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Leiterplatte

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Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder. Dante Alighieri

Eigentlich begannen die Probleme schon am Tag seiner Geburt. Nach einer problemlosen Schwangerschaft kam Benjamin völlig überraschend fünfeinhalb Wochen zu früh auf die Welt. Zwei Tage zuvor hatte ich als stolze Mama mit kugelrundem Bauch meine Promotionsarbeit an der Universität eingereicht. Nun wollte ich die Zeit bis zur Entbindung richtig genießen, die letzten Vorbereitungen für das Baby treffen, endlich einmal wieder Dinge tun, die mir Spaß machen, und die wenigen verbleibenden Tage mit Conrad als Einzelkind intensiv nutzen. Als ich erfuhr, dass unser zweites Söhnchen mehr als drei Kilogramm wog und bei den Apgar-Werten zehn Punkte bekommen hatte, löste sich meine anfängliche Besorgtheit in pure Freude über unseren Familienzuwachs auf. Auch das Stillen klappte auf Anhieb problemlos, im Gegensatz zu meinem ersten Kind schien dieses Kind genau zu wissen, was es zu tun hatte. Oder ich hatte einfach inzwischen mehr Erfahrung. Die Kinderärztin sagte mir, dass unser Sohn großes Glück habe, weil seine Atmung selbständig funktioniere und er deshalb nicht in den Brutkasten müsse. Aber er zeige deutliche Anzeichen eines zu früh geborenen Kindes und deshalb könne sie nicht zulassen, dass er, wie geplant, in ein Rooming-in-Zimmer komme. Ein paar Stunden später teilte sie mir mit, dass unser Sohn die Körpertemperatur nicht aufrechterhalten könne und deshalb in ein Wärmebettchen verlegt worden war. Ich brauche mir aber keine Sorgen zu machen, die meisten Babys in dieser Lage würden das innerhalb von Tagen oder Wochen hinbekommen. Ich brauche mir aber keine Sorgen zu machen – wie sollte das funktionieren? Mein Kind durfte ich nur zu den Mahlzeiten sehen, wie fast alle frisch entbundenen Mütter hatte ich heftige Gefühlsschwankungen und alles in den letzten Stunden war anders gelaufen als geplant. Ich hatte mich so intensiv auf die Geburt vorbereitet, auch über die Möglichkeit einer Frühgeburt nachgedacht, aber jetzt schien mich die Situation zu überfordern. Die beiden anderen Frauen in meinem Zimmer schmusten und redeten mit ihren Kindern und ich lag nur da und grübelte: Was heißt „die meisten Babys“ und was ist mit denen, die nicht zu den meisten gehören? Ich hatte darauf keine Antworten und wagte nicht, Fragen zu stellen aus Angst vor den Antworten, die ich vielleicht erhalten würde. Mein Mann Leon versuchte mich immer aufzuheitern oder zu trösten. Wenn unser kleiner Sohn dick eingepackt mit Mütze und Handschuhen zu den Mahlzeiten gebracht wurde, meinte er scherzhaft, dass Benjamin jetzt denken würde: Bei uns gibt es die Mahlzeiten im Kühlschrank. Nach genau zwanzig Minuten wurde er uns dann wieder entrissen und wir hätten so gern noch etwas länger in seine tief dunkelblauen Augen geschaut. Aber nach zwei Tagen gab es einen ersten Lichtblick: Mein Baby durfte ein paar Minuten länger bei mir bleiben und von da an wurde es tagtäglich etwas mehr gemeinsame Zeit. Jetzt wagte ich zu hoffen, dass auch unser Sohn zu den „meisten Babys“ gehörte. Überglücklich machte mich die Tatsache, dass ich nach sieben Tagen zusammen mit meinem Baby die Klinik verlassen durfte. Benjamin hatte sogar schon zugenommen, aber wie bereits erwähnt, war er ein guter Milchtrinker.

