Читать книгу Anne und die Horde - Ines Langel - Страница 15
Lodernde Scheiterhaufen
Оглавление„Es geht nicht“, sagte Anne. „Ich kann nicht hierbleiben. Was sollen meine Eltern
denken? Wenn die merken, dass ich verschwunden bin, werden sie verrückt vor Angst und verständigen die Polizei.“
Anne saß mit Zucker in dessen Bau. Der alte Heinzel verschwand fast in einem großen roten Ohrensessel, der an den Kanten und Ecken stark abgenutzt war. Der kleine Raum wurde durch mehrere Kerzen beleuchtet. Einige Dinge traten im Halbdunkel nur schemenhaft hervor. Anne glaubte, im hinteren Bereich des Baus eine Wiege zu erkennen. Ob Zucker wohl darin schlief? Anne selbst saß auf einem weichgefülltem Sack. Sie versank geradezu darin.
Zucker räusperte sich. „Ich verstehe, dass du nach Hause willst, Anne. Aber woher sollen wir wissen, dass wir dir vertrauen können? Als ältestes Heinzelmännchen muss ich dir sagen, dass wir nicht gerade gute Erfahrungen mit Menschen gemacht haben“.
„Das verstehe ich ja“, antwortete Anne. „Alles nur wegen der neugierigen Schneidersfrau, die Erbsen gestreut hat, auf denen ihr ausgerutscht seid. So war es doch?“
„Ach“, Zucker winkte ab, „Geschichten. Die Menschen denken sich viel über uns aus. Mit der Wahrheit hat das nicht mehr viel zu tun.“
„Was ist denn die Wahrheit über euch?“, fragte Anne.
Zucker sah in die Ferne und schwieg. Anne wartete geduldig. Sie betrachtete das Gesicht des alten Heinzelmännchens. Sein Fell mochte einst rot gewesen sein, doch im Laufe der Zeit war es fast vollständig grau geworden. Die grünen Augen waren wach und klug. Zwei dicke Augenbrauen betonten das noch. Die Nase war klein und rund. Um den Mund befanden sich tiefe Furchen.
Er sieht lieb aus, dachte Anne.
„Nun, Anne, ich sollte dir das nicht erzählen.“
Anne blickte Zucker enttäuscht an. „Warum denn nicht?“
„Du weißt ohnehin schon zu viel.“
Anne überlegte kurz. Dann sagte sie. „Das wäre gerade ein Grund, mir den Rest zu erzählen“.
Zucker sah sie überrascht an.
„Magus, Heinzel, Dämonen, Bannkreise…Das meiste weiß ich schon. Da wäre es doch dumm, mir den Rest zu verschweigen“.
„Nun ja…“, begann Zucker. Doch Anne unterbrach ihn.
„Mal ganz davon abgesehen, dass mir kein Erwachsener diese Geschichte glauben würde“.
„Ich weiß, ich weiß“, fuhr Zucker fort. Aber Anne unterbrach ihn erneut.
„Und außerdem wollte ich gar nicht in diese Sache hineingezogen werden. Zankintos ist bei mir eingedrungen und hat meinen Kompass geklaut“.
„Das war nicht richtig von ihm…“
„Und dann deine Frage, warum der Zauber des Magus auf meine Mama wirkt, aber nicht auf mich“.
„Schon gut, schon gut.“ Zucker hob beschwichtigend die Hände. „Du hast gewonnen. Fangen wir dort an, wo alles begonnen hat.“
„Bei der Schneidersfrau?“
„Nein, noch früher. Ursprünglich waren wir Heinzel sehr naturverbunden. Damals hat es Köln noch nicht gegeben. Doch wir lebten bereits an der Stelle, wo später die Stadt entstehen sollte. Nur ein paar Menschen, Angehörige eines Germanenstammes, lebten außer uns dort. Auch sie waren naturverbunden. Sie wussten viel über Magie. Sie wussten auch von uns, obwohl wir unter der Erde wohnten und jede Berührung mit ihnen vermieden. Du weißt ja, wir sind ein scheues Volk. Aber sie mochten uns und dachten sich die schönsten Geschichten über uns aus, genau wie die Menschen in späteren Zeiten. Wir gehörten zu ihren Mythen.
