willst, Warren! Etwas anderes kannst du nicht”, lachte der Alte dem Mann ins Gesicht. “Aber wenn du noch einmal einen Fuß auf meinen Grund und Boden setzt, hetzte ich die Hunde auf dich!”
Drohend fletschten die Tiere die Zähne. Doch der Reiter blieb unbeeindruckt. Verächtlich sah er auf den Greis hinab.
“Es ist nicht dein Grund und Boden, Wycliff!”
Bevor der Alte etwas erwidern konnte, galoppierte der Mann durch das Tor und hinaus in die Dämmerung.
“Hey, du! Keine Bettler! Keine Händler! Keine Weiber! Verschwinde! Verschwinde! Fred! Schmeiß sie hinaus!”
Der alte Mann scheuchte Zara wie einen Vogel. Die Hunde folgten dem Beispiel des Herrn. Sie knurrten und schnupperten, als nähmen sie bereits die Fährte auf.
“Mein Name ist Zara Nesbit, Herr. Ich bin hier, um die Erziehung der jungen Tochter zu übernehmen.”
Zara streckte ihren Rücken durch und zwang sich zu einem selbstbewussten Lächeln. Der Greis musterte sie prüfend. Wie aus einer wütenden Trance erwacht, bemerkte er erst jetzt den Hut und den weißen Stoff um Kragen und Handgelenke. Er sah an ihr vorbei zum Torwächter, der wortlos nickte.
“Du hast eine Schrift?”, sagte er ungeduldig. Es war eine Mischung aus Frage und Befehl.
“Äh… natürlich.”
Zara beeilte sich aus ihrer Brieftasche ein in Leder gebundenes Dokument herauszuholen. Ihre Hände zitterten unter den feindseligen Blicken der Hunde.
Sie reichte dem Mann den Freibrief und beobachtete ihn wie er jedes einzelne krakelige Wort aufmerksam las und sogar das Siegel überprüfte. Zara hatte sich den Baron anders vorgestellt. Würdevoller. Eleganter. Der Mann vor ihr musste über siebzig sein, das Haar ergraut und dünn, Gesicht und Hände übersät mit den Narben ausgetragener Schlachten. Auch seine Kleidung war die eines Ritters, bereit in den Kampf zu ziehen.
“Alles Quacksalber.”
Er reichte Zara die Urkunde, die ihr den erfolgreichen Abschluss des Gouvernantenseminars in York bescheinigte, zurück.
“Taugst du etwas?”
Er bemaß sie kritisch. Die blassen Augen fixierten sie im sterbenden Licht des Tages. Zara bemerkte, wie kräftig der Mann trotz seines Alters wirkte.
“Ich habe umfassende Kenntnisse im Schutz vor Magie und…”
“Das kann jedes Waschweib!”, fuhr er ihr über den Mund. “Ich zahl gutes Geld für dich. Also was kannst du noch?”
Er trat näher an sie heran. “Kannst du der Magie in ihr hungriges Maul sehen? Kannst du standfest bleiben, wenn der Teufel dich lockt? Kannst du? Kannst du?”
Zara gelang es nicht seinem Blick standzuhalten. Er hatte Armeen in die Knie gezwungen. Eine Gouvernante war ein leichtes Opfer.
“Ich…”, stotterte sie. “Ich bin immer noch am Leben, wenn das zählt.”
Eine Veränderung stellte sich im Gesicht des Barons ein.
“Was heißt das schon”, sagte er resignierend.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da die Erziehung von Mädchen so unbedeutend war, dass Mütter und Tanten sie übernahmen. Seit die Magie das Land beherrschte, war dies nicht mehr möglich. Allein die Kirche konnte jetzt noch Seelenheil und körperliche Unversehrtheit gewährleisten. Und die Gouvernante war die Mauer, die zwischen ihrem Schützling und den Gefahren der Magie stand.
“Du wirst müde sein”, sprach der Baron langsam. Zara nickte stumm.
“Natürlich bist du müde. Eure Sippe ist immer müde.”