Zu Hause sollte es so weitergehen: Auf der einen Seite gab es ständig irgendwelche Probleme, andererseits liefen viele Dinge aber auch völlig reibungslos. Nach zwei Wochen auf dieser Welt war der ganze Körper unseres Babys mit Pickeln und geröteten Stellen übersät. Da er voll gestillt wurde und ich auch bei meiner Ernährung sehr vorsichtig war, meinte die Kinderärztin, dass er möglicherweise keine synthetischen Fasern vertrage oder auf bestimmte Pflegeprodukte beziehungsweise Waschmittel allergisch reagiere. Wir müssten das im Ausschlussverfahren testen. Nach monatelangem, für Benjamin sicherlich qualvollem Austesten hatte ich herausgefunden, dass er nur Kleidung und Wäsche aus reiner Baumwolle auf seiner Haut verträgt. Selbst eingenähte Schildchen mit Größe oder Waschanleitung trennte ich heraus, da diese normalerweise nicht aus Baumwolle bestehen. Große Teile seiner Babyausstattung mussten wir austauschen, weil viele Baumwollsachen geringe Anteile anderer Fasern enthielten. Doch damit nicht genug. Bis er nahezu beschwerdefrei war, hatte ich entdeckt, dass er nur eine bestimmte Sorte Windeln, eine einzige Serie Pflegeprodukte und eine einzige Waschmittelmarke tolerierte. Auf keinen Fall durfte ich Weichspüler oder andere Zusätze benutzen. Zu dieser Zeit war ich überglücklich, dass ich überhaupt Dinge gefunden hatte, die ich ihm zumuten konnte. Absurderweise vertrug er auch ein Waschmittel nicht, welches extra für Allergiker entwickelt worden war. Wenn ich mein Baby irgendwohin mitnahm, musste ich immer ausreichend Handtücher, Schlafdecken etc. einpacken, denn ich konnte mir nicht einmal eine Windel von einer Freundin geben lassen.

Nach seinem ersten Lebensmonat stand wie für alle vier Wochen alten Babys die dritte Vorsorgeuntersuchung an. Die ganze Zeit im Warteraum der Kinderärztin geisterte mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich doch heute eigentlich noch schwanger sein sollte. Bis auf Hautekzeme an diversen Körperstellen war unser Sohn laut Vorsorgeuntersuchung völlig gesund. Er hatte schon fast ein Kilogramm zugenommen und gedieh in meinen Augen prächtig. Nach den Mahlzeiten weinte er oft heftig, aber das waren meiner Meinung nach die sogenannten Dreimonatskoliken, die wir auch mit unserem Erstgeborenen durchlitten hatten. Nur bei Benjamin schienen sie heftiger zu sein. Die Kinderärztin verschrieb ihm ein Mittel gegen Blähungen mit der Bemerkung, dass Flaschenkinder oft mehr unter diesen Koliken litten. Ich erwiderte ihr, dass er aber kein Flaschenkind ist, worauf die Ärztin meinte: „Sie können doch ruhig zugeben, dass Sie zufüttern. Wie sonst hätte er so viel zunehmen können?“ Dass Benjamin eigentlich wie ein Flaschenkind zunahm, war uns auch aufgefallen. Aber wieso sollte ich die Ärztin anlügen und wieso unterstellte sie mir eine Lüge? Meiner Ansicht nach war er einfach nur ein oft hungriges Baby. Leider muss ich an dieser Stelle erwähnen, dass diese Bemerkung der Ärztin nur der Beginn einer langen Kette von Unterstellungen und Schuldzuweisungen an uns als Eltern durch diverse Ärzte und andere Fachleute war.

