Читать книгу Anne und die Horde - Ines Langel - Страница 11
Durch die Wand
ОглавлениеAnne hatte einen Geheimgang vermutet. Sie hatte genug Drei ??? – CD´s gehört, um ausreichend über derlei Dinge Bescheid zu wissen. Doch was jetzt geschah, hatte sie nicht erwartet. Zankintos rieb seine Hände aneinander, immer schneller, bis ein leises Zirpen zu hören war, dem einer Grille nicht unähnlich. Dann legte er seine Zauberhände auf eine beliebige Stelle der Wand. Sogleicht verflüssigte sich die berührte Stelle
„Sieht nur aus wie Wasser“, sagte Zankintos, „ist aber ganz trocken. Schnell beeil dich, hält nicht lange an.“
Anne überwand ihre Scheu und schlüpfte durch die Wand. Sie war tatsächlich nicht nass geworden. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie von ihrem Zimmer einfach in den Flur gegangen. Vom Hausflur gelangten sie unbemerkt ins Freie.
„Das ist unglaublich“, rief Anne. „Woher kannst du das?“
„Jedes Heinzelmännchen kann das.“
„Kann man das lernen?“
„Nein.“
„Woher weißt du das? Hast du schon mal versucht, es jemandem beizubringen?“
Zankintos schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Heinzelmädchen können es auch nicht.“
„Was?“ Anne war empört. Sie hatte zu oft von Swontje zu hören bekommen, dass Mädchen dümmer seien als Jungs. Und bei den Heinzeln schien diese Meinung ebenfalls vorzuherrschen. Eine Gemeinheit war das, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
„Ungerecht? Wieso ungerecht?“ Zankintos begriff die Welt nicht mehr.
Annes Augen blitzten vor Zorn. „Kapierst du das nicht? Eure Jungs dürfen durch Wände gehen. Und eure Mädchen, was dürfen die? Häkeln und malen und artig sein. Oder was?
„Nein“, sagte Zakintos ein wenig beleidigt. „Mädchen bei uns nicht häkeln. Jungs können gehen durch Wand. Mädchen bei uns können fliegen.
„Fliegen?“ Von einem Augenblick zum anderen verflog Annes Zorn. Sie war sprachlos vor Staunen.
Zankintos nickte. „Ja, klar, Mädchen bei uns haben Flügel.“
„Flügel?“
Zankintos nickte wieder. „Ja, ganz allein Mädchen. Noch keinem Heinzelmann Flügel gewachsen. Jeder hat seins. Ist doch gerecht.“
Anne nickte. Sie schämte sich etwas, weil sie so vorschnell geurteilt hatte. „Wohin gehen wir?“, fragte sie schnell.
Zankintos zeigte in Richtung Kinderspielplatz. „Dort lang.“
Sie stapften los. Zankintos lief ziemlich schnell für seine Größe. Anne konnte kaum mithalten. Hinter dem Spielplatz begann ein Wäldchen. Zankintos verschwand plötzlich im Unterholz. Anne, völlig außer Atem, konnte ihren Begleiter nirgendwo sehen.
„Zankintos!“, rief sie erschrocken. Sie bekam keine Antwort. Wieder: „Zankintos!“ Wieder keine Antwort. Wo konnte er nur sein? Eben war er noch neben ihr gewesen. Zögerlich lief sie weiter.
Was wenn er abgehauen ist?
Ihr wurde ganz schlecht bei diesem Gedanken. Wie sollte sie ins Haus zurück- kommen ohne dass ihre Eltern was mitbekamen? Und würde sie je ihren Kompass wiedersehen? Außerdem, Zankintos könnte so ein toller Freund sein, aber nicht, wenn er sie hereingelegt hatte. Dann nicht.
Anne blieb stehen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte Zankintos freigelassen. Sie hatte ihm vertraut und war mit ihm losgezogen mitten in der Nacht. Und jetzt?
Anne war drauf und dran, umzukehren, da hörte sie Zankintos Stimme.
„Anne?“
„Hier!“, rief sie. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.
Zakintos Kopf erschien im Gestrüpp.
„Wo du bleiben?“
„Du warst plötzlich weg.“
Zakintos nahm sie an die Hand. „Schnell, komm.“
Anne hatte das Gefühl, dass sie an seiner Hand viel rascher vorankam. Hinter dem Wäldchen lag ein weites Gelände, in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nur einen kleinen See glaubte Anne zu sehen. Das ganze Gelände schien eingezäunt zu sein. Dort, wo sie standen, rieb Zankintos seine Hände und legte sie auf den Maschendraht, der sogleich flüssig wurde. Zankintos zog Anne hinter sich her, und schon standen sie auf einem sehr kurz geschnittenen Rasen.
Anne blickte sich um. Sie sah ein paar Erdhügel. Es schien nicht nur diesen einen See zu geben. Buschwerk und wenige Bäume hoben sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Der helle Fleck ließ erkennen, wo sich hinter der Wolkendecke der Mond verbarg.
„Was ist das hier?“, fragte Anne.
„Ist Golfplatz“, sagte Zankintos. „Wohnen noch nicht so lange hier.“
„Ihr wohnt auf einem Golfplatz?“
Zankintos nickte. „Genug Platz, verstehst du? Und am Abend nichts los hier. Heinzel ganz ungestört. Ist schwer, Platz zu finden in Köln, um Bau zu graben. Menschen machen sich überall breit mit ihre Häuser und Parks und U-Bahnen, vertreiben Heinzel. Überall Menschengewimmel, über der Erde, unter der Erde.