Er wandte sich ab und rief so laut, dass seine Stimme den Stein von den Mauern bröckeln ließ.
“Gabriel! Gabriel!”
Die Stimme kletterte hinauf zu den entlegensten Fenstern. Nichts rührte sich. Die dunklen Gläser taten, als hätten sie nicht gehört. Bis auf eines, das einen Spalt breit offen stand, blieben alle verschlossen.
Unversehens schoss ein junger Mann aus dem dunklen Gang und kam gerade noch zum Stehen, bevor er mit dem Greis zusammenstieß. Ein freudiges Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er Zara entdeckte. Doch er behielt es nicht lang. Der Baron schlug dem Mann mit der bloßen Hand das Lächeln aus dem Antlitz. Mit Schrecken sah Zara, wie er zurück taumelte, die Wange rot glühend, aber mit einem Ausdruck in den Augen, als hätte er den Schlag erwartet. Als wäre dies nur ein Schlag von vielen, die er bereits erlitten hatte und die noch folgen würden.
“Beherrsch dich!”, fuhr der Baron ihn an. “Rennst herum wie ein räudiger Hund.”
Sein Gesicht zu einer gefühllosen Maske erstarrt, entschuldigte sich der junge Mann. Der Schlossherr musterte ihn abschätzig.
“Alle Hoffnung vergebens…”, flüsterte er.
Ohne ein weiteres Wort an den Neuankömmling zu verlieren, kehrte der Baron in den dunklen Schlund des Schlosses zurück, gefolgt von seinen Hunden. Kaum war der Greis verschwunden, erhellte sich Gabriels Gesicht, als wäre nichts gewesen.
“Sie müssen Miss Nesbit sein.”
Er verneigte sich in höfischer Manier.
“Gabriel Wycliff. Meinen Vater, Baron Wycliff, haben Sie kennengelernt. Ich würde Sie ja bitten, die Unhöflichkeit meines Vaters zu verzeihen, aber Groll hegen ist einer der wenigen Zeitvertreibe, die wir hier haben. So steht es Ihnen frei, ihm seine Unhöflichkeit nachzutragen.”
Er grinste von einem Ohr bis zum anderen und studierte aufmerksam Zaras Gesicht, ob sie seinen Scherz verstand. Sie winkte ab.
“Ich trage niemandem etwas nach, Mr. Wycliff. Ich bin Gouvernante, keine Bedienstete.”
Der junge Mann lachte. Er hatte die gleichen Gesichtszüge wie der Vater, eine fliehende Stirn, große, aufmerksame Augen. Aber sie hätten in ihrem Wesen nicht unterschiedlicher sein können. Gabriels Gesicht strahlte vor jugendlicher Energie, er konnte keine dreißig Jahre alt sein. Seine Kleidung war vornehm, dunkelblauer Samt mit versilberten Knöpfen, aber alt und etwas abgetragen. Zara konnte sehen, warum der Baron Gabriel als Enttäuschung empfinden musste. Ein Krieger hatte einen Lebemann zum Sohn.
“Aber kommen Sie. Wir wollen uns nicht von der Dunkelheit überraschen lassen.”
Er entzündete eine Fackel und führte sie in die dunklen Gänge der Burg, begleitet von ihren Schatten, die auf den weiß gekalkten Wänden tanzten. Ein kalter Luftzug wehte Zara ins Genick. Unzählige Gänge und Türen führten vom Hauptgang ab. Einige Durchgänge waren zugemauert worden. Der Geruch von Fäulnis und Verfall drang durch die dünnen Ritzen.
“Lassen Sie sich von dem alten Gemäuer nicht täuschen, Miss Nesbit. Auch an uns sind die Veränderungen des neuen Zeitalters nicht vorbeigegangen. Das 17. Jahrhundert steht vor der Tür! Eine neue Zeit bricht an. In York muss das viel mehr zu spüren sein, als hier, nicht wahr?”