Mit drei Monaten gab es eine Menge von kleinen Ereignissen und Besonderheiten, die wir im Nachhinein als erste frühe Anzeichen für den Autismus unseres Sohnes werten. Aber wie bereits gesagt: im Nachhinein. Damals habe ich alles damit erklärt, dass Geschwister sich nun einmal unterschiedlich entwickeln und manche Besonderheiten von Benjamin fand ich auch damals schon schlichtweg faszinierend. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass er bereits mit dreieinhalb Monaten durchschlief, und zwar zehn bis zwölf Stunden. Leider fand das die Kinderärztin nicht so toll und ermahnte mich, ihn nach spätestens acht Stunden zu wecken, um ihn zu stillen. Ich fand das zwar unlogisch, da mein Baby immer noch prächtig zunahm, aber hielt mich an ihre Anweisung. Die Kehrseite der Medaille war, dass Benjamin abends mehrere Stunden brauchte, bis er zur Ruhe kam und endlich einschlief, was in der Regel erst gegen Mitternacht geschah. Wirklich erstaunt war ich über die Tatsache, dass unser Sohn tagsüber normalerweise nicht mehr schlief oder höchstens für ein Stündchen im Kinderwagen beim Spazierengehen einnickte. Da die abendliche Unruhe und das weder hungrig noch schmerzgeplagt klingende Weinen nach den Mahlzeiten fortbestanden, beschloss ich, mit Babyturnen zu beginnen. Hunger konnte ich durch häufige Stillproben und wegen der meisterhaften Gewichtszunahme definitiv ausschließen. Und die Zeit der Dreimonatskoliken war doch eigentlich auch vorbei. Einige Freundinnen rieten mir, auf Flaschennahrung umzusteigen, aber auf Verdacht abstillen und das bei all den Überempfindlichkeitsreaktionen meines Sohnes, das erschien mir wenig sinnvoll. Die Kinderärztin meinte nur, es gäbe halt Babys, die mehr schreien als andere und unser Sohn sei doch rundum gesund. Mehrere Jahre später haben wir eine Erklärung für das rätselhafte Verhalten unseres Sohnes nach den Mahlzeiten bekommen: Unsere Ergotherapeutin hatte herausgefunden, dass Benjamin kein Sättigungsgefühl wahrnimmt. Deshalb schrie er, sobald die Brust leer getrunken war. Ich fand für dieses Problem eine einfache Lösung. Wenn es kein Hunger war, dann konnte es vielleicht Durst sein, und so versuchte ich es mit einem Fläschchen voll ungesüßten Tee sofort nach der Mahlzeit. Mit Erfolg. Nach einer Weile hörte Benjamin auf zu trinken und weinte nicht mehr. Ich wunderte mich nur, dass er nach jeder Mahlzeit noch Tee trinken wollte. Und obwohl er mit dieser Methode häufiger und deutlich mehr spuckte, nahm er weiter fleißig zu, weinte weniger und das Stillen wurde durch die Gabe von Tee auch nicht unattraktiv für ihn. Heute schmerzt mich die Einsicht, dass Benjamin erst durch das Spucken des Milch-Tee-Gemisches das Signal, dass er jetzt wohl satt ist, wahrgenommen zu haben scheint.

Zurück zum Babyturnen: Zuerst besorgte ich mir Bücher zu diesem Thema und eine aufblasbare Krabbelrolle. Benjamin schien das Massieren, Streicheln und Herumrollen von Anfang an zu mögen. Beim Massieren verzichtete ich wegen seiner empfindlichen Haut auf Babylotionen. In einem Buch war zu lesen, dass mein Baby vor Freude quieksen würde, wenn ich die Finger und Zehen einzeln vorsichtig drückte. Mein Baby tat das nicht. Es quiekste und gluckste nicht vor Freude bei diesen Übungen, es runzelte eher die Stirn. Aber ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Benjamin Spaß an diesen Aktivitäten hatte. Er weinte dabei nie und strahlte immer Zufriedenheit aus, wenn ich mich so intensiv mit ihm beschäftigte. Der berühmte Frauenarzt, Geburtshelfer und Kinderpsychologe Leboyer bezeichnete nicht umsonst die Babymassage als: „Ein stiller Dialog der Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Baby. Fast wie ein Ritual, ein Tanz – die Ruhe der Bewegungen, ihre kontrollierte Kraft. Zärtlichkeit und Würde.“1 Da unser Baby tagsüber meistens nicht schlief, dehnten sich diese Übungseinheiten allmählich immer mehr aus und Conrad hatte seinen Spaß dabei, gleichzeitig auf einer benachbarten Bodenmatte Purzelbäume zu schlagen.

Sein erstes Weihnachtsfest erlebte Benjamin mit drei Monaten, und Weihnachten kommt üblicherweise die Familie zu Besuch oder sie wird besucht. Der Weihnachtsabend, den wir traditionell nur mit unseren Kindern verbringen, verlief sehr ruhig und wir bildeten uns sogar ein, dass auch unser süßes Baby große Kulleraugen beim Anblick des Weihnachtsbaumes machte. An den Feiertagen fiel uns auf, dass Benjamin jedes Mal, wenn er von einem männlichen Familienmitglied angeschaut wurde, sich wegdrehte, und zwar weg von der entsprechenden Person, aber auch weg von mir. Dieses „Kunststück“ wurde von unseren Verwandten jedem vorgeführt, der es noch nicht kannte, gewürzt mit scheinbar witzigen Interpretationen dieses Verhaltens. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein drei Monate altes Baby männliche und weibliche Gesichter voneinander unterscheiden kann, und dachte mir, dass es wohl eher die tiefen, zuweilen auch rauen, männlichen Stimmen waren, die Benjamin so sehr erschreckten. Dieses Verhalten legte er nicht meinem Mann Leon gegenüber an den Tag. Leon war außer mir die einzige Person, von der sich Benjamin halten ließ. Versuchte jemand anderes, unser Baby auf den Arm zu nehmen, schrie es herzzerreißend. Meine Mutter und meine Schwiegermutter erklärten mir, ich müsse das Weinen einfach aushalten und meinen Willen durchsetzen. Das konnte ich nicht, für mich hatte das Weinen ja einen Grund und mit der Zeit würde sich Benjamin schon an die Menschen um sich herum gewöhnen – das glaubte ich zumindest. Heute, da ich weiß, welche Schwierigkeiten unser Sohn mit der Gegenwart anderer Personen hat, bin ich froh, dass ich ihm damals intuitiv nicht noch mehr Qualen beschert habe. Nach den Familienfeierlichkeiten an den Weihnachtsfeiertagen brauchten wir abends mehrere Stunden, um Benjamin zum Einschlafen zu bewegen. Diese Probleme kannten wir bisher nur von nervenaufreibenden Arzttagen, aber bei genauerem Überlegen stellte ich fest, dass für mein Baby uns so vertraute Familienmitglieder und Freunde genauso fremd sein mussten wie Ärzte und Schwestern.

Die vierte Vorsorgeuntersuchung mit fast vier Monaten bescheinigte uns ein prächtig entwickeltes Baby, welches auch in der Lage war, das Köpfchen zu heben. Die einzige Auffälligkeit bei dieser Untersuchung bestand in einer ständig leicht erhöhten Körpertemperatur. Da Benjamin geimpft werden sollte, hatte ich die Temperatur seit einer Woche überwacht. Morgens lagen seine Werte bei 37,3–37,5 °C und abends bei 37,5–38,0 °C bei völligem körperlichem Wohlbefinden unseres Kindes. Die Ärztin sah darin eine beginnende Infektion, impfte ihn nicht und ließ uns eine weitere Woche die Temperatur messen. Nichts änderte sich, worauf die Ärztin einen Urintest anordnete, welcher ohne Befund war und somit grünes Licht für die Impfung gab. Aber der auf den Bauch geklebte Urinbeutel hinterließ bei meinem Baby verheerende Folgen: Eine anfängliche Rötung zog wassergefüllte Bläschen nach sich, die dann später aufgingen und verkrusteten. Dass dies im Windelbereich nur langsam abheilte und für unseren Sohn sehr schmerzhaft gewesen sein muss, kann wohl jeder leicht nachempfinden. Vier Wochen später zur nächsten Impfung wiederholte sich die Prozedur, denn die Ärztin erklärte mir, es gäbe keine Alternative zu diesen Urinbeuteln. Dieses Mal ordnete die Ärztin zusätzlich ein Blutbild an, was aber außer einem leichten Eisenmangel, nichts Ungewöhnliches bei einem vollgestillten Kind, keinen Befund ergab. Die verordneten Eisentropfen erbrach unser Sohn jeden Tag zusammen mit der Milch, worauf er eine Woche später ein sirupartiges Eisenpräparat verschrieben bekam, welches er etwas besser vertrug. Langsam kam es mir so vor, als sei Benjamin ein Versuchskaninchen und ich sehnte mich danach, dass er einmal irgendetwas auf Anhieb vertragen würde. Bei seiner dritten DPT-Impfung, die er aufgrund der diagnostischen Verzögerungen erst mit siebeneinhalb Monaten bekam, verzichtete die Ärztin zum Glück auf alle Tests, obwohl seine normale Körpertemperatur immer noch dauerhaft erhöht war, das heißt bis 38,3 °C am Abend ohne Anzeichen irgendeiner Erkrankung.

Wegen seines angeborenen Nabelbruches absolvierten wir in dieser Zeit mehrere Termine in der Kinderchirurgie zur Beobachtung. Immer wenn Benjamin auf dem Arzttisch unter der grellen OP-Lampe lag, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich hoffte inständig, dass er nicht operiert werden musste. In dieser Zeit der gehäuften Arzttermine beobachteten wir, dass unser Baby an jenen Tagen besonders viel weinte, auch zu Hause nicht zur Ruhe kam und abends besonders lange brauchte, um endlich einzuschlafen.

Benjamin hatte schon bei der Geburt den Kopf voller blonder Haare, aber diese Haarpracht hatte den Nachteil, dass sie auch gepflegt werden musste. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Haare mit einer superweichen Babyhaarbürste zu bürsten, schrie er scheinbar vor Schmerz auf. Bis ich eines Tages eine Babyhaarbürste fand, die beim Benutzen Musik erklingen ließ. Das ließ ihn seinen Kummer vergessen und wenn ich flink genug war, schaffte ich es, ihn rasch zu kämmen. Nach drei Tagen war allerdings sein ganzer Kopf mit Pickeln übersät – er vertrug die neue Bürste nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die ursprüngliche Bürste wieder zu benutzen und die Haarpflege auf das absolute Minimum zu reduzieren. Bei diesen Problemen nützte es mir wenig, dass meine Freundin mich um die Haarpracht meines Babys beneidete.

Mit fast fünf Monaten machte Conrad eine Entdeckung: Wir saßen beim Mittagessen und Benjamin begann zu weinen. Conrad hielt sich die Ohren zu und stimmte ein Brummen an. Benjamin verstummte, worauf Conrad verdutzt meinte: „Mami, sieh mal, Flugzeuglärm beruhigt das Baby.“ Verwunderlich an dieser Episode war, dass Benjamin nur nicht weinte, wenn Conrad „brummte“ und dass diese Geschichte über Monate absolut reproduzierbar war. Conrad seinerseits war sehr stolz, weil er alleine eine Möglichkeit gefunden hatte, das Baby zu beruhigen. Mir fiel beim Stillen in dieser Zeit auf, dass laute Geräusche, wie das Zuknallen einer Tür oder das Einstürzen eines Bausteinturmes, Benjamin völlig unbeeindruckt ließen, wogegen leise Geräusche, wie das Rascheln einer Zeitung oder das Klingeln des Telefons im Nebenzimmer, dazu führten, dass er versuchte, ruckartig den Kopf der Geräuschquelle zuzuwenden, ohne dabei die Brust loszulassen. Ich sah mich gezwungen, sein Köpfchen beim Stillen fest in meiner Hand zu halten, sonst wäre es für mich schmerzhaft geworden, ihn weiterhin zu stillen.

Einen Tag nachdem Benjamins erstes Zähnchen mit fünfeinhalb Monaten zu sehen war, drehte er sich alleine vom Rücken auf den Bauch. Wenige Tage später konnte er bereits durch die Wohnung robben. Es gab fast täglich neue Fähigkeiten an unserem Baby zu bewundern und inzwischen lachte und quietschte es zuweilen auch vergnügt. Später wurde ich oft gefragt, ob mir in dieser Zeit nichts in Bezug auf mangelnden Blickkontakt aufgefallen ist. Dazu kann ich nur sagen, dass mein Tagebuch hierüber vermerkt, dass Benjamin nicht so ausdauernd wie seinerzeit Conrad in unsere Gesichter versunken war, aber es hat nie an Blickkontakt gemangelt – zumindest nicht zu uns Eltern. Fremde mochte er nicht anschauen, aber viele Babys schauen weg, wenn sie fremde Personen in ihrer unmittelbaren Nähe erblicken. Wie soll man hier sagen, wann es Grund zur Sorge gibt und wann nicht?

Es war an der Zeit, eine Stillmahlzeit durch Babybreie zu ersetzen, denn mittlerweile war Benjamin ein halbes Jahr alt. Zu diesem Jubiläum bekam er eine Badeente und einen Möhrenbrei. Die Badeente gefiel, der Brei nicht so sehr. Am ersten Tag war er bereit, ein paar Löffel voll zu essen, dann aß er von Tag zu Tag schlechter. An einen Löffel hatten wir ihn schon vorher gewöhnt – mit der Gabe von Tee und Eisensirup. Im Laufe des nächsten Monats probierte ich die verschiedensten Sorten Babybrei aus, aber es war kein Brei darunter, der unserem Baby besser schmeckte. Eines Tages drückte Conrad, dem das Kämpfen ums Essen vermutlich auf die Nerven ging, kräftig auf Benjamins Squieky, einem Teddy mit einer Quietsche und anderen Spielfunktionen, gerade in dem Moment, als der Löffel voll Brei sich vor Benjamins Mund befand. Benjamin öffnete den Mund und schluckte den Brei. Zuerst dachte ich, dass er nur vor Schreck gegessen hatte, aber seltsamerweise ließ sich diese Prozedur bis zum Ende des Gläschens fortsetzen. Ich war zwar froh, endlich eine effektive Füttermethode gefunden zu haben, aber ich fand es schon seltsam, dass unser Sohn offenbar ein akustisches Signal brauchte, um den Mund zu öffnen.

Ein mir schon lange bekannter Termin rückte nun immer näher: Meine Promotionsarbeit musste noch verteidigt werden. Da Benjamin tagsüber nicht schlief und meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte und auch abends lange zum Einschlafen benötigte, wusste ich eigentlich nicht so recht, wann ich Zeit zum Arbeiten finden sollte. Es war auch nicht möglich, unseren Jungen von jemand anderem betreuen zu lassen, da er sich nicht einmal von fremden Personen anfassen ließ, ohne in panisches Weinen zu verfallen. Also ging ich zweimal täglich mit den Kindern auf den Spielplatz. Um die Mittagszeit schlief Benjamin, wenn ich Glück hatte, eine halbe oder manchmal eine ganze Stunde. Conrad buddelte mit seinem besten Freund, den seine Mutter und zugleich meine Freundin oft bei mir auf dem Spielplatz ließ, während sie sich um ihr zweites Kind zu Hause kümmerte. Da der Spielplatz um diese Zeit ansonsten verwaist war, konnte ich hier wenigstens ein bis zwei Stunden intensiv arbeiten. Wachte Benjamin im Kinderwagen auf, blieb er meistens ruhig und war zufrieden, solange niemand in den Wagen schaute oder versuchte, ihn herauszunehmen. Ich hatte mir daher angewöhnt, immer das Verdeck hochzuziehen und den Wagen so hinzustellen, dass möglichst nur ich hineinsehen konnte. Zu unserer zweiten Buddelzeit am Nachmittag war der Spielplatz dann zu Conrads Freude für gewöhnlich gut gefüllt. Oft musste ich mir Kommentare von anderen Müttern anhören, wie zum Beispiel: Ich solle doch einmal Luft und Licht an mein Baby lassen oder es herausnehmen, um ihm die Welt zu zeigen. Aber wenn mein Baby bei all diesen Aktivitäten bitterlich weint, dann kann es doch keine Freude daran haben! Oder braucht es nur etwas mehr Zeit, bis es Luft und Licht und die Welt um sich herum besser erträgt? Da ich auch nachts nicht stundenlang arbeiten konnte, blieb uns nichts anderes übrig, als mehrere Urlaubstage meines Mannes zu opfern. Leon hütete dann die Kinder, während ich in der Bibliothek arbeitete. Eine Woche vor dem Termin der Verteidigung ging dann auch noch die Waschmaschine kaputt und Conrad wurde krank. An dieser Stelle fragte ich mich das erste Mal, ob ich mir da nicht zu viel zugemutet hatte. Ursprünglich hatte ich mir alles ganz anders vorgestellt: Conrad würde in den Kindergarten gehen und das Baby würde ja sowieso viel schlafen, also eigentlich alles kein Problem. Aber Conrad wollte nach der Geburt seines Bruders nicht mehr in den Kindergarten gehen, also durfte er zu Hause bleiben. Und was Benjamin betraf, nun das habe ich ja schon ausführlich berichtet.

Am Tag der Verteidigung brachte ich beide Kinder zu meinen Eltern. Natürlich war mir dabei nicht wohl zumute, aber es war die einzige Möglichkeit. Mein Vater ging die Sache optimistisch an. Er nahm Benjamin nicht auf den Arm, sondern ließ ihn von mir ins Laufgitter legen und meinte, er würde sich schon beruhigen. Aber er weinte bereits, als ich mich entfernte. Von Conrad wusste ich, dass kleine Kinder oft beim Abschied weinen und sich dann relativ schnell beruhigen. Ich versuchte mir zwar einzureden, dass es bei Benjamin genauso sein wird, aber ein Gefühl tief in mir sagte mir, dass ich mich damit selbst täuschte. Was sollte ich tun – gehen, und mich als schlechte Mutter fühlen, oder bleiben, und dreieinhalb Jahre harte Arbeit waren umsonst gewesen? Ich entschied mich für die vernünftige Lösung, fuhr in die Universität und verteidigte erfolgreich meine Promotionsarbeit. Gleich nachdem ich für die Prüfer und Gäste das obligatorische Buffet eröffnet hatte, rief ich meine Eltern an, in der Hoffnung, auch dort würde alles gut gelaufen sein. Aber weit gefehlt, Benjamin weinte so laut, dass ich kaum verstand, was meine Eltern sagten. Ich verabschiedete mich hastig von meinen Kollegen und fuhr zu meinen Kindern. Benjamin hatte die ganze Zeit nur geweint, nichts gegessen und er sah total panisch und aufgelöst aus. Hektische rote Flecken machten sich in seinem kleinen Gesicht breit. Was war nur mit diesem Kind los oder was hatte ich falsch gemacht? Ich stillte ihn noch bei meinen Eltern und ging dann nach Hause. Es gab keine Gelegenheit für Gespräche oder Glückwünsche, denn Benjamin beruhigte sich erst zu Hause allmählich. Viel später kam mein Mann mit den Unmengen von Blumen, die ich bekommen hatte, nach Hause, denn er hatte sich an meiner Stelle um meine Gäste gekümmert. Auch jetzt war keine Gelegenheit, um ein bisschen zu feiern, denn Benjamin fand einfach keinen Schlaf. Das erwartete Glücksgefühl stellte sich bei mir nicht ein, ich spürte einfach nur tiefe Erschöpfung und damit verbunden den Wunsch, tagelang zu schlafen. Erst als ich ein paar Tage später einen Brief von meinem beruflich in Amerika weilenden Chef erhielt, wurde mir bewusst, welche Leistung ich da vollbracht hatte. Er schrieb Folgendes: „Liebe Frau Maus, mein ganz herzlicher Glückwunsch zu Ihrer gestrigen erfolgreichen Promotionsverteidigung! Ich kann Ihnen nachempfinden, daß Sie mit dieser Leistung ein ganz glücklicher Mensch sind! Im Zentrum von drei Männern (zumindest angehenden) zu stehen und dabei noch die Promotion geschafft zu haben – das haben nur wenige, ganz starke Frauen geschafft! Ich bin sicher, Sie werden auch die bevorstehenden Aufgaben mit gleicher Übersicht und rationaler Planung meistern und wünsche Ihnen hierfür bestes Gelingen! Ihr […]“

Mit fast sieben Monaten fing Benjamin munter an zu plappern. Seine Lieblingssilben waren dabei la, wa und ma. Wie alle Eltern warteten wir sehnsüchtig auf das erste Wort unseres Babys, und mit nicht einmal acht Monaten bekamen wir es zu hören: „Leiterplatte“. Leiterplatte? Wie kommt ein fast acht Monate altes Baby zu einem solchen Wort? Benjamin wiederholte dieses Wort immer wieder voll Verzückung. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. War unser Sohn ein Sprachgenie oder sollten wir uns Sorgen machen? Er hatte das Wort nicht einfach nur nachgeplappert, denn niemand hatte sich in letzter Zeit über Leiterplatten unterhalten, auch Fernseher und Radio liefen nicht in Benjamins Gegenwart. Wo kam dieses ungewöhnliche Wort also plötzlich her?

Da unser Sohn nun immer mobiler wurde und aus dem Robben mit acht Monaten ein eifriges und flinkes Krabbeln wurde, kam ein neues Problem auf uns zu. Durch den Kontakt zu den synthetischen Fasern in Teppich und Polstermöbeln bekam er schnell an allen unbedeckten Körperstellen Hautekzeme, sogar auf den Handrücken. Was sollten wir tun? Lange Kleidung war für den beginnenden Sommer nicht gerade geeignet und schützte weder die Hände noch das empfindliche Gesicht. Uns blieb nur eine Lösung: Wir mussten die Möbel und Teppiche austauschen. Baumwollbezogene Polstermöbel und ein großer Teppich aus reiner Schurwolle brachten unserem Sohn unbