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Kapitel 6: Die Schneekönigin

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Rike rieb sich die Augen. Es war morgens halb sieben und Nele veranstaltete ein Riesenspektakel im Badezimmer. Nele hustete, prustete und gurgelte in einer irren Lautstärke. Außerdem knallte sie mit den Türen, dass sogar Mama aus der Küche nach oben rief: „Nele, kannst du nicht ein bisschen leiser sein? Rike schläft doch noch!“

„Ich bin leise!“

Rike vergrub sich in ihre Kissen, bis Nele endlich das Haus verlassen hatte. Nach nochmaligem Dauerklingeln, weil Nele ihren Turnbeutel zu Hause vergessen hatte, war es endlich ruhig. Nur gelegentlich hörte Rike Mama mit dem Geschirr klappern.

Fünf Minuten später stand Rikes Mutter mit einem Frühstückstablett im Zimmer.

„Guten Morgen! Ausgeschlafen? Wie geht es dir denn? Hast du Hunger? Ich hab dir Frühstück mitgebracht. Sieh mal!“

Rikes Mutter hatte die bemerkenswerte Gabe, unheimlich viel und schnell zu sprechen, ohne Luft holen zu müssen.

Rike setzte zu einem „Guten Morgen“ an, wurde aber sofort wieder unterbrochen: „Wie geht es deinem Fuß? Kannst du schon wieder auftreten?“

„Hm, keine Ahnung. Hab ich noch nicht ausprobiert.“

„Na, dann lass es dir erst mal schmecken. Das Tablett stellst du einfach neben dein Bett. Ich räume es dann später weg. Manuela kommt nämlich gleich vorbei und holt mich ab, damit ich meine Bilder in die neue Galerie bringen kann. Du weißt schon, meine erste Ausstellung dort. Am Freitagabend ist Eröffnung. Ich bin aber sicher bald zurück.“

Das allerdings bezweifelte Rike, denn Malen war Mamas Leidenschaft. Wenn sie mit ihren Bildern beschäftigt war, vergaß sie alles. „Ist schon gut. Ich komme gut alleine zurecht. Kein Problem.“

„Aber schone deinen Fuß! Alles, was warten kann, machen wir dann gemeinsam, ja? Ich bin bald wieder da. Tschüss.“

Sie eilte zur Tür, warf noch eine Kusshand zurück und verschwand.

Das klang gut. Absolut gut. So konnte sie ungestört den Automaten leeren und sogar noch mal eine der Kugeln ausprobieren.

Schon hörte sie Manuelas Klingeln und danach emsiges Treiben. Nach einigen Minuten waren alle Gemälde in Manuelas Wagen verstaut. Sie lauschte dem Geräusch des Motors nach, bis es nicht mehr zu hören war und humpelte zu dem kleinen Raum, in dem der Automat abgestellt war. Rike nahm den Griff, dachte intensiv an „Grün“, holte tief Luft und drehte ihn entschlossen nach rechts. Die erste Kugel, die heraus rollte, war weiß.

„Mist“, brummte Rike und legte sie als Nr. 1 ins Regal. Die nächste Kugel fegte aus der Öffnung. Grün. Dann eine Rote. Rike legte die Kaugummikugeln der Reihe nach ins Regal. Nach 24 Kugeln schielte trübselige Leere aus dem Kasten.

Rike beschloss, die Kaugummikugeln durchzunummerieren und machte sich auf den Weg nach unten in die Küche, um das bunte Staniolpapier zu holen, in das Mama gelegentlich selbstgemachtes Konfekt wickelte.

Rike kramte in den Schüben, bis sie es fand, schnappte sich noch einen schwarzen Markierstift, packte jede Kugeln einzeln ein und versah sie mit der jeweiligen Nummer.

Sie war etwas außer Puste, als sie wieder in ihr Zimmer kam und legte die Tüte auf ihrem Nachttischchen ab.

Die erste Kugel bekümmerte Rike etwas. Ausgerechnet Weiß. Wenn sie sich richtig erinnerte, hatte die Frau auf dem Trödelmarkt gesagt, die weißen Kugeln wären mit Vorsicht zu genießen. Und nun kam gleich zu Beginn eine von diesen Unglücksbotschaftern heraus. Aber vielleicht wollte sich die Frau ja nur wichtigmachen. Ob nun blau oder weiß, grün oder gelb, worin lag da der Unterschied? Vielleicht hatte sie sich auch nur etwas überspitzt ausgedrückt.

Rike suchte das Farbenbuch hervor und las nach: Weiß ist die Summe aller Farben. Weiß hat keinen negativen Zusammenhang. Somit ist sie die vollkommenste Farbe. Weiß symbolisiert: Licht, Glaube, das Ideale, das Gute, der Anfang, das Neue, Sauberkeit, Unschuld, Bescheidenheit, Wahrheit…

„Na also! Wer sagt’s denn! Weiß ist sogar noch besser als grün.“ Sie steckte die Kugel in den Mund, schloss die Augen und wartete ab.

