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Leben als Hexe

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Eine Hexe zu werden war wesentlich einfacher als eine Hexe zu sein. Anne fing an, sich daran zu gewöhnen, dass sie zwar immer noch ein ganz normales Mädchen war und doch eine andere sein sollte. Manchmal fragte sie sich, worin ihr Anderssein denn nun eigentlich bestand. Es bestand jedenfalls nicht darin, sofort über magische Fähigkeiten zu verfügen, also hexen zu können. Zum Beispiel konnte sie ihren Bruder nicht in einen Frosch verwandeln, wie sie anfangs gehofft hatte.

Mürrisch warf sie Swontje einen Blick über den Esstisch zu. Mama hatte Bratkartoffeln und gebackenen Fisch auf den Tisch gebracht. Die ganze Familie Kolbe saß einträchtig beieinander und genoss das letzte gemeinsame Mittagessen, bevor Papa nach seinem Urlaub wieder arbeiten gehen musste. Swontje erzählte von den Arbeitsgemeinschaften, die er in seiner neuen Schule belegen wollte. Die Eltern hörten wohlgefällig zu.

„Du solltest auf jeden Fall den Programmierkurs belegen“, sagte Papa gerade. „Ohne Computer geht heute gar nichts mehr.“

Missmutig stach Anne mit der Gabel auf die Kartoffelscheiben ein. Eigentlich liebte sie Bratkartoffeln, doch das Geschwätz über Swontje und seine neue Schule ging ihr auf die Nerven. Sie hatte andere Dinge im Kopf. Am liebsten wäre sie allein gewesen, um in Ruhe über alles nachdenken zu können, zum Beispiel darüber, wie sie eine andere Hexe finden sollte. Denn nur mit Hilfe eines anderen magisch befähigten Wesens konnte es ihr gelingen, ihre eigenen Hexenfähigkeiten zu entfalten. Anne schob sich ein großes Stück Fisch in den Mund.

„Willst du noch was Senfsoße?“, fragte Mama sie.

Anne schüttelte den Kopf.

„Es gibt auch eine Schulband“, sagte Swontje. „Da könnte ich vielleicht mit meinem Keyboard einsteigen.“

Mama zuckte zusammen. „Meinst du, dass du das alles neben deinen Hausaufgaben schaffst?“

Einen Augenblick hörte Anne zu. Sie musste grinsen, weil sie wusste, wie sehr Mama litt, wenn Swontje auf seinem Keybord und ihren Nerven spielte.

„Mama hat recht“, sagte Papa, „warte erst mal ab. Du musst dir nicht gleich so viel aufladen.“

Anne überließ sich wieder ihren eigenen Gedanken. Leider hatte ihr Zucker auch nicht sagen können, wo sie eine andere Hexe fand, um sich Rat und Hilfe zu holen. Einiges wusste sie ja schon. Sie wusste, dass Hexen über eigene magische Begabungen verfügen, jede auf ihre Weise. Jede Hexe muss herausfinden, wo ihre eigene Begabung liegt und lernen, diese anzuwenden. Und auch das wusste Anne: Jedes magische Wesen muss sich hüten, einem Magus in die Fänge zu fallen. Diese Magi geben keine Ruhe, bis sie herausbekommen haben, wie sie einer Hexe oder einem anderen magischen Wesen die Kräfte aussaugen können. Ihr Wissen darüber halten sie in geheimen Büchern fest. Und in Geheimbünden oder auf Alchemistentreffen tauschen sie ihre dunklen Gedanken und bösen Absichten aus. Man müsste an ihre Bücher rankommen und diese zerstören, dann wäre ihr Wissen darüber, wie man magische Kräfte absorbiert, ein für allemal vernichtet. Leider halten sie ihre Geheimbücher sorgfältig versteckt – vielleicht in einem Buchladen unter tausend anderen Büchern. Als Anne an Merymend dachte, bekam sie einen gewaltigen Schreck. Sie musste auf der Hut sein. Hatte dieser Finsterling nicht längst gerochen, dass sie eine Hexe war? Was würde er mit ihr anstellen, wenn sie ihm in die Hände fiel? Würde er mit ihr Experimente machen wie früher die Alchemisten?

„Papa?“, sagte sie plötzlich.

Papa sah zu ihr herüber. „Ja, Schatz?“

„Du bist doch Chemiker.“

„Interessierst du dich neuerdings für meinen Beruf?“

„Nicht für deinen. Für den deiner Vorgänger. Die Alchemisten waren doch deine Vorgänger.“

„Ja, kann man sagen.“

„Was weißt du von Alchemisten?“

„Na ja“, sagte Papa. „Alchemisten waren früher gelehrte Männer. Sie taten etwas ganz ähnliches wie wir Chemiker heute. Sie mischten verschiedene Dinge ineinander oder trennten sie voneinander.“

„Und warum machten sie das?“

Papa überlegte einen Augenblick. „Das kommt ganz darauf an. Im Mittelalter kam man zu der Erkenntnis, dass Stoffe miteinander reagieren und zu etwas anderem werden können. Das war ein recht neuer Gedanke. Die Alchemisten dachten, dass nun alles möglich sei. So dachten sie beispielsweise, dass sich Blei in Gold verwandeln lässt oder dass sich eine Medizin herstellen lässt, die ewiges Leben ermöglicht.“

Anne tippte sich an die Stirn. „Das ist doch Blödsinn.“

„Richtig“, sagte Papa. „Wir beide wissen das. Doch damals war es eine beunruhigende Erfahrung, dass sich ein und dieselbe Sache verwandeln kann, zum Beispiel Wasser.“

„Wasser? Wieso kann sich Wasser verwandeln?“

„Ja, überleg mal. Was wird aus Wasser, wenn es gefriert?“

„Eis.“

„Und wenn man es erhitzt?“

„Dampf.“

„Siehst du, Wasser kann sich aus seinem flüssigen Ausgangszustand in zwei weitere Zustände verwandeln, Eis und Dampf. Als sich die klugen Köpfe solche Verwandlungen bewusst machten, waren sie ganz aus dem Häuschen und begannen eifrig zu experimentieren. Vorher hatten die Menschen geglaubt, dass jedes Ding eine unveränderliche Gestalt hat, weil Gott das so will. Jetzt fanden sie heraus, dass sie in die Natur eingreifen und die Dinge verändern konnten. Sie mussten sie nur mit anderen Dingen verbinden oder erhitzen.“

Anne verstand, was ihr Vater meinte. „Dann glaubten die Alchemisten also, man muss nur das richtige Rezept finden, damit sich Blei in Gold verwandelt.“

„Richtig“, sagte Papa erfreut. „Du bist wirklich ein kluges Kind.“

„Chemie könnte ich auch belegen“, meldete sich Swontje.

Anne warf ihm einen vernichtenden Blick zu, doch ihr Bruder bemerkte es nicht.

„Chemie steht doch bereits auf deinem Stundenplan“, sagte Mama.

„Man kann aber einen Extrakurs belegen“, sagte Swontje und schon hatte er wieder die volle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

Anne stocherte in ihrem Essen und überlegte. Eigentlich waren die Alchemisten doch ganz harmlos gewesen. Aber nicht alle. Einige waren auf Abwege geraten. Das waren die Magi. Sie wollten durch Zauberkräfte erreichen, was sich bei ihren Experimenten im Labor nicht erreichen ließ, zum Beispiel Gold oder ewiges Leben. Und wie kamen sie zu Zauberkräften? Über dieser Frage hatten sie geforscht und geforscht. Und endlich hatten sie es herausgefunden: indem sie zauberkräftige Wesen bannten und aussaugten, um deren Magie zu absorbieren. Und weil die Magie bei ihnen nicht lange anhielt, mussten sie immer neue Wesen aussaugen. Nur so konnten sie unsterblich bleiben.

Plötzlich war Anne alles klar. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass Merymend dringend einen Magieschub brauchte und deshalb auf der Suche nach einem neuen Opfer war. Kein Zweifel, Merymend war zu allem entschlossen. Sie musste auf der Hut sein.

Anne und die Horde

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