Читать книгу Anne und die Horde - Ines Langel - Страница 16

Hexenkerker

Оглавление

Penelope dachte nach. Ihren Körper konnte sie nicht bewegen, umso mehr ihren Geist. Sie konnte sich täuschen, doch sie glaubte, dass dieses Mädchen sie angesehen hatte – nicht wie andere Menschen es taten, die sahen nur den Stein. Doch dieses Kind hatte noch etwas anders gesehen. Vielleicht die Frau in dem Stein?

Penelope hatte Hoffnung. Das Mädchen würde wiederkommen und beim nächsten Mal vielleicht noch genauer hinsehen. Seitdem Rasmus sie gefangen hielt, war sie nicht mehr so zuversichtlich gewesen. Wie lange war das her? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Doch es musste sehr viel Zeit vergangen sein, seitdem der Magus sie zu Stein gemacht hatte. Die Welt hatte sich verändert. Aus Pferdekutschen waren Motorkutschen geworden, die Frauen trugen Hosen und manche Männer Röcke. Der Staub war von den Straßen verschwunden, dafür war er nun in der Luft. Während die Welt sich veränderte, war Penelope zum stillen Zuschauen verdammt. Doch in der letzten Zeit war sie oft abwesend, wie in einem traumwandlerischen Zustand. Erst das Mädchen hatte sie zurückgeholt an diesen furchtbaren Ort, ihr Gefängnis.

Oh, was war das für eine Nacht gewesen. Sie erinnerte sich mit Grausen an ihre Einkerkerung. Ihr Körper hatte nicht mehr ihr gehört. Sie lag am Fuße der großen Treppe und konnte sich nicht bewegen, doch sehen konnte sie. Sie starrte an die Decke aus rosarotem Gewebe, durchfurcht von dunkelroten und blauen Adern. Nicht nur an der Decke war dieses Gewebe, auch auf dem Boden, an den Wänden, selbst die Regale und Schränke waren mit diesem Stoff ausgelegt. Oh, und was dort in den Regalen stand, ließ das Blut in den Adern gerinnen. Sie würde es nie vergessen können. Der Anblick hatte sich in ihre Netzhaut gebrannt, unauslöschbar: Leichen, überall Leichen, Plastinate, umgeben von einer konservierenden Flüssigkeit in luftdichten Behältern. Und schon hörte sie Fußtritte auf der Treppe.

Er kommt, um mich zu holen. Ich bin ein neues Stück seiner Sammlung. Bald schwimme ich in diesen Behältern.

Die Treppe war lang, doch Rasmus war schnell. Sie wusste, dass er jeden Augenblick bei ihr sein musste. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut drang über ihre wächsernen Lippen. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch Arme, Beine, Rückgrad lagen schwer, kalt und leblos auf dem Boden. Nur ihre Augen bewegten sich. Sie versuchte Kontakt mit den Elementen aufzunehmen, doch auch das gelang nicht.

Ich werde hier sterben.

Schon hatte Rasmus das Ende der Treppe erreicht.

„Ah, Herzchen, da bist du ja. Wie töricht von mir, wo solltest du auch hingehen? Wusste ich doch, dass mein neues Mittelchen dich anästhesiert.“

Sie versuchte, einen Zauber zu erwirken. Angestrengt bemühte sie sich, die Lippen zu spreizen. Rasmus lachte böse.

„Aber Herzchen, versteh doch. Kein Zauber wird dir über die Lippen kommen. Ich habe Macht über dich – kein Gold, aber Macht. Was interessiert mich der Alchimistentraum, Blei oder Erde in Gold zu verwandeln. Ich will kein Gold. Ich will dich. Ich will deine Zauberkraft. Du hast es dir doch überlegt, Herzchen? Du gibst mir doch deine Zauberkraft? Ach, du willst nicht? Mein armes Herzchen, das tut mir jetzt leid, aufrichtig leid. Ich werde dir wehtun müssen. Ja, ich werde dich foltern müssen. Schlimm, schlimm.“

Rasmus ließ erneut sein böses Lachen erschallen.

„Aber wie? Wie dir am besten wehtun? Ich habe da einen glänzenden Einfall. Fleisch werde zu Stein! Wie findest du das, mein Herzchen? Dein süßes, junges, atmendes Fleisch verwandelt sich in einen kalten, stummen Stein. Oder kann ein Stein sprechen? Kann ein versteinertes Hexlein sprechen? Na, siehst du, jetzt hast du begriffen. Eine Hexe, die nicht sprechen kann, ist eine Hexe, die nicht zaubern kann.“

Diesmal lachte Rasmus so böse, dass Penelope zusammengezuckt wäre, hätte sie sich bewegen können. Unbeschreibliches Grauen erfasste sie. Sie wusste, dass Rasmus Recht hatte. Sie in Stein zu verwandeln, war die größte Folter, die er ihr antun konnte.

„Ich sehe dich schon als überaus kunstfertige Statue an meinem Haus. Da kannst du zusehen, wie die Welt sich bewegt und verändert. Du kannst den schönen Mädchen und den herausgeputzten Buben hinterher sehen, wie sie zum Tanz gehen oder zur Kirmes. Aber du darfst nicht mitgehen. Du kannst der Postkutsche hinterher starren. Aber du wirst niemals drinsitzen und in die große weite Welt verreisen. Und wer weiß, vielleicht kommt die Zeit, da brauchen die Kutschen keine Pferde mehr. Da fahren sie von selbst. Du wirst es sehen. Du wirst sehen, wie sich die Welt verändert. Aber erleben wirst du es nicht. Nur sehen – sehen, was dir entgeht, während ich warte. Du weißt, ich habe Zeit, eine Ewigkeit Zeit. Was machen mir ein paar Jahrhunderte aus? Die Zeit ist auf meiner Seite. Aber dir rennt sie davon, weil du sie nicht nutzen kannst. Das hältst du nicht ewig aus. Glaub mir, mein Herzchen, es kommt der Tag, da wirst du mich anbetteln, dass du mir deine Zauberkraft schenken darfst, damit du erlöst bist aus deiner Versteinerung. Ich warte darauf. Ich warte, mein Herzchen. Ich warte. Ich warte….“

Penelope fühlte eine bleierne Müdigkeit. Die Stimme von Rasmus entfernte sich immer mehr. Die Starre hatte bereits ihren ganzen Körper ergriffen. Sie konnte nichts mehr für sich tun und auch nichts für ihren Zirkel. Ohnehin wusste sie nicht, ob irgendeine ihrer Schwestern und Brüder überlebt hatte.

Alles meine Schuld! Ich törichtes Ding!

Tränen rollten über Penelopes Wangen. Sie fühlte es schon nicht mehr. Ein dummes kleines Herz schlug in ihrer Brust, ein gutgläubiges, einfältiges Herz. Wie hatte sie dieses Scheusal nur lieben können? Sie musste andere Hexen vor ihm warnen. Sie musste dafür sorgen, dass keine Hexe mehr auf dieses Monster hereinfiel. Sie konzentrierte sich, sog ihre letzte Kraft in die Augen, und als ihr so heiß wurde, dass sie es nicht mehr aushielt, schoss eine geballte Ladung magischer Energie aus ihr heraus.

Rasmus Merymend zuckte zurück. „Was hast du getan?“, schrie er.

Doch sie konnte ihn kaum noch hören. Dieser letzte Funken Magie hatte sie alle Kraft gekostet.

Du Miststück! Was hast du getan?“

Penelope fühlte eine tiefe Befriedigung, als sie zurückdachte an diese letzte verzweifelte Auflehnung gegen den abgrundbösen jungen Magus. Ja, so war es gewesen. Mit letzter Kraft hatte sie dafür gesorgt, dass keine Hexe jemals mehr diesem Scheusal vertraute, damals so wenig wie heute. Von dieser Genugtuung hatte sie gelebt. Diese Genugtuung hatte ihr geholfen, die Jahrhunderte zu überdauern. Von dieser Genugtuung waren alle anderen Gefühle überlagert worden, ihr Hass, ihre Verzweiflung, ihre Ausgeschlossenheit, ihre Langeweile. Ja, mit der Zeit war Ruhe in ihrer Seele eingekehrt. Ruhe? Täuschte sie sich nicht? Sie hatte das Warten verlernt. Aber seit ein paar Tagen wartete sie wieder. Sie wartete voller Ungeduld. Sie wartete auf das Mädchen mit den rotgoldenen Haaren und mit dem wissenden Blick, der ihr wie der einer Schwester erschien.

Anne und die Horde

Подняться наверх