„Verstehe“, nickte Anne.
„Komm, ich dir zeigen meinen Bau. Dann Kompass zurückgeben.“
Anne folgte ihm schweigend. Der dunkle Golfplatz war ihr unheimlich. Deswegen versuchte sie, so nah wie möglich bei Zankintos zu bleiben. Der Mond war inzwischen aus seinem Wolkenbett herausgekommen. Vollmond – alle Gruselgeschichten spielten unter dem Vollmond. Zankintos ging zügig vornweg. Er gruselte sich natürlich nicht, er war ja hier zuhause. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, überlegte Anne, wie das Gedicht von den Heinzelmännchen begann. Sie hatte es in der ersten Klasse auswendig lernen müssen. Anne mochte das Gedicht, und sie brauchte nicht lange, um die einzelnen Zeilen in ihrem Gedächtnis zusammenzusetzen.
Wie war zu Köln es doch vordem
Mit Heinzelmännchen so bequem
Denn, war man faul, legte man sich
Hin auf die Bank und pflegte sich
Da kamen bei Nacht
Eh man´s gedacht,
Die Männlein und schwärmte
Und klappten und lärmten
Und rupftenUnd zupften,
Und hüpften und trabtenUnd putzten und schabten...Und eh ein Faulpelz noch erwacht,War all sein Tagwerk... schon gemacht
Wie oft hatte Anne davon geträumt, ebenfalls ein Heinzelmännchen zu haben. Wäre es nicht wunderbar, jemanden zu haben, der alle Arbeiten erledigte, das Zimmer aufräumte, die Hausaufgaben machte und natürlich beim Abwaschen half?
Jetzt kannte sie einen Heinzelmann. Aber anders als im Gedicht schien Zankintos keiner zu sein, der sich als dienstbarer Geist verstand. Nicht zum ersten Mal machte Anne die Erfahrung, dass zwischen Fantasie und Wirklichkeit ein Riesenunterschied bestand.
Ohne es zu merken, war Anne stehen geblieben . Schnell rannte sie hinter Zankintos her. Der Heinzel war an einem Sandloch stehen geblieben. Plötzlich hörte Anne Stimmen.
„Horch!“, flüsterte Zankintos, „Brüder und Schwestern von mir. Schnell, verstecken“.
Verwirrt sah Anne sich um. „Wo denn? Hier ist gibt es kein Versteck.“
Es stimmte, weit und breit nur Rasen, hin und wieder ein Hügel, und hinter dem einzigen Erdbuckel in ihrer Nähe tauchten gerade zehn kleine Gestalten auf. Sie lachten und alberten herum. Dann sahen sie Anne, die wie erstarrt im hellen Mondlicht stand. Nicht minder erschrocken waren die Heinzel.
„Ein Mensch!“, schrie einer entsetzt.
„Verstecken!“, schrie ein anderer.
„Zu spät“, rief ein dritter. „Hat uns schon gesehen.“
„Keine Angst“, rief da Zankintos. „Ist doch bloß Anne, tut uns nichts.“
Plötzlich brach ein heilloses Durcheinander aus. Alle schrieen gleichzeitig. Einer lief aus der Gruppe heraus, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Zucker!“, brüllte er. Und immer wieder „Zucker!“
„Nicht“, rief Zankintos, „nicht rufen. Nicht Angst haben. Will Anne nur den Kompass zurückgeben.“
Doch es war zu spät. Schon liefen weitere Heinzelmännchen und –mädchen herbei. Im Nu war der vermeintliche Eindringling umringt. Anne schlotterte vor Angst. Zankintos nahm ihre Hand. Die Horde war außer sich. Alle redeten durcheinander. Verzweifelt versuchte Zankintos, über den Tumult hinweg zu erklären, wer Anne war und was sie hier wollte.
„Ruhe!“, rief da eine energische dunkle Stimme. Alle verstummten.
Anne drehte sich unwillkürlich um. Auf dem Hügel, von dem die ersten Heinzel gekommen waren, stand ein Grüppchen weiterer Heinzel. In deren Mitte, gestützt von diesen, stand ein uraltes Heinzelmännchen.
„ Zucker“, flüsterte Zankintos ehrfurchtsvoll und ängstlich zugleich.
Anne starrte Zucker entgeistert an, und Zucker musterte sie. Ihre Blicke trafen sich. Anne hatte mit Ablehnung oder sogar Wut im Blick des Anführers gerechnet. Doch sie sah nur Traurigkeit.
„Zucker“, rief ein Heinzelmädchen, das in Annes Nähe stand, „was wir mit ihr machen sollen?“
„Sie unser Versteck verraten wird!“, rief ein Heinzelmännchen.
„Nein, wird sie nicht!“, rief Zankintos, doch niemand beachtete ihn.
„Wir nehmen sie mit“, sagte Zucker . „Wir nehmen sie mit und halten sie fest, bis wir einen neuen Bau haben. Wenn sie nicht weiß, wo wir hingehen, dann kann sie uns nicht verraten.“
Die Menge stöhnte.
„Schon wieder Umzug?“, fragte jemand, den Anne nicht sehen konnte.
Zucker nickte traurig. „Was bleibt uns anderes übrig?“
Anne wollte die Horde beruhigen, doch sie kam nicht dazu. Schon wurde sie von den umstehenden Heinzelmännchen gepackt, hochgehoben und weggetragen. Sie schrie protestierend, doch das half ihr nicht. Wie ein Gepäckstück wurde sie in den Bau der Horde verschleppt.