Die Germanen stritten sich häufig über Wohngebiete, Wasserquellen, Jagdgründe und führten deshalb Kriege untereinander. Ein kleiner Stamm konnte dabei wenig ausrichten. Deshalb schlossen sich kleine Stämme zu großen zusammen, was nur dazu führte, dass auch das Blutvergießen größer wurde. Es war eine unruhige Zeit. Für die größte Unruhe aber sorgten die Römer, die mit ihren Legionen immer weiter nach Norden vordrangen und germanische Stammgebiete in römische Provinzen verwandelten“.
„Ich weiß schon“, warf Anne ein. „Mit den Römern hat alles in Köln begonnen“.
„Stimmt, und wir Heinzel waren mittendrin. Dort, wo die Römer Köln gründeten, war unser Zuhause. Und wir waren nicht bereit, unsere Heimat aufzugeben, egal, ob dort Germanen oder Römer lebten. Natürlich hat sich unser Leben sehr verändert. Es wurde gebaut und gebaut. Aus einem kleinen Siedlungsgebiet wurde eine Riesenstadt. Du kannst dir denken, was das für uns bedeutete. Je mehr Menschen kamen, desto weniger Platz hatten wir für uns. Doch Heinzel sind anpassungsfähig. Wir sind mit der Zeit gegangen und haben durch die Jahrhunderte den Sprung vom Naturvolk zu Großstadtbewohnern geschafft. Wir haben gelernt, schlau und listig vorzugehen. Und dabei, nun ja, wie soll ich sagen, dabei ist uns so eine Art Handel eingefallen.“
„Handel?“, fragte Anne verständnislos, „habt ihr mit Menschen Geschäfte gemacht?“
„Ja, man kann es so nennen. Wir haben uns Dinge genommen, die uns nicht gehörten, an allererster Stelle Lebensmittel, aber auch Stoffe, Werkzeug und Einrichtungsgegenstände. Dafür bekamen die Menschen auch was. Wir haben mit harter Arbeit bezahlt.“
„Und die Menschen haben euch nicht verflucht?“
„Nein, sie bekamen doch was. Mit unseren Fähigkeiten konnten wir die Arbeit der Menschen doppelt so schnell erledigen, wie sie es selber vermochten. Die Menschen waren froh, dass wir da waren. Wir verhalfen Köln zu Reichtum und Ansehen. Die Römer und Germanen, die dort wohnten, wussten das zu schätzen und auch noch deren Nachkommen. Glaub mir, den Kölnern ging es gut.“
„Haben sich die Kölner nicht gefragt, wer da ihre Arbeit erledigt hat?“, erkundigte sich Anne.
„Nun, sie wussten es ja. Zumindest die erste Zeit noch.“
„Das verstehe ich nicht.“ Anne runzelte die Stirn. „Ihr habt das doch heimlich gemacht?“
„Nun“, sagte Zucker „wie ich schon sagte, die Germanen wussten von uns, auch wenn wir nur heimlich auftraten. Um an uns zu glauben, mussten sie uns nicht mit ihren Augen sehen. Wir waren Teil ihres magischen Glaubens. Die Römer haben einige Ideen und Bräuche der Germanen übernommen. Und was diese ersten Kölner über uns wussten, das haben sie an ihre Kinder weitergegeben. Und so lebten die Heinzel-Geschichten fort, von einer Generation zur anderen.“
„Doch heute weiß keiner mehr was über euch“.
„Ganz so ist es nicht. Auch heute noch kennen Menschen die alten Geschichten, wie dieses hübsche kleine Gedicht beweist. Allerdings kennen sie nicht mehr die ganze Wahrheit.“
Anne überlegte angestrengt. Dabei drehte sie ihre langen Haare zwischen den Fingern, eine Angewohnheit, die sich nur dann zeigte, wenn Anne sehr konzentriert war.
„Du darfst nicht vergessen“, fuhr Zucker fort, erst mal ist sehr viel Zeit vergangen. Und dann kamen verschiedene äußere Umstände hinzu, so die Vermischung mit weiteren Kulturkreisen, einige Kriege und die Inquisition.“
Das Wort Inquisition hatte Anne noch nie gehört. Doch die Art, wie Zucker es aussprach, sagte ihr, dass es etwas sehr Schlimmes sein musste. Der alte Heinzelmann blickte versonnen ins Weite. Nach einer Weile nickte er leicht, so als wollte er sich seine Gedanken bestätigen.
„Ja, die Inquisition. Da hat die Kirche große Schuld auf sich geladen. Diese furchtbare Jagt auf magische Wesen hat alles verändert. Es war grausam, Anne. Im Namen Gottes wurden Tausende von Menschen, vor allem unschuldige Frauen, auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
„Warum?“, fragte Anne betroffen.
„Man warf ihnen vor, Hexen und Zauberer zu sein, besessen von Dämonen. Doch die Menschen, die im Feuer starben, waren keine Magi und Dämonenbesessenen. Sie besaßen nur eine Begabung, die andere nicht hatten. Das furchtbare Morden führte dazu, dass kein Mensch mehr mit Magie in Verbindung gebracht werden wollte. Die Angst hielt alle in ihrem Bann. Wir Heinzel haben uns damals tief in die Erde zurückgezogen. Und es dauerte nicht lange, da lebten wir nur noch in der Fantasie der Menschen.“
Anne lehnte sich zurück und sah gedankenverloren in die Ferne. Bilder von großen Scheiterhaufen loderten in ihrem Kopf.
„Vielleicht bist du selbst ein magisch begabtes Wesen“, sagte Zucker in die Stille hinein. „Das würde erklären, warum der Zauber des Magus auf deine Mama, aber nicht auf dich wirkt. Als Hexe bist du immun.“
„Hexe?“ Anne fuhr hoch. „Ich bin doch keine Hexe“.
Zucker nahm ihre Hand ganz sacht in seine. „Siehst du, Anne, auch du kennst nur noch die Hälfte der Wahrheit. Auch dir haben die Scheiterhaufen Lügen in den Kopf gebrannt. Die Hexen sind ganz und gar nicht so, wie sie in den Märchen beschrieben werden. Sie sind keine alten Frauen mit Warzen, die sich mit dem Teufel eingelassen haben, Kinder fressen und nackt um ein Feuer tanzen.“
„Was sind sie dann?“
Zucker dachte nach, dann antwortete er: „Frauen, die im Mittelalter als Hexen bezeichnet und von Männern deshalb verfolgt wurden, waren in Wahrheit kluge, besondere Frauen, die viel von den Elementen und den Kräften der Natur verstanden und auch von geheimen Dingen, zu denen normale Menschen keinen Zugang haben. Sie waren verschwiegen und mussten es sein. Denn die Geheimnisse, die sie hüteten, wären ja sonst keine gewesen.“
Anne überlegte. Dabei sah sie Zucker fragend an. “Aber was hat das mit mir zu tun?
„Frag nicht, Anne“, sagte Zucker. „Für heute soll es genug sein. Es hat keinen Zweck, darüber zu reden, bevor wir dich nicht getestet haben.“
„Testen? Wie meinst du das?“
„Du wirst es morgen erfahren, morgen Nacht“. Zucker ließ ihre Hand los und lehnte sich zurück. „Und jetzt wird Zankintos dich nach Hause bringen.“
„Ich darf gehen?“, fragte Anne überrascht?
„Gewiss“, sagte der Heinzel. „Du bist nicht unsere Gefangene. Du bist unser Gast.“
„Eine Frage habe ich noch“, sagte Anne. „Sind Hexen nur mit Pflanzen verbunden oder auch mit den Tieren?“
Zucker sah sie lächelnd an. „Sicher mit beiden. Warum fragst du?“
„Du darfst aber nicht lachen“, sagte Anne. „Versprichst du das?“
Zucker nickte amüsiert. Er hob die Hand wie zum Schwur und sagte: „Ich verspreche es“.
„Mein größter Traum ist es, mit Tieren reden zu können. Ob Hexen sowas können?“
Der Heinzel nahm wieder Annes Hand. „Ich weiß es nicht. Doch wenn es ein Wesen gibt, das dazu fähig ist, dann sicherlich eine Hexe.“