Nach kurzer Zeit sah sie kleine, helle Funken, die wie Sternschnuppen aus dem Dunkel herab segelten und eine Stimme wisperte: „Willkommen in Alba, dem Land der Schneekönigin Viviana Fae Esmee und Olof, dem Düsteren. Gebt auf Euch Acht.“

Dann wurde alles Weiß. Makellos weiß.

Das Weiß formte sich erst zu Kristallen und verwandelte sich dann in eine wunderschöne Winterlandschaft. Die Bäume, der Erdboden, die Hügel lagen unter einer hohen Schneeschicht und auch die Seen waren eisig. Sogar der Himmel schien weiß zu sein. Nicht ein einziger kleiner, blauer Streifen war zu sehen. Plötzlich weiteten sich die Wolken etwas und ein winziger Sonnenstrahl stahl sich hindurch. Sofort transformierte sich die Winterlandschaft zu einer funkelnden Glitzerwelt.

Rike sah sich suchend um.

Wohin sollte sie gehen? Unerheblich in welche Himmelsrichtung sie auch blickte, es sah alles gleich aus. Von fern hörte sie Glöckchen, die sie prompt an den Weihnachtsmann und an Rentiere vor einem Schlitten erinnerten. Sie spähte angestrengt in die Richtung, aus der das Läuten kam und schon wenige Augenblicke später konnte sie einen Schlitten ausmachen, der von sechs Huskys gezogen wurde. Das kniehohe Gefährt aus hellem Holz war ringsherum mit Spiegelglas verkleidet und warf das blendende Sonnenlicht zurück, sobald es darauf fiel. Rike kniff die Augen zusammen und entdeckte eine Frau auf dem Schlitten, die einen weißen Umhang trug. Ihr langes, rotes Haar war vom Fahrtwind wild zerzaust. Rike stutzte. Diese Frau auf dem Schlitten hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau, die gestern urplötzlich auf dem Kinderwanderweg aufgetaucht war. Nein, eigentlich vielmehr noch mit Milla.

Sollte die Frau auf dem Schlitten tatsächlich die Schneekönigin sein, von der die Stimme anfangs gesprochen hatte? Rike starrte dem Schlitten nach. Entweder hatte die Frau im Schlitten Rike gar nicht gesehen, oder aber sie interessierte sich nun mal nicht die Bohne für ein fremdes Mädchen in einem roten Schlafanzug mit Pferdekopfmotiv am Wegesrand. Was wiederum auch sehr seltsam schien.

Zurück blieb nur die Schlittenspur im Schnee. Neugierig inspizierte Rike den Abdruck der Kufen, der nach der nächsten Biegung hinter einem Felsen endete.

Dort entdeckte Rike Fußspuren, die zu gigantischen Steinen führten, welche hoch aufgetürmt auf einen Eingang hinwiesen. Der Weg gabelte sich. Rike entschied sich spontan für den linken, der in die Tiefe führte.

Rike hielt die Luft an. Es roch, nein, es stank bestialisch. Als ob sich jemand wochenlang nicht gewaschen hätte und mit getrockneten Kuhfladen heizen würde.

Plötzlich hörte Rike einen Laut. Ein donnerndes Brüllen, das ihr durch Mark und Bein fuhr.

Rike zögerte keinen Augenblick, wirbelte herum, raste zurück in die glitzernde Schneewelt von Alba und schrak letztendlich in ihrem Bett hoch. Verwirrt blinzelte sie zum Wecker.

Seltsam. Es war keine Minute vergangen, seitdem sie die weiße Kugel gekaut hatte.

Außerdem war sie davon überzeugt, etwas wahrgenommen zu haben, das nicht in die Schneewelt Alba gehörte. Da! Nun hörte sie es noch einmal. Etwas scharrte an ihrer Tür. Vorsichtig öffnete sie und etwas Weißes flitzte herein und rieb sich an ihren Beinen.

„Minka! Hast du mich erschreckt! Was machst du denn hier?“

Oma Luises Katze hatte sich wohl ins Haus geschlichen, als Mama und Manuela die Bilder zum Auto gebracht hatten.

„Na, magst du eine Extraportion Hüttenkäse? Komm mal mit!“

Minka, an und für sich äußerst gefräßig, fuhr total auf Hüttenkäse ab, doch dieses Mal folgte ihr Minka beinahe widerwillig in die Küche, beschnupperte den Napf argwöhnisch, um ihn dann unangetastet stehen zu lassen und zurück in Rikes Zimmer zu flitzen.

Die versteckte Welt

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