Er drehte sich nach ihr um und Zara wandte schnell den Blick von seinen Stiefeln ab. Ein großer Klumpfuß ließ ihn hinken, auch wenn er sich Mühe gab, die Behinderung zu verstecken.
“York ist ein Ameisenhaufen.” Sie bemühte sich, sich seiner Aufgewecktheit anzupassen. Man merkte schnell, dass er aus Nervosität so viel sprach.
“Ein Ameisenhaufen, wie? Ich war selbst noch nie dort –Vater hat etwas gegen unnötige Reisen. Sie verderben den Charakter. Aber genau so stelle ich es mir vor. Hatten Sie eine gute Reise? Keine schlimmen Vorkommnisse?”
Zara schüttelte den Kopf.
“Nur ein besessener Hund, der unseren Weg kreuzte.”
Gabriel nickte. “Ja, Tieren merkt man die Magie schnell an. Bei Menschen wird es schon schwieriger. Oder haben Sie im Gouvernantenseminar Tricks gelernt wie man Magier enttarnt?”
Er sah sie hoffnungsvoll an, aber Zara musste verneinen. Seine Enttäuschung hielt nicht lange an. Er führte sie durch einen Nebengang in eine kleine Kammer, wo ein karges Mahl für sie bereit stand.
“Wir leben zwar fast noch im vorigen Jahrhundert, aber wir versuchen uns zu bessern. Wir haben erst letztes Jahr vier Kamine anbauen lassen und auch an Nachttöpfen fehlt es uns nicht. Und die Bediensteten schlafen im Gesindehaus. Sie werden also über niemanden in der Nacht stolpern. Ich bin sicher, Sie werden uns nicht allzu provinziell finden.”
Er setzte sich zu ihr an den Tisch und betrachtete sie dabei, wie sie die Brühe und das Brot mit gezwungener Mäßigung aß. Zara fühlte sich beobachtet. Nicht nur von ihm, auch von den Bildern an den Wänden. Bischöfe, Heilige und Sünder blickten sie neugierig durch die Jahrhunderte an. Der Wind, der durch die Ritzen pfiff, fügte ein unheimliches Flüstern hinzu. Auf einmal war sie über den Beuteln, den Maggie ihr gegeben hatte, froh. Aber selbst der Beutel, konnte die dunkle Ahnung, die an ihr nagte, nicht zurückhalten.
“Mr. Wycliff”, sagte sie vorsichtig und wählte ihre Worte mit Bedacht. “Lebt Ihre Familie schon lange auf dieser Burg?”
Er sah sie verblüfft an, doch sogleich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
“Ah, ich sehe, Sie haben uns durchschaut. Es musste ja passieren, aber so schnell!? Sagen Sie, was hat uns verraten?”
Zara hätte nicht gedacht, dass er es einfach zugeben würde.
“Das zertrümmerte Wappen, die Galerie, die Heiligenbilder.” Sie deutete an die Wand.
“Dies war einmal ein Kloster, nicht wahr?”
Er nickte. Zara lief ein Schauer über den Rücken. Sie sah bereits die Geister toter Mönche vor ihren Augen aufsteigen. Ihre Flüche und Verwünschungen hallten durch die Gänge. Anklagend streckten sie die knochigen Finger nach ihr aus.
“Man hätte mir das vor meiner Ankunft sagen müssen.”
“Es gibt wirklich keinen Grund der Sorge, Miss Nesbit”, sagte er schnell. “St. George war eines der ersten Klöster, die aufgelöst wurden. Die Mönche sind nach Frankreich geflohen. Niemand wurde verletzt. Es gibt hier keine Geister, vor denen Sie sich fürchten müssen.”
“Ich fürchte mich nicht vor Geistern, Mr. Wycliff, sondern vor Königin Mary. Ich habe gehört, sie bemüht sich die Klöster, die ihr Vater weggegeben hat, wiederzubekommen. Ich will nicht in einem Monat auf der Straße stehen müssen.”
Gabriel lachte.
“Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Mein Vater bekam Land und Titel für seine Verdienste an die Krone. Die Königin wird das nicht vergessen. Und mein Bruder Godwin, der gerade in London ist, wird sie schon daran erinnern. Sie kommen hier also nicht so schnell weg.”
Zara wollte ihm glauben, aber die Worte des Reiters gingen ihr nicht aus dem Kopf. Dies ist nicht dein Land, hatte er gerufen. Sie wollte ihn darauf ansprechen, hielt sich dann aber zurück. Welche Wahl hatte sie schon? Sie hatte ihr letztes Geld für einen unnützen Zauber ausgegeben. Wenigstens für eine Weile würde sie hier bleiben müssen.
Als sie ihr Mahl beendet hatte, führte er sie zurück in die Gänge der Abtei. An den Wänden erkannte sie die Spuren entfernter Bilderrahmen und zügig übermalter Wandgemälde. Stattdessen zierten Wappen und Waffen die getäfelten Räume, wie ein echtes Schloss aus einem Artus-Lied.
Doch die neue Erkenntnis klebte an den Wänden und verdüsterte ihre Stimmung. Sie wollte nicht so schnell wieder weg, jetzt da sie ein Heim gefunden hatte.
“Es ist zu spät, um Ihnen alles zu zeigen. Wir werden das morgen erledigen.”
“Ich will Sie nicht unnötig bemühen. Ich bin sicher, dass die Haushälterin das übernehmen kann.”
Gabriel sah verlegen weg.
“Es gibt keine Haushälterin und Fred ist so still, dass er keinen guten Führer abgeben würde.”
“Dann vielleicht eines der Hausmädchen.”
Gabriel blieb stehen. Sein Gesicht glühte im Licht der Flamme.
“Ich muss ehrlich zu Ihnen sein, Miss Nesbit. Sie sind die erste Dame, die unser Heim seit zehn Jahren betritt. Der Baron duldet keine Frauen und mein Bruder und ich haben lange gebraucht, ihn von der Notwendigkeit einer Gouvernante zu überzeugen.”
Zara runzelte die Stirn.
“Keine Frauen? Und die Baroness…?”
Gabriel blickte zu Boden.
“Hauchte ihren letzten Atemzug, als Gertie ihren ersten tat. Aber Sie dürfen sich nicht davon abschrecken lassen. Ihre Reputation ist sicher. Jeder im Dorf versteht die… ähm… besonderen Umstände.”
“Welche besonderen Umstände?”
Ihr Begleiter zögerte. Die Worte entwichen ihm stockend.
“Nach dem Tod unserer Mutter wollte Vater keine Frauen mehr auf der Burg. Sehen Sie, er ist davon überzeugt, dass Frauen Magie anziehen und dass dies zum Tod meiner Mutter geführt hat.”
“Aber dem ist nicht so?”, fragte Zara vorsichtig. Sie wollte wissen, worauf sie sich einließ.
“Nein. Meine Mutter starb im Kindbett. Aber Vater ist, gegen besseres Wissen überzeugt, dass es Magie war und dass die weiblichen Angestellten diese angelockt haben. Es hat eine Weile gedauert, bis wir ihn überzeugen konnten, dass eine Gouvernante wohl kaum eine Gefahr darstellen würde.”
“Er schien nicht sehr überzeugt.”
Gabriel legte die Stirn in Falten. Plötzlich ergriff er ihre Hand.
“Miss Nesbit, ich weiß, dies ist kaum das Heim, das sich eine Gouvernante wünschen kann, aber Sie müssen uns eine Chance geben. Gertie hat sich so auf Sie gefreut. Seit Wochen redet sie von nichts anderem. Und ich bin sicher, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben, werden Sie merken, dass es nicht so schlimm ist. Sagen Sie, dass Sie bleiben. Wenigstens für eine Weile. ”
Zara zögerte. Sie war auf einer Burg, in der man sie nicht wollte und wo wahrscheinlich die Geister toter Mönche spukten. Aber es gab keinen anderen Ort, an den sie gehen könnte.
“Ich bleibe, wenn Sie mir versprechen, dass ich eine Dienstmagd bekomme. Ihr Vater – und mit ihm wahrscheinlich die halbe Welt – mögen davon überzeugt sein, dass Frauen Magie anziehen, aber ich kann Ihnen aufgrund meine Ausbildung versichern, dass das Unsinn ist. Und ich kann mich nicht an einem Ort wohl fühlen, wo man mich, ja mein ganzes Geschlecht, als Gefahr betrachtet. Ich möchte eine Dienstmagd.”
Gabriels Gesicht erstrahlte wie das Licht der Sonne.
“Zwei, drei, hunderte!”
Die Erleichterung schwemmte seine Befürchtungen fort. Auch Zara ließ sich ein wenig davon anstecken. Wenigstens war sie an einem Ort, wo man sie brauchte. Sie stiegen eine knarrende Wendeltreppe hinauf und blieben in einem Gang mit einer langen Türreihe stehen.
“Dieses Zimmer ist Ihres. Das Zimmer nebenan gehört Gertie. Sie ist bereits zu Bett gegangen, aber morgen früh...”
Wie um ihn Lügen zu strafen, öffnete sich die benachbarte Tür und der Kopf eines Mädchens lugte heraus.
“Ich schlafe nicht”, sagte das Mädchen schüchtern. Sie tat als redete sie mit Gabriel, musterte dabei aber ganz auffällig Zara.
“Du solltest aber schlafen”, entgegnete ihr Bruder. Zara wunderte sich über das Mädchen. Sie konnte, der Größe nach zu urteilen, kaum vier Jahre alt sein, aber sprach so klar und deutlich, als wäre sie älter.
“Ich will aber nicht schlafen gehen. In meinem Zimmer sind Monster.”
Sie trat trotzig auf den Gang. Zara konnte sie sich kaum anschauen, da trat Gabriel zwischen die beiden und versuchte sie zurück in ihr Zimmer zu schieben.
“Ich bin das einzige Monster, vor dem du dich fürchten solltest.”
Er versuchte sie zurückzudrängen, aber das Mädchen zwang sich an ihm vorbei, baute sich vor Zara auf und machte einen vortrefflichen Knicks.
“Gertrude Wycliff, freut mich sehr.”
Das Mädchen lachte Zara neckisch an, doch sie hörte weder die Worte, noch vernahm sie das Lächeln. Sie sah nur die kleine Gestalt mit viel zu kurzen Armen und viel zu kurzen Beinen. Das Mädchen war kleinwüchsig!
Gegen besseres Wissen zeichnete die Angst vor dem Fluch der Mönche Entsetzen auf Zaras Gesicht. Gabriel bemerkte die Reaktion.
“Ihr könnt euch morgen vorstellen. Ab ins Bett!”, sagte er schnell und schob seine Schwester zurück in ihr Zimmer. Zara schämte sich für ihre Reaktion, aber das änderte nichts an dem Tatbestand. Das Mädchen war kleinwüchsig.
“Wie ist das passiert?”, fragte sie, als Gabriel wieder vor ihr stand. “War es nicht doch Magie?”
Zara hatte viele Menschen gesehen, die von Magie gezeichnet waren. Frauen, deren gesamter Körper mit Haaren bedeckt war. Männer, deren Füße und Hände zu Stein erstarrten. Und die Überreste jener, die in einen magischen Wirbel geraten waren und nicht wieder hinaus fanden. Kleinwüchsigkeit konnte ebenfalls auf den Einfluss von Magie deuten. Konnte.
“Das müssen wir doch nicht heute besprechen. Ich…”
“Nein, Mr. Wycliff. Das hätte alles bereits in Ihrem Brief stehen müssen. Sagen Sie mir die Wahrheit. Ist ihre Kleinwüchsigkeit der Grund, warum ihr Vater denkt, dass es Magie war?”
Gabriel wagte einen kurzen Blick zur verschlossenen Tür und fuhr im Flüsterton fort.
“So ist es. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Gertie keinen Funken Magie in ihrem Körper hat. Und sie ist auch kein Sekundus, wenn Sie das denken.”
Ein Sekundus, dachte Zara. Ein von Magie berührtes Kind.
“Auch bevor die Magie über unser Land gekommen ist, hat es Kleinwüchsige gegeben. Dazu ist keine Magie von Nöten. Egal was die Leute sagen.”
Zara stutzte. “Was sagen denn die Leute?”
Gabriel bemerkte seinen Fehler.
“Bauerngerede. Nichts weiter. Dafür sind Sie ja jetzt da.”
Zara wurde mit einem mal bewusst, warum sie hier war. Nicht, um das Mädchen vor Magie zu beschützen. Sondern der ganzen Welt zu zeigen, dass sie keine hatte.
“Das Mädchen wird mir meine Reaktion übel nehmen.”
Gabriel schüttelte heftig den Kopf.
“Gertie ist Schlimmeres gewohnt.”
Zara konnte sich vorstellen, was das Mädchen durchmachen musste. Sie hatte es ihr angesehen. Gertie hatte die Ablehnung geradezu provoziert. Hier war ein Kind, das erwartete von der Welt gehasst zu werden. Zara konnte nicht sagen warum, aber sie erkannte sie selbst darin wieder.
Ihr Schweigen missdeutend, fragte Gabriel vorsichtig: “Sie haben es sich doch nicht wieder anders überlegt?”
Zara sah ihn scharf an.
“Das Dienstmädchen, Mr. Wycliff. Besorgen Sie mir einfach ein Dienstmädchen.”
Er lächelte erleichtert. “Gewiss. Und nun gute Nacht. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie nach Fred. Er kümmert sich um alles. Manchmal tut er so, als hätte er nicht gehört, aber er kümmert sich.”
Er verbeugte sich und ging, bevor sie ihn nach einem Schlüssel für das Zimmer fragen konnte. Es war nicht abgeschlossen.
Zara trat in ihre Kammer. Der Raum war wie der Rest der Abtei mit weißem Kalk bestrichen und wies nur wenige Annehmlichkeiten auf. Ein altes Bett, sowie eine Truhe und ein Tisch mit einem einfach zusammengezimmerten Hocker. Es musste früher einmal eine Rechenstube gewesen sein. Kaum größer als eine Mönchszelle, aber immerhin mit einem Kamin. Eine Verbindungstür führte in das Zimmer nebenan.
Vor der Feuerstelle stand ihr kleiner Bastkorb. Der Diener musste ihn bereits hinaufgetragen haben. Sie nahm den Deckel ab und inspizierte ihren kläglichen Besitzes. Ein Kleid, ein Paar Schuhe und zwei Unterkleider. Sie war nicht reich, aber reicher, als so viele andere in England. Mit diesem Gedanken versuchte sie sich zu trösten. Sie und ihr Vater hatten viel aufgegeben, damit sie die Gouvernantenschule besuchen konnte und sie wollte ihn nicht enttäuschen.
Aber Schwermut beschlich Zara wie die Nacht das Land. Sie seufzte in der Einsamkeit des Raumes. Sie hatte York verlassen, um der Magie zu entkommen und war ihr geradewegs in die Arme gelaufen. Aber vielleicht grübelte sie auch zu viel. Vielleicht war das Mädchen wirklich einfach nur kleinwüchsig, weil der Herr Gott es gewollt hatte.
An diesen Strohhalm klammerte sie sich. Sie wollte die Hoffnung nicht so schnell aufgeben. Es war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte, aber damit hatte sie gerechnet. Sie hoffte nur, dass alles ins Lot kam. Dass sie endlich ein Heim gefunden hatte, in dem sie sicher war.
Gedankenverloren betrachtete sie den Baldachin über ihrem Bett. Eine Spinne spann frech ihr Netz. Diese müssten am nächsten Morgen als erstes verschwinden, dachte sie. Sie konnte keine Zeugen gebrauchen.