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Kapitel 9: Im Sumpf

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Rike saß an ihrem Schreibtisch und starrte ihr Hausaufgabenblatt an, als ob es sich dadurch von selbst füllen würde. Ihre Gedanken hingen schon wieder in dieser versteckten Welt, in die sie zufällig gelangt war. Mühsam rang sie sich die Konzentration ab, um nicht einen Fehler nach dem anderen zu fabrizieren und irgendwann hatte sie es tatsächlich geschafft. Bis zum Abendessen war noch ein bisschen Zeit. Sollte sie noch einen kleinen Abstecher nach Averda unternehmen? Obwohl es ihr furchtbar schwer fiel, entschied sie sich für später, in der Hoffnung, Nele würde bei Mama noch ein bisschen Fernsehzeit herausschinden und ihr somit nicht in die Quere kommen.

„Mensch, bin ich müde! Ich gehe gleich nach oben in mein Zimmer. Dann bin ich morgen wenigstens fit.“

„Kannst du denn wieder einigermaßen gut laufen?“, erkundigte sich Rikes Mutter.

„Ja, ich komme schon klar. Wahrscheinlich muss ich ein bisschen früher los, damit ich rechtzeitig dort bin, aber ich schaff das schon.“

Rike gähnte. „Gute Nacht! Schlaft gut!“

Sie hörte, dass Nele bettelte, noch ein bisschen Fernsehen zu dürfen und musste sich beherrschen, nicht in Laufschritt zu verfallen, als sie in ihr Zimmer ging.

Dort schnappte sie sich ihr Farbenbuch und die grüne Kugel aus der Tüte mit der Nummer „Zwei“ und konnte es kaum erwarten, bis es losging.

Die Farbe Grün beherrschte das Bild vor ihren Augen, aber es war nicht das Häuschen der Klaasens, das Rike sah.

Diesmal fand sie sich an einem düsteren, ungemütlichen Ort. Alles andere als vertrauenerweckend. Nebelfetzen waberten über ein sumpfiges Gebiet. Rike fröstelte unwillkürlich.

Einsame Stille umfing sie. Nur ihre schmatzenden Schritte im Schlamm, die dumpf an ihr Ohr drangen und eiskalte Schauer über ihren Rücken jagten, begleiteten sie.

Das dunkle Gestrüpp am Rande des Weges schien Augen zu haben. Warum nur tauchte sie gerade hier in diesem elenden Grünsumpf auf?

Plötzlich kam etwas Wind auf und ein leichtes Heulen strich über das Gebiet, verfing sich als Singsang in den Halmen, kletterte in die Baumkronen und entfachte in den Blättern ein schauerliches Lied, das unaufhaltsam in Rikes Ohren kroch. Rike presste die Hände an ihre Ohren, um es nicht hören zu müssen, doch es nützte nichts. Ihr Herz pochte hart und laut in ihrem Brustkorb. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, bis die Knöchelchen weiß durch die Haut schimmerten.

Kleine, grüne Knäkenten watschelten ihr so plötzlich vor die Füße, dass sie erschrocken einen Schrei losließ. Die Enten tauchten mit aufgeregtem Schnattern schnell im Wasser ab, das an dem Morast anschloss.

Dann hatten ein paar Baumlurche ihren Auftritt und quäkten durchdringend, als Rike an ihnen vorbeikam.

Rike hielt den Atem an und blieb reglos stehen, denn urplötzlich schwirrte ein heftig mit Flügeln schlagendes Etwas ganz dicht an Rikes Gesicht heran und wirbelte mit einem leisen, hellen Summen in wilden Schwüngen um sie herum. Rike schlug mit beiden Händen nach ihm und schrie so lange auf, bis ihr schlicht und einfach die Luft wegblieb.

„Dummes Kind“, wisperte das Etwas ihr ins Ohr. „Musst du so laut schreien, bis wirklich jeder mitbekommen hat, dass du hier bist?“

„Was?“ Rike blinzelte angestrengt, um zu erkennen, welches kleine Flügeltier so dicht vor ihrer Nase herumschwirrte und nun sogar in der Luft stehenblieb. Es erinnerte sie an einen dieser kleinen, ferngesteuerten Hubschrauber, die die Jungs aus ihrer Straße zum Zeitvertreib gerne über ahnungslose Spaziergänger kreiseln ließen.

Das hier war allerdings kein über Funk gelenkter Helikopter, sondern eine wunderschöne, grüne Edellibelle. Rike hatte mal gelesen, dass diese Tiere furchtbar neugierig wären und ganz nahe an etwas heranflögen, um es wirklich genau begutachten zu können. Und genau so ein Wesen wirbelte im Moment um sie herum.

„Hey, wer bist du denn?“

Rike führte oft Selbstgespräche und fiel deshalb vor Schreck beinahe um, als ihr ein helles Stimmchen antwortete.

„Ich? Ich bin Ellie. Und wer bist du?“

„Rike“, antwortete Rike knapp und starrte die Libelle entgeistert an.

Das ist absolut krass! Ich kann mit ihr reden, wie Franjo. Ich glaub‘ es nicht!

„Weißt du, was ich denke?“, meldete sich Ellie wieder zu Wort.

„Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen!“

„Dass du ganz schön verrückt sein musst, wenn du hier in diesem trostlosen Sumpfgebiet unterwegs bist. Willst du denn unbedingt eine Gruselgeschichte erleben? Mach einen einzigen falschen Schritt und schon hast du ein Moorbad für immer und ewig.“

Rike verzog ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Pah, du willst mir doch bloß Angst einjagen!“

„Das hier sind die unwegsamsten Pfade, die es in der Gegend gibt. Wer hier entlang spaziert, ist entweder nicht ganz richtig im Kopf oder ganz schön mutig“, plauderte Ellie munter weiter und bewegte ihre vier Flügel unabhängig voneinander, was nicht nur sehr unrhythmisch aussah, sondern sie auch gehörig ins Trudeln brachte.

„Ich wollte zwar schon immer mal eine Heldin sein, aber ich glaube, dass bei mir eher das Erste zutrifft“, erwiderte Rike ganz und gar nicht heldenhaft.

„Nun tu nicht so! Du weißt genauso gut wie ich, warum du hier bist“, ertönte es von Rikes rechter Schulter, auf der sich Ellie nun niedergelassen hatte.

„Ach ja? Du wirst es nicht glauben, aber ich habe keinen blassen Schimmer.“

„Keinen, was?“

„Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Oh.“ Ellie sah Rike erstaunt an. „Das ist schlecht.“

„Wieso, was weißt du darüber?“

„Alles! Libellen wissen alles.“ Ellies Stimme triefte geradezu vor Stolz.

„Okay. Dann teile dein Wissen mit mir. Warum bin ich deiner Meinung nach hier?“

„Weildudiejenigebist, diedashat, wasallehierwieverrücktsuchen. Soeinfachistdas.“

Rike hatte zwar Übung darin, schnell gesprochene Sätze zu verstehen, aber Ellie war noch eine Spur hektischer als Rikes Mutter. Sie sah Ellie fragend an.

„Wer ist verrückt und wen suchen sie?“

„Ach, herrje. Ich fang‘ lieber ganz von vorne an. Vor vielen, vielen Jahren gab es hier bei einem Bergbauunglück einen sensationellen Fund. Durch eine Explosion entstanden damals acht Edelsteine. Es hieß, der Berg hätte die Schätze freigegeben, damit die Bergleute mit den Grubenarbeiten aufhören. Jeder der acht Steine war sehr wertvoll. Sie wurden dem Herrscher unseres Landes übergeben, der sie gut bewahren sollte. Doch damit begann das ganze Dilemma.“

„Ich kann es mir denken. Jemand wollte die Steine haben und wollte den Herrscher berauben, oder so.“

„Alle Achtung! Du bist nicht mal so dumm!“

„Hey! Was soll das denn heißen?“

„Nein, jetzt lass mich bitte weiter erzählen. Also: Sogar Kriege haben sie der Steine wegen geführt. Der alte Herrscher hatte sie klugerweise so gut versteckt, dass sie bisher keiner gefunden hat. Und der neue Herrscher, der die Schätze vom alten übernommen hat, ist jetzt vermutlich tot.

„Tot?“ Rikes Stimme kiekste vor Aufregung.

„Wahrscheinlich wurde er wegen der Edelsteine ermordet.“

„Ermordet sagst du? Hat der Mörder die Steine mitgenommen?“

„Wir glauben nicht, aber wir wissen es nicht.“

„Auch nicht die über alles gut informierten Libellen?“, stichelte Rike.

Ellie funkelte sie beleidigt an.

„Dafür haben wir ja dich! Es heißt, du wärst diejenige, die nicht nur herausfindet, wohin sie Franjo Klaasen gebracht haben, sondern auch das allesumspannende Rätsel löst!“

„Ich? Ich soll das machen? Warum denn gerade ich?“

Genau in diesem Moment entdeckte Rike eine riesige Erdkröte, deren Körper mindestens so groß wie ein Fußball war und hinter einem Stein lauerte. Die Kröte glotzte Rike grimmig an und Rike kreischte laut auf.

Im nächsten Moment sah sie Mama über sich gebeugt. Daneben stand Nele.

„Was ist los, Rike? Hast du schlecht geträumt?“

„Bist du im Sitzen eingeschlafen, oder was?“

Die ersten beiden Sätze hatte Mama gesagt. Der letzte kam von Nele.

