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4.Tante Sophies unerwarteter Hilferuf

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Heute, an dem dritten Jahrestag ihres Todes stehe ich noch immer fassungslos vor Tante Sophies Grab, als mir der Ablauf ihrer ungeheuerlichen Geschichte wieder durch den Kopf geht. Scheibchenweise war es mir nach ihrem Tod trotz aller Widerstände gelungen, die traurige Wahrheit über die hinterlistigen Schandtaten ans Licht zu bringen.

Für mich wird Tante Sophie immer als eine kleine, etwas mollige alte Dame mit schlohweißen Haaren und einem unverwechselbaren lauten herzlichen Lachen in Erinnerung bleiben, weltoffen und für Neuerungen noch bis ins hohe Alter begeisterungsfähig.

„Ist ja toll!“, rief sie daraufhin stets verzückt aus, und es war nicht schwierig, sie dann auch zu etwas tollkühnen Taten zu überreden.

Selbst im fortgeschrittenen Alter von neunzig Jahren trug sie sich noch ernsthaft mit dem Gedanken, sich einen Laptop zuzulegen. Sie liebte es einfach, etwas Neues auszuprobieren, Abenteuer zu erleben und bei Reisen in die hintersten Ecken der Welt fremde Kulturen kennenzulernen. Als ihre körperlichen Kräfte später nachließen, litt die ehemalige Sportlerin sehr darunter und versuchte verzweifelt dagegen anzukämpfen. Inzwischen sogar mit zwei Gehstöcken ausgestattet, versuchte sie trotzdem immer noch das Unmögliche möglich zu machen.

Oberflächlich kannte ich Tante Sophie schon seit meinen frühen Kindheitstagen. Jedes Jahr traf ich sie einmal bei der Geburtstagsfeier meiner Oma. Doch als diese verstarb, schlief der Kontakt ein.

Jahre später begegnete ich ihr unvermutet in der Stadt, sprach sie an, und es entwickelte sich, obwohl wir uns wenig kannten, ein angenehmes, fast vertrautes Gespräch. Wir waren uns vom Wesen her sehr ähnlich, und es dauerte nicht lange, bis der Sympathiefunken übersprang.

Das ist nun schon über zwanzig Jahre her, trotzdem kann ich mich heute noch an die lustige Verabschiedung erinnern, als sie mich vorsichtig fragte: „Wir haben uns jetzt so nett unterhalten, doch - wer bist du eigentlich?“

Ich wusste natürlich, dass sie aus ihrem kirchlichen Engagement einen riesigen Bekanntenkreis hatte, und es deshalb nicht immer einfach für sie war, alle Gesichter sofort richtig einzuordnen. Heute noch muss ich über die ehrliche und direkte Frage schmunzeln.

Sie war aber wahrhaftig daran interessiert zu erfahren, mit wem sie sich nun eigentlich überhaupt unterhalten hatte, merkte sich fortan meine Adresse, um sich telefonisch einige Zeit später noch einmal mit mir zum Kaffeetrinken zu verabreden. Von diesem Tag an entwickelte sich eine lockere Beziehung. Wir verabredeten und trafen uns in unregelmäßigen Abständen zu einem netten, kleinen Plauderstündchen.

Die weiteren Jahre nach meinem Treffen mit Tante Sophie in der Stadt sollten die schwersten meines Lebens werden. Nur wenige Monate danach wurde mein Sohn Mario geboren, viel zu früh, gerade mal dreißig Zentimeter lang und neunhundert Gramm schwer. Monatelang kämpfte er im Krankenhaus um sein Leben und auch nach seiner Entlassung erforderte sein schlechter Gesundheitszustand, begleitet von Therapien, unzähligen Arzt- und Krankenhausbesuchen, meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

Trotzdem schlief meine neugewonnene Beziehung zu Tante Sophie nicht wieder ein. Ganz im Gegenteil, kinderlieb wie sie war, fieberte sie bei jedem neuen Schicksalsschlag mit uns mit und gewann später mit ihrem freundlichen und fröhlichen Wesen im Handumdrehen Marios Herz.

Als Mario ungefähr acht Jahre alt war, verstarb eine gemeinsame Verwandte von Tante Sophie und mir. Um der damals schon achtzigjährigen Tante Sophie das Tragen des schweren Trauergestecks zu ersparen, nahm ich ihr die Bestellung und Abholung ab und verabredete mich zur Übergabe des Blumengebindes eine halbe Stunde vor dem Trauergottesdienst vor der Kirche.

Pünktlich war ich am vereinbarten Treffpunkt und wartete. In der Regel war sie auch immer zur rechten Zeit da, aber aus irgendeinem Grund verspätete sie sich an diesem Tag. Unruhig schaute ich auf meine Armbanduhr. Die Zeit verstrich und schon bald sollte der Trauergottesdienst beginnen. Als die Glocken zu läuten begannen, versuchte ich, Tante Sophie telefonisch zu erreichen. Erfolglos. Wieso kam sie nicht? Was war nur geschehen? Hin und her gerissen, entschied ich mich dazu, zunächst an der Beerdigung teilzunehmen und anschließend den Grund für Tante Sophies Fernbleiben ausfindig zu machen.

Nachdem die Feierlichkeiten beendet waren, versuchte ich nochmals, Tante Sophie telefonisch zu erreichen. Diesmal meldete sie sich, aber ihre Stimme klang ungewöhnlich mitgenommen.

„Tante Sophie, was ist denn passiert?“, erkundigte ich mich voller Sorge. „Warum bist du denn nicht gekommen?“

„Liebe Julia, es tut mir so leid, dass du vergeblich auf mich gewartet hast“, entschuldigte sie sich umgehend.

Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Ihre sonstige Fröhlichkeit war wie weggeblasen, stattdessen klang sie traurig und besorgt.

„Als ich heute Morgen zum Friedhof fahren wollte, habe ich beim Abbiegen direkt vor meiner Wohnung einen Fahrradfahrer angefahren. Ihm ist Gott sei Dank nicht viel passiert. Trotzdem ist er zur Überwachung zunächst ins Krankenhaus eingeliefert worden.“

Jetzt klang ihre Stimme nahezu verzweifelt. Sie, die seit Jahren unentwegt darum bemüht war, ihre Mitmenschen tatkräftig zu unterstützen und ihnen stets alle in ihrer Macht stehende Hilfe zur Verfügung stellte, hatte nun selbst einem Menschen körperlichen Schaden zugefügt. Für sie musste das sicherlich ein persönliches Desaster sein.

„Bist du verletzt?“, erkundigte ich mich voller Mitgefühl. „Kann ich nicht irgendetwas für dich tun?“

„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung“, behauptete sie, aber der Klang ihrer Stimme vermittelte einen genau gegenteiligen Eindruck. „Mach dir keine Sorgen und fahr nur zu deinem Mario. Ich komme schon allein zurecht.“

Typisch Tante Sophie – wollte mal wieder keinem zur Last fallen. Wir verabschiedeten uns, aber als ich den Hörer aufgelegt hatte, war mir klar, dass ich Tante Sophie nicht einfach im Stich lassen konnte. Da konnte sie sagen, was sie wollte: Ich würde einfach zu ihrer Wohnung fahren und mir dort an Ort und Stelle ein Bild machen, ob und wie ich ihr helfen könnte.

Auf mein Klingeln hin öffnete eine nervöse und aufgeregte Tante Sophie die Tür. Der Unfall war eindeutig nicht so spurlos an ihr vorbeigegangen, wie sie vorgegeben hatte. Aber sie freute sich riesig über mein Kommen und war den Tränen der Rührung und Freude nahe. Sogleich holte sie leckere Säfte, Kekse und andere Köstlichkeiten und erklärte mir ausführlich den Unfallhergang. Verletzt war sie nicht, aber ihr Auto hatte etwas abbekommen.

„Soll ich dein Auto für dich in die Werkstatt fahren?“, erkundigte ich mich in der Hoffnung wenigstens ein wenig behilflich sein zu können.

„Das würdest du wirklich für mich tun? Das wäre wirklich lieb von dir“, antwortete sie sofort begeistert.

Gemeinsam verließen wir also ihre Wohnung und gingen zu ihrem Auto, das zwar einen deutlichen Unfallschaden aufwies, aber noch fahrbereit war. Ich setzte mich auf die Fahrerseite, um das kleine Auto zu starten, und Tante Sophie nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Als ich gerade den Zündschlüssel drehen wollte, fiel mein Blick auf das Schaltgetriebe: „Oh nein“, entfuhr es mir, „Automatikschaltung!“

Noch nie im Leben war ich vorher ein derartiges Getriebe gefahren und hatte ein ganz ungutes Gefühl, das ausgerechnet bei einem fremden Unfallwagen auszuprobieren.

“Kein Problem, liebe Julia“, meinte Tante Sophie sofort. Sie hatte wohl durch meine Anwesenheit wieder neue Zuversicht geschöpft: „Wenn ich mein Auto fahre, könntest du dann mit deinem hinterherfahren?“

Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Da war ich ja wirklich eine tolle Hilfe: Erst große Versprechungen und dann das! Tante Sophie fuhr aber ihr stählernes Sorgenkind ganz souverän in die Werkstatt, veranlasste dort das Notwendige und ließ sich anschließend von mir wieder nach Hause kutschieren.

Trotz allem war Tante Sophie wahnsinnig dankbar – einfach, dass ich spontan gekommen war, ungefragt meine Hilfe angeboten hatte und für sie da war. Dieser Tag hatte unsere Beziehung zueinander endgültig verändert. Wir hatten erkannt, dass wir uns in vielerlei Hinsicht sehr ähnelten und einander uneingeschränkt vertrauen konnten. Es war der Beginn einer wirklichen Freundschaft.

In diesem Jahr gehörten mein Mann André, Mario und ich auch erstmals zu den Auserwählten, die zu Tante Sophies Geburtstagsfeier in ein vornehmes Restaurant eingeladen worden waren. Ich empfand das als große Ehre nunmehr offenbar auch zu Tante Sophies Vertrauten zu gehören. Neben einigen nahen Verwandten, die ich natürlich auch kannte und sehr mochte, hatte sie zusätzlich noch die gesamte Familie von Pastor Stark einschließlich Kindern und Enkelkindern eingeladen, mit der sie wohl durch ihr intensives Engagement in der Kirche im Laufe der Jahre eine engere Beziehung aufgebaut hatte.

Pastor Stark war in jener Zeit in unserer Stadt eine äußerst prominente Persönlichkeit. Mit seinen mitreißenden Andachten in der Kirche scharte er die Gläubigen nur so um sich. André und ich hatten in jungen Ehejahren seinen Gottesdiensten selbst oftmals gelauscht, und die Termine häufig sogar extra so ausgewählt, dass wir seine Ansprachen hören konnten. Sie hatten in der Tat etwas Packendes und hoben sich durch Pastor Starks Wortgewalt von den gewöhnlichen Reden deutlich ab. Das war jetzt aber das erste Mal, dass ich Pastor Stark persönlich und privat kennenlernen sollte.

Wir sahen ihn schon von weitem, als er mit seiner Familie aus seinem großen, dunklen Auto ausstieg, das er dreist direkt in der Halteverbotszone der Feuerwehrzufahrt vor dem Restaurant geparkt hatte.

„Für eine so hochstehende Persönlichkeit scheinen Verkehrsregeln aber offenbar nicht zu gelten“, meinte André wütend, der sowieso schon davon genervt war, dass wir stundenlang nach einem ordnungsgemäßen Parkplatz hatten suchen müssen.

Dass sich ausgerechnet ein Mann der Kirche so gewissenlos und mutwillig über die geltenden Verkehrsregeln und Schutzvorschriften hinwegsetzte, fand ich schon etwas befremdlich. Dieser kleine Vorfall schwächte umgehend meine einstige Begeisterung über ihn erheblich ab.

Als Pastor Stark gemeinsam mit uns das Restaurant betrat, richteten sich augenblicklich alle Blicke auf ihn. Mit selbstbewusster, lauter Stimme begrüßte er die neugierig und ehrfürchtig auf ihn starrenden, anwesenden Gäste und rauschte mit festem Schritt durch die Räumlichkeiten des Restaurants in den etwas separat liegenden Raum, der für die Geburtstagfeier vorbereitet war.

Natürlich hatte Tante Sophie für ihn und seine Familie die Ehrenplätze an der Tafel vorgesehen. Schließlich war Pastor Stark ja auch eine Berühmtheit in unserer Stadt und Tante Sophie war sichtlich stolz darauf, dass diese Prominenz an ihrem Ehrentag erschienen war.

Trotzdem tat Tante Sophie mir an jenem Geburtstag irgendwie leid. Sie saß zwar am anderen Ende der Tafel zwischen Eva und Frau Stark, aber keiner von beiden unterhielt sich angeregt mit ihr. Sie schienen sich offensichtlich nicht viel zu sagen zu haben. Tante Sophie versuchte durch ein Dauerlächeln vorzugeben, dass ihr die Feier gefiele, jedoch konnte ich mir das kaum vorstellen.

War es Pastor Starks dominantes, überhebliches Verhalten, das plötzlich so eine Antipathie gegenüber seiner Person, die ich selbst noch vor kurzer Zeit bewundert hatte, bei mir auslöste? Oder war es dieses ungute Gefühl, dass er die Dinge, die er persönlich für richtig hielt, rücksichtslos über alle Köpfe hinweg durchzog?

Dem vermeintlichen Höhepunkt des Abends, einer Rede des allerorts bewunderten Pastor Stark, folgte ich daher mit großer Skepsis und mangelnder Begeisterung. Immer wieder hob er die außerordentliche Freundschaft seiner Familie zu Tante Sophie derart hervor, dass es mir fast schon ein wenig übertrieben schien. Ich muss aber gestehen, dass ich etwas voreingenommen war.

„Warum hat Tante Sophie denn ausgerechnet Familie Stark eingeladen?“, wunderte sich André, als wir wieder zurück zum Auto gingen. „Woher kennt sie die denn überhaupt so gut? Pastor Stark ist doch ein gefragter Mann in der Stadt. Da bin ich doch überrascht, dass er für Geburtstagsbesuche Zeit findet.“

„Du weißt doch, dass Tante Sophie in der Schlosskirche sehr engagiert ist und für Pastor Stark dort eine große Unterstützung ist“, versuchte ich trotz meiner eigenen Vorbehalte eine Erklärung zu finden. „Seit einigen Jahren ist sie wohl enger mit der Familie befreundet“.

„Das finde ich aber schon ein wenig eigenartig“, entgegnete André. „Eins ist aber klar: Nach dem reichen Alkoholgenuss, den sich Herr Stark heute Abend genehmigt hat, würde ich auf jeden Fall mein Auto stehen lassen“, ergänzte er und deutete in die Richtung von Herrn Stark, der gerade dabei war, sich hinter das Steuer zu setzen.

In den folgenden Jahren unternahmen wir immer wieder gemeinsame Vergnügungsfahrten mit Tante Sophie in das Umland, an denen wir alle viel Freude hatten. Ob Fahrten mit dem Floß oder Tretboot, mit der alten, schwarzen Dampflok, Ausflüge in die Heide oder in die Berge – ständig überlegten wir uns neue Unternehmungen.

So sehr Tante Sophie aber auch unser Beisammensein und unsere Ausflüge sicherlich genoss, ich hatte weiterhin den Eindruck, dass ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt Familie Stark war.

„Ich will, solange es geht, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen“, betonte sie immer wieder, und, ganz Lehrerin, bestimmte immer sie, wann sie mal wieder Zeit für ein Treffen mit uns hatte.

Es hatte daher nicht den Anschein, dass sie sich eine noch engere Beziehung zu meiner Familie gewünscht und ersehnt hätte. Immerhin hatte sie in dieser Hinsicht ja die Starks, so glaubte ich …

Das erste Mal, als ich erkannte, dass Ihre Beziehung zur Familie Stark sich verändert hatte und doch nicht mehr so intensiv war, wie ich es gedacht hatte, war ein Anruf von Tante Sophie am 30. November 2011. Spät abends klingelte plötzlich das Telefon.

Zu meiner Überraschung meldete sich eine aufgeregte Tante Sophie, die eine unerwartete Bitte an mich hatte. Es fiel ihr sehr schwer, sie überhaupt zu formulieren, und am liebsten hätte die sie auch sofort auch wieder zurückgenommen.

Aber es war ihr eine Herzensangelegenheit, also brachte sie sie auch hervor: „Liebe Julia, du hast in deiner letzten Geburtstagskarte dich wieder einmal angeboten, mir zu helfen. Ich weiß, du hast mit deinem pflegebedürftigen Sohn Mario so viel zu tun, und ich traue mich es kaum auszusprechen, aber ich wollte dich fragen, ob du für mich die Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht übernehmen würdest. Ich weiß einfach keinen anderen, dem ich so viel Vertrauen entgegen bringe, dass ich ihn fragen könnte.“

Ich war sehr überrascht. Wenn ich mit ihr durch die Stadt ging, wurde sie von unendlich vielen Leuten freundlich begrüßt, einen Termin mit ihr zu vereinbaren war stets schwierig, weil sie sich schon mit Freunden und Bekannten verabredet hatte – und unter all diesen Freunden insbesondere der Familie Stark war niemand, dem sie so sehr vertraute wie mir? Ich empfand es als Ehre, diese Aufgabe übernehmen zu dürfen und sagte deshalb mit Freude zu. Sie war sehr erleichtert, und wir verabredeten einen Termin im Laufe der Woche, um die Details gemeinsam zu besprechen und das vorgefertigte Schriftstück zu unterschreiben.

Wie besprochen klingelte ich am Donnerstag an ihrer Tür. Eine wie gewohnt fröhliche Tante Sophie öffnete sie und bat mich herein. Ich ging den langen Flur ihrer Wohnung entlang, wo sich ein Bild der Familie Stark an das andere reihte, hinein in ihr mit antiken Möbeln vornehm ausgestattetes Wohnzimmer. Auf ihrem alten Biedermeierschreibtisch stand aber auch ein nettes Foto von Mario, und ich freute mich, dass sie es aufgestellt hatte.

Sie überhäufte mich mit Keksen vom Konditor, Pralinen, Kaffee und edlen Säften und wiederholte immer wieder: „Ich bin ja so glücklich, dass du diese Aufgabe übernehmen willst, aber bist du dir wirklich sicher, dass es dir nicht zu viel wird? Da wird eine Menge Arbeit auf dich zukommen.“

Ich war froh, dass sie trotz ihrer 88 Jahre geistig noch so fit war und hatte nicht den Eindruck, dass ich bald dieses traurige Amt ausführen müsste.

Doch eine Realistin wie sie war, sprach sie die für andere Leute schwierigen und etwas peinlichen Dinge unverhohlen an: „Wenn es mir einmal schlecht geht, möchte ich auf gar keinen Fall lebensverlängernde Maßnahmen wie eine Beatmung oder eine Magensonde erhalten. Ich bin alt genug, irgendwann ist es Zeit zu gehen und der Herrgott wartet auf mich.“

Sie griff nach einem Formular, das in der Mitte des runden Wohnzimmertisches lag, und legte es mir vor die Nase. „Dies ist meine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Ich habe bereits deinen Namen und Kontaktdaten als meine Vertreterin eingefügt und schon unterschrieben. Jetzt fehlt nur noch deine Unterschrift. Danach überlasse ich eine Kopie davon bei meinem Krankenhausarzt Dr. Pohl, damit der weiß, an wen er sich gegebenenfalls wenden muss.“

Ich war mir in diesem Augenblick durchaus bewusst, welche Tragweite meine Unterschrift hatte und war sogar etwas stolz darüber, welches Vertrauen Tante Sophie mir entgegenbrachte. Gleichzeitig hatte ich aber auch ein wenig Angst vor den Entscheidungen und Aufgaben, die auf mich zukommen könnten. Würde ich überhaupt in der Lage sein, mein Amt zu gegebener Zeit ordnungsgemäß auszuführen?

Erleichtert, dass die Formalitäten nun erledigt waren, stand Tante Sophie auf, ging zu ihrem Sekretär und holte dort einen Aktenordner heraus, auf dem in einem großen Schriftzug der Name des örtlichen Beerdigungsinstituts vermerkt war. Sie zeigte mir die Unterlagen, und es war unglaublich, was sie schon im Vorfeld vereinbart und auch sogar schon bezahlt hatte. Ihre gesamten Beerdigungsfeierlichkeiten waren bis ins Kleinste geplant, ein Sarg schon ausgesucht, das passende Gewand, der Blumenschmuck auf dem Sarg, die Lieder und Texte, eine Liste samt Adressen, an die die Trauerkarten geschickt werden sollten, erstellt und selbst der ungewöhnliche Text und die Gestaltung dieser Karten sowie einer Trauerannonce waren schon abgefasst, nur das Todesdatum war noch zu ergänzen:

Meine Zeit steht in deinen Händen

(Psalm)

Sophie Reber geb. Klinke

* 14.3.1924 + ….

dankt Gott für dieses Leben hier auf Erden,

dankt für alle Freundschaft und Liebe, die sie von vielen Menschen empfangen hat

und freut sich auf ein zukünftiges Leben.

Der Gottesdienst findet am….

Ich fand diese detaillierte Planung schon ein wenig unheimlich, da ich das Gefühl hatte, als wünsche sie sich diesen Tag daher. Das passte aber so gar nicht zu ihrer scheinbar lebensfrohen Art.

Sie blätterte weiter in dem Ordner, heftete ein Schriftstück aus und legte es mir vor: „Kürzlich habe ich noch etwas geändert. Ich habe mir überlegt, dass ich mich nach meinem Tod im Krematorium verbrennen lassen will. Das ist etwas billiger, du musst daher darauf achten, dass du ca. 200 € vom Beerdigungsinstitut zurückerhältst.“

Nun war ich endgültig geschockt. Der Gedanke an eine Verbrennung und eine anschließende Urnenbestattung, bei der nur so wenig von einem geliebten Menschen übrigbleibt, gefiel mir gar nicht. Was um alles in der Welt hatte sie denn plötzlich dazu bewegt?

Ab diesem Tag trafen wir uns noch öfter. Einerseits versuchte ich für sie da zu sein, wenn sie Hilfe benötigte, andererseits wollte ich mich aber auch nicht aufdrängen, denn ich spürte, dass sie ihre Angelegenheiten noch selbstständig entscheiden und sich nicht reinreden lassen wollte.

An einem Montag im Mai 2012 klingelte jedoch plötzlich das Telefon.

Eine Krankenschwester meldete sich: „Frau Reber ist heute mit einer Lungenentzündung bei uns eingeliefert worden. Sie bittet Sie, morgen hier vorbeizukommen.“

Insgeheim hatte ich schon befürchtet, dass ein Krankenhausaufenthalt unumgänglich sein würde, da es Tante Sophie bei meinem letzten Besuch wenige Tage zuvor schon sehr schlecht gegangen war. Sie hatte nur noch mit großer Mühe atmen können, sich aber trotzdem vehement dagegen gesträubt, mit mir gemeinsam einen Arzt aufzusuchen. Ihr Zustand musste sich also in den letzten Tagen sogar noch verschlechtert haben.

Als ich am nächsten Morgen gerade das Haus auf dem Weg ins Krankenhaus verlassen wollte, klingelte wiederum das Telefon und abermals war eine Krankenschwester am anderen Ende der Leitung: „Frau Reber hat es sich überlegt – Sie möchte nun doch nicht mehr, dass Sie kommen.“

So war sie manchmal, meine liebe Tante Sophie. Heute hü – morgen hott. Vielleicht wollte sie mir aber lediglich nicht zur Last fallen.

Ich wusste jedoch von Krankenhausbesuchen in vergangenen Zeiten, dass es ihr sehr unangenehm war, sich schwach zu zeigen, und sie deshalb gar nicht richtig erfreut über unerwartete Besuche war. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich ihr vor einigen Jahren mit Blümchen bewaffnet mit meinem Krankenhausbesuch eine kleine Freude bereiten wollte und nach kurzer Zeit wieder vor der Tür stand. Es passte ihr an jenem Tag einfach nicht in den Kram.

Manchmal hatte ich en Eindruck, sie spielte ihren Mitmenschen eine Rolle vor, nämlich die eines lebensbejahenden und fröhlichen Menschen, aber tief in ihrem Inneren war sie von Zweifeln und negativen Gedanken geplagt. Das konnte ich auch häufig feststellen, wenn ich sie unvermutet angerufen habe. Dann war sie teilweise mürrisch, fast unfreundlich, wenn es ihr gerade nicht in den Kram passte, wohingegen sie ein vollständig anderer Mensch zu sein schien, wenn sie selbst den ersten Schritt eines Anrufes getan hatte.

Ich wartete also zwei Tage ab, als ich aber weiterhin keinen Anruf erhielt, beschloss ich trotzdem ins Krankenhaus zu gehen und mir persönlich ein Bild über ihren Gesundheitszustand zu machen. Ein wenig schüchtern betrat ich das Krankenzimmer und war bestürzt: Sie lag im Bett, erhielt über eine Atemhilfe zusätzlichen Sauerstoff und rang nach Luft.

Ich schluckte, ging zu ihrem Bett, nahm ihre Hand und sagte mit leiser Stimme: „Ich weiß, dass du nicht wolltest, dass ich komme, aber ich möchte dir nur sagen, dass wir alle in Gedanken bei dir sind und für dich beten. Wenn es dir recht ist, komme ich morgen ganz kurz wieder, um zu sehen, ob es dir wieder besser geht.“

Daraufhin ging ich noch einmal im Schwesternzimmer vorbei, um mich zu vergewissern, ob mein Name samt Telefonnummer für Notfälle in den Patientenunterlagen vollständig erfasst war, wie es in der Patientenverfügung schriftlich festgelegt worden war. Eigentlich war das nur eine Vorsichtsmaßnahme, da Dr. Pohl mit seiner Unterschrift unter der Patientenverfügung schon vor Monaten eigenhändig bestätigt hatte, über meine Bevollmächtigung informiert zu sein.

„Es tut mir leid“, antwortete die Krankenschwester auf meine Frage. „Bei uns liegen keine Daten für einen Ansprechpartner vor. Wenn Sie mir aber jetzt Ihre Adresse nennen, werde ich sie sogleich nachtragen.“

Da war ja etwas gründlich schiefgelaufen. Ich war wütend auf Dr. Pohl. Tante Sophie hatte immer so von ihm geschwärmt, was für ein verständnisvoller, zuverlässiger und guter Arzt er sei und jetzt, wo sie wirklich Beistand, Hilfe und Unterstützung von mir brauchte, hatte er einfach vergessen, was er zuvor in seinen Arztterminen mit ihr besprochen hatte. Die Krankenschwester war aber freundlich, und sie traf sicherlich auch keine Schuld. Ohne meinen Ärger über Dr. Pohl zu zeigen, ergänzte ich daher lediglich meine Angaben zu den gewünschten Daten und verabschiedete mich anschließend.

In den folgenden Tagen rechnete ich mit dem Schlimmsten. Jeden Tag besuchte ich sie kurz im Krankenhaus in ihrem Zimmer, um zu sehen, wie es ihr ging, und ob ich etwas für sie erledigen konnte. Keine großen Gespräche, dafür war sie zu schwach. Sie sollte sich einfach nur erholen. Wie durch ein Wunder verbesserte sich ihr Gesundheitszustand ganz langsam Tag für Tag mehr, sie wurde wieder kräftiger und gesprächiger. Nach zwei Wochen war sie nahezu genesen. Wie sehr freute sie sich, als ich plötzlich am Tag ihrer Entlassung unvermutet an ihrer Zimmertür anklopfte, um sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Sie hatte auf ihre Selbstständigkeit immer großen Wert gelegt und auch diesmal wieder geplant, sich eigenständig eine Taxe zu rufen.

„Nein, so was!“, rief sie begeistert aus, als sie mich sah. „Liebe Julia, es ist ja sooo schön, dass du mich abholst!“

Doch die schwere Krankheit hatte Kraft gekostet, das Laufen fiel ihr fortan schwerer und der Arzt verordnete ihr wegen der Sturzgefahr einen Rollator. Mit dem Gedanken an einen Rollator konnte sie sich so gar nicht anfreunden. Sie als ehemalige Sportlerin, die einst mit Leidenschaft zum Schwimmen und Rudern ging, sich zu langen Wanderungen aufmachte oder Radtouren durch die Berge unternahm, wollte keinen Rollator. Wenn überhaupt verließ sie sich auf ihre zwei Gehstöcke. Mühsam konnte ich sie dazu überreden, mit mir gemeinsam in einem Sanitätsgeschäft einen Rollator auszusuchen und einige Tage später abzuholen.

„Ich brauche ihn aber eigentlich gar nicht“, behauptete sie dennoch weiterhin. „Ich kann ihn aber bei mir in der Wohnung in den Flur stellen – für alle Fälle.“

Als er aber erst einmal in ihrer Wohnung stand und sie keiner beobachtete, benutzte sie ihn dort erstaunlicher Weise doch immer häufiger.

Ihre elegante Wohnung befand sich in einer schönen, alten Villa direkt in der Stadt, lag jedoch leider im ersten Stock. Die wenigen Stufen in die erste Etage zu erklimmen, fiel ihr zunehmend schwer, und sie verließ immer weniger ihr Zuhause. Bald befasste sie sich schweren Herzens doch mit dem Gedanken, sie aufzugeben und in ein Seniorenstift zu ziehen. Vorausschauend wie sie war, hatte sie sich bereits vor Jahren dort angemeldet und brauchte jetzt nur noch auf ein für sie geeignetes Appartement zu warten. So einfach war das jedoch nicht, da es Tante Sophies Wünschen gemäß dennoch eine gewisse Größe, einen schattigen Balkon und einen Blick über die Stadt haben sollte.

Nach mehreren erfolglosen Anläufen fand sich endlich ein hübsches, kleines Appartement, das genau Tante Sophies Vorstellungen entsprach. Wir planten die künftige Einrichtung und beauftragten ein Umzugsunternehmen, das auch das gesamte Verpacken der Einrichtungsgegenstände übernehmen sollte.

„Du hast mir schon so viel geholfen, kümmere dich jetzt lieber wieder um deine Familie“, meinte meine Tante wie immer mitfühlend. „Am Umzugstag selbst brauchst du wirklich nicht zu kommen, da hat mir das Ehepaar Stark ihre Hilfe bei dem Umzug ganz fest versprochen.“

Ich verließ mich darauf, rief am Tag vor dem großen Umzug vorsichtshalber doch noch einmal an: „Ich wollte nur noch einmal nachfragen, ob alles gut läuft, oder ob ich noch etwas helfen kann?“

„Meine Raumpflegerin hat einiges organisiert, aber leider hat das Ehepaar Stark kurzfristig in dieser Woche eine Reise nach Florenz gebucht, und konnte sie jetzt nicht mehr verschieben.“

Ich spürte sofort, dass sie ziemlich verzweifelt war und sich nur nicht getraut hatte, mich erneut um Hilfe zu bitten.

„Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich bin morgen um 7.00 Uhr da, bis das Umzugsunternehmen kommt, können wir noch alles regeln.“

Sie seufzte erleichtert über meinen Vorschlag.

Am nächsten Morgen erkannte ich den Grund ihrer Besorgnis: Absolut nichts war geplant, geräumt und organisiert – Familie Stark hatte die fast 90 – jährige einfach im Stich gelassen! Lediglich einige angebliche Freunde und Bekannte hatten die Gunst der Stunde genutzt und sich Wertgegenstände wie Elektrogeräte, wertvolles Geschirr und Gläser, edle Möbel und Teppiche usw. unter dem Vorwand, dass sie die Dinge ja künftig nicht mehr unterbringen könne, unter den Nagel gerissen.

Nunmehr in Eile versuchten wir festzulegen, welche Teile eingepackt werden sollten und welche nicht.

Etwas verwundert war ich damals schon über die plötzlich abwertenden Bemerkungen von Tante Sophie, die Familie Stark betrafen: „Was soll ich denn mit diesen Unmengen von Bildern, Fotos und Gemälden von Familie Stark anfangen? Ich habe doch überhaupt keinen Platz mehr dafür.“

Das war zwar richtig, aber es klang nicht so, als ob sie das bedauern würde. Ganz im Gegenteil erweckte Tante Sophies Verhalten zunehmend den Eindruck, dass sie den Wandschmuck von Familie Stark nicht mehr wirklich schätzte und gerne darauf verzichten wollte. Irgendetwas musste zu einem gewaltigen Bruch zwischen ihr und der ehemals angehimmelten Familie Stark geführt haben, aber, gläubig wie sie war, sprach sie niemals schlecht über andere Leute und machte höchstens Andeutungen.

Doch für ihre Verhältnisse entglitten sogar ihr schon einige negative Äußerungen, wie z.B.: „Was soll ich mit dieser pinkfarbenen Stola? Ich habe sie letzte Woche von Frau Stark geschenkt bekommen, kann sie deshalb ja nicht gleich wegschmeißen – Pack sie mal erst mal ein.“

Pünktlich um 8.00 Uhr klingelten drei stämmig gebaute Möbelpacker des Umzugsunternehmens an Tante Sophies Haustür. Wir baten sie herein und führten sie gemeinsam durch die Wohnung, um ihnen zu zeigen, welche Dinge verpackt und mitgenommen werden sollten.

Noch bevor sie einen Handschlag ausgeführt hatten, warf der kleine, dickliche Angestellte einen gierigen Blick auf Tante Sophies handgeschnitzte, edelhölzerne Truhe, die im Flur stand und fragte unumwunden: „Wenn ich das richtig verstehe, soll die da nicht mit. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich sie für mich mitnehme?“

Tante Sophie war total überrumpelt. Ich warf einen Blick auf den auffällig großen Kasten mit dem schweren, gewölbten Deckel. Nun, die Truhe war bestimmt einmal höllisch teuer gewesen, und eigentlich war sie ein wirklich schönes Stück, aber weder Tante Sophie noch ich konnten sie in unserer Wohnung unterbringen.

„Ja, dann nehmen Sie nur…“, stimmte sie dann hilflos zu. „Ich habe sowieso keinen Platz mehr dafür.“

Obwohl das stimmte, ärgerte ich mich über den Möbelpacker. Er hatte ganz dreist die Überforderung der alten Dame durch den Umzug für seine Zwecke ausgenutzt. Da es ihre eigene Wohnung war, bestand überhaupt gar keine Eile die restlichen, dort verbleibenden Möbelstücke schnell loszuwerden. Wir hätten sie in aller Ruhe verkaufen oder Freunden eine Freude damit machen können. Verärgert musste ich beobachten, wie die Männer ihr wertvolles Beutestück als allererstes in den Möbelwagen schleppten, bevor sie nur einen Finger für Tante Sophie krumm machten. Ich versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen, schließlich waren wir in den nächsten Stunden auf das Wohlwollen dieser Leute angewiesen. Was half es uns, wenn sie im Gegenzug nur „Dienst nach Vorschrift“ machten und spontan auftretenden Problemen und Aufgaben wenig flexibel gegenüber standen?

Es gelang mir, glaube ich, diesen für meine Tante großen Meilenstein ihres Lebens, den voraussichtlich letzten Umzug, doch noch halbwegs angenehm zu gestalten. Bis spät nachts räumte ich ihre letzten Umzugskartons aus, um ihr das neue Heim so schnell und schön wie möglich gemütlich einzurichten.

Sie lebte sich in ihrer Wohnung in dem Wohnstift, glaube ich, auch gut ein, zumindest hörte ich nie ein Wort des Bedauerns.

Hütet euch vor dem kriminellen Pfaffen

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