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Kapitel 7: Die verlorene Kugel

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Minka rekelte sich auf dem Bettvorleger und schnurrte, als Rike sie streichelte und Rike schlüpfte wieder in ihr Bett. Vielleicht gelang es ihr noch einmal, nach Alba, ins Land der Schneekönigin zu kommen. Es interessierte sie brennend, wer oder was sich in der Felshöhle verbarg und wo die Frau abgeblieben war, die sie auf dem Schlitten gesehen hatte. Rike grübelte und grübelte und war darüber im Handumdrehen eingeschlafen.

Als sie wach wurde, war es Mittag. Rike rieb sich die Augen. Sie hatte zwar etwas im Zusammenhang mit der Schneekönigin geträumt, doch dieser Traumfetzen ließ sich nicht mehr fassen, vor allen Dingen, seitdem sie ihm so krampfhaft nachjagte.

Ihr Atem stockte, als sie zu ihrem Nachttischchen sah. Die Tüte mit den Kaugummikugeln hing über den Rand des Nachttischchens hinunter. So hatte sie den Beutel sicher nicht abgelegt.

Mit einem Ruck saß Rike kerzengerade auf ihrem Bett, schnappte argwöhnisch nach der Tüte, kippte den Inhalt auf die Bettdecke und fing an, die Kugeln zu sortieren. Die Kugel, die sie zuletzt genommen hatte, war die Nummer 1, Weiß. Sie fand die Kugeln mit der Nummer 2 und 4 auf Anhieb. Die Kugel, die fehlte, war eindeutig die Nummer 3. Hastig griff Rike nach der Tüte und zählte die Kugeln der Reihe nach hinein. Keine weitere fehlte mehr. Doch was war mit Kugel Nummer 3 passiert?

Nebenan hörte sie Nele in ihrem Zimmer rumoren. Anscheinend war sie wieder von der Schule zurück.

Rike schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Natürlich! Nele! Dieses gemeine Biest war doch gestern schon so versessen auf das Farbenbuch gewesen. Rike hatte sich sowieso darüber gewundert, dass Nele am ersten Abend keine der Kugeln probieren wollte. Wahrscheinlich hatte sie Angst gehabt, sie könnten irgendwelche Nebenwirkungen auslösen und so hatte sie gerne Rike den Vortritt gelassen. Was wieder einmal typisch für Nele war. Und nun war sie doch neugierig geworden. Vielleicht hatte sich Nele in ihr Zimmer geschlichen, die Tüten entdeckt und die Finger nicht von den Kugeln lassen können. Schließlich war das schon immer so gewesen.

Wenn Rike etwas ausprobieren wollte, ob es nun Ballett war oder auch ein Musikinstrument, das Rike erlernen wollte, dann musste Nele unbedingt das Gleiche machen. Mit dem Ergebnis, dass die universaltalentierte Nele anschließend riesiges Lob einheimste und Rike, vergleichsweise reichlich unbegabt und deswegen eher versteckt in der hintersten Ecke stand und sich die ganzen Lobreden auf ihre herausragend, ach so reizende Schwester auch noch anhören musste.

Rikes Verdacht verhärtete sich mehr und mehr. Wo war eigentlich das Farbenbuch abgeblieben? Hatte sich Nele das auch noch geschnappt? Was wusste Nele bereits über die Geschichte der geheimnisvollen Kugeln?

Fieberhaft suchte sie das Buch neben dem Bett, unter dem Bett, auf dem Nachttischchen, im Schub und ihre Miene wurde von Sekunde zu Sekunde finsterer, denn auch das Buch war wie vom Erdboden verschluckt.

Wutentbrannt stapfte Rike zu Neles Zimmer und riss die Tür auf. Wie der Racheengel höchstpersönlich stand sie da und fixierte Nele mit grimmigem Blick.

Nele hatte gerade zu einem „Was ist los?“ angesetzt, als Rike sie anpflaumte: „Was los ist? Das traust du dich auch noch zu fragen, du gemeines Biest? Wieso schnappst du dir einfach klammheimlich eine meiner Kugeln, während ich schlafe? Du bist so fies. Wirklich. Aber das war ja schon immer so.“

Während Rike nahezu endlos ihren Dampf abließ, guckte Nele mit großen Augen und offen stehendem Mund zu ihr hin. „Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst!“, sagte Nele dann so leise und zaghaft, dass es Rike mit einem Schlag ganz schwer ums Herz wurde. Sie senkte die Augen und starrte ganz verlegen ein paar Löcher in den Boden.

Nach einer halben Ewigkeit hob sie den Kopf. Ihr Gesicht war knallrot, so peinlich war ihr der Gefühlsausbruch von eben. Am liebsten hätte sie die letzten Minuten rückgängig gemacht.

„Sag bloß, du hast das gar nicht gemacht?“

Da begann Nele leise zu schluchzen. „Wieso bist du nur so gemein zu mir? Ich habe nichts, überhaupt nichts getan. Ich weiß nicht mal, von welcher Kugel du sprichst.“

Die Sätze kamen stockend aus Neles Mund. Wie Kaugummiblasen, die die Luft schon verloren hatten, bevor sie aus dem Mund kamen und mit einem sanften Blubb zusammenfielen, statt mit einem satten, kleinen Knall zu platzen. Neles Worte reihten sich wie eine Perlenkette auf, die um Rikes Hals enger und enger wurde. Es war, als würden alle Erlebnisse, die sie mit Nele in den letzten Jahren hatte, um sie herum zu tanzen beginnen und sich zu bunten Kreisen verwandeln. Immer schneller drehten sie sich um sie und ihr wurde ganz schwindlig dabei.

Verlegen sah sie Nele an und sagte nur: „Es tut mir leid! Ich habe mich wohl geirrt.“

Doch damit gab sich Nele nicht zufrieden.

„Es tut dir leid? Du hast dich geirrt? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Wie wäre es, wenn du mir endlich verraten würdest, worum es hier eigentlich geht?“

„Ja, ich erkläre dir das irgendwann einmal, okay?“

„Nein!“, fuhr Nele hoch. Nun überschlug sich ihre Stimme. „Das ist unfair! Ich will jetzt wissen, was los ist! Du behauptest, ich hätte etwas aus deinem Zimmer genommen und dann sagst du einfach, du hättest dich geirrt. Ich will aber jetzt sofort wissen, was es mit den Kugeln auf sich hat. Seit ein paar Tagen bist du so anders - so, so seltsam. Noch viel seltsamer, als sonst.“

„Pffff.“ Rikes schlechtes Gewissen von eben war wie weggeblasen.

Zu viel Eifersucht hatte sich in den letzten Jahren aufgestaut. Zu viel Neid, zu viel Rivalität. Die kleine Schwester, die immer besser war als sie. Ob in der Schule oder zu Hause. Die fleißige, ordentliche, immer vorbildliche Nele. Die kleine Schwester, die so entzückend, so süß aussah, wie alle sagten. Gewiss reizender als Rike. Mama und Papa mochten sicher Nele auch viel lieber als Rike. Und jetzt wollte sich Nele auch noch in diese Farbenweltgeschichte einmischen. Wahrscheinlich nur, um sich hinterher als große Heldin feiern zu lassen. Wie immer. Klar. Das sah ihr ähnlich. Es war Nele durchaus zuzutrauen, dass sie sich die Kaugummikugel unter den Nagel gerissen hatte. Sicher tat sie nur so, als wüsste sie von nichts. Stattdessen wartete sie nur darauf, durch Rikes Erzählungen eine Art Gebrauchsanweisung zu bekommen. Nein! So einfach würde sie es Nele nicht machen. Diesmal wollte Rike die Heldin der Geschichte sein. Dieses Abenteuer war für Rike gemacht. Nicht für Nele. Ganz sicher nicht für Nele. Dafür würde sie schon sorgen!

Nele blies geräuschvoll ins Taschentuch und als Rike noch immer wutentbrannt zur Tür stürmte, hörte sie Nele aus dem Taschentuch schnauben: „Marie kommt heute noch vorbei und bringt dir die Hausaufgaben vorbei und das, was sie in der Schule heute durchgenommen haben.“

„Mhm“, ließ Rike noch verlauten, knallte die Türe zu und damit war dieses traurige Schauspiel fürs Erste beendet.

Als sie zurück in ihr Zimmer kam, fegte Minka gerade mit einem kleinen roten Gummiball durch den Raum, den sie geschickt mit ihren Pfoten mal links, mal rechts weiter schubste. Nun raste sie dem Ball nach, der unter Rikes Bett gerollt war. Rike blieb amüsiert vor ihrem Bett stehen und hörte dem Getöse unter dem Bett zu. Jetzt klemmte der Ball wohl hinter dem Bettpfosten und Minka kam ohne ihn wieder hervor. Rike griff nach ihr und trug sie in den Flur.

„So, kleine Miezekatze, du musst nun nach Hause, sonst gibt Oma Luise noch eine Vermisstenanzeige auf!“ Damit öffnete sie die Haustüre und ließ Minka ins Freie. Rike stutzte, als die Katze ums die Hausecke strich. Minkas Schwanzspitze war doch immer schwarz gewesen. Und nun war die Spitze ebenso weiß, wie der Rest. Rike schüttelte den Kopf. Ach was, sie hatte sich bestimmt getäuscht!“

„Du kannst ja schon wieder ganz gut laufen!“, lästerte Nele über das Treppengeländer hinweg.

„Hm“, brummte Rike gereizt. „Stell dir vor, jetzt geht es mir sogar wieder so gut, dass ich morgen wieder zur Schule gehen kann. Darüber freust du dich bestimmt, oder täusche ich mich da?“

„Ist mir doch egal“, gab Nele zurück und verschwand in ihrem Zimmer.

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