„Hm, kann sein“, antwortete Rike ausweichend. „Aber es ist alles in Ordnung. Kein Problem. Wirklich nicht.“

„Dann schlaf weiter. Aber ich würde es an deiner Stelle liegend im Bett versuchen, oder was meinst du?“ Mama grinste und gab Rike einen Gute-Nacht-Kuss.

„Die Rike hat noch keinen Schlafanzug an“, petzte Nele.

„Du auch nicht“, sagte Mama und schob Nele energisch aus dem Zimmer.

„Gute Nacht, Rike, schlaf gut!“

„Du auch, Mama, gute Nacht!“

„So, das haben wir jetzt davon“, tönte ein helles Stimmchen von der Vorhangstange herab. „Warum bist du nur so schreckhaft? Du fürchtest dich wohl vor allem und jedem. Ist ja furchtbar. Das war doch nur eine Erdkröte. Die hätte dich schon nicht gefressen. Aber gut, du musst dich wahrscheinlich erst noch an diese ekligen Gestalten gewöhnen. Wenn dir allerdings mal ein Desmodus rotundus begegnet, solltest du deine Angst besser im Griff haben.“

„Ein Desmo- was?“

Rike schüttelte verwundert den Kopf, denn Ellie flatterte nun wieder um sie herum.

„Wieso bist du jetzt hier in meinem Zimmer?“

„Ich dachte mir, es ist besser, dir noch ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Du solltest gerüstet sein, wenn du ins Gefecht ziehst.

„Ins Gefecht?“, echote Rike ungläubig. „Ich bin überzeugt davon, dass ich da keine große Rolle spielen werde. Ich bin nicht die Richtige für solche Abenteuer.“ Als sie das sagte, dachte Rike an ihre kläglichen Versuche, bei den „Räuber-und-Gendarm-Spielen“ auf dem Pausenhof eine gute Figur abzugeben.

„Wir dachten, du würdest uns helfen.“

„Wer ist wir?“

Ellie achtete gar nicht auf sie und plapperte einfach weiter. „Ich erkläre dir gerne alles, damit du weißt, worum es geht.“

Verdutzt sah Rike sich um. Wo war Ellie denn nun schon wieder? Sehr sesshaft war dieses kleine Flatterding ja nun wirklich nicht.

Inzwischen hatte sich Ellie auf der Stuhllehne niedergelassen. Nachdem sie erst mal damit beschäftigt war, ihre vier Flügel zu ordnen, konnte auch Rike etwas dazu sagen.

„Hör mal, Ellie. Ich versteh das nicht. Das letzte Mal habe ich in Averda Milla kennengelernt und die hat mir erzählt, dass ihr Bruder verschwunden ist. Als ich ihr versprochen habe, ihr bei der Suche zu helfen, habe ich nicht im Traum daran gedacht, gegen irgendwelche Domestos-Typen kämpfen zu müssen.“

„Gegen welche Domestos-Typen denn?“

„Na, das hast du doch gerade eben selbst gesagt.“

„Ich habe nicht Domestos gesagt, sondern Desmodus.“

„Und was ist ein Desmodus?“

„Das willst du ganz sicher nicht wissen.“

„Ich krieg es eh raus.“

„Vermutlich. Es ist nichts Lebensbedrohliches oder so. Nur ein bisschen eklig.“

„Ach so! – Los, sag es! Bitte.“

„Es sind kleine, harmlose Tiere. Wenn sie ihre Flügel spannen sind sie vielleicht so groß wie deine beiden Handflächen zusammen. Wir nennen sie Blutschlecker.“

„Wie beruhigend! Siehst du! Ein paar aufklärende Worte und schon freue ich mich darauf, sie kennenzulernen.“

„Rike, so lustig ist es nun auch wieder nicht.“

„Ja, Ellie, das hab ich mir fast gedacht.“

„Es tut sich so manch Ungeheuerliches in unserer Welt.“

„Oh, verdammt! Was denn noch?“

„Außer Franjo sind noch ein paar Leute verschwunden. Von einem Moment auf den anderen. Niemand weiß wohin.“

Rike sah auf ihre Fußspitzen und überlegte. „Milla hat gesagt, Franjo wollte ihr ein Geheimnis verraten. Aber er ist leider nicht mehr dazugekommen, es ihr zu erzählen. Wenn man nur wüsste, was er gesehen hat.“

Als Ellie antworten wollte, legte Rike plötzlich den Finger auf den Mund. „Pssst. Leise! Ich höre Schritte.“

„Ich muss sowieso zurück“, flüsterte Ellie. „Bis bald, Rike!“

Und damit entschwand Ellie in die kalte Novembernacht.

Die versteckte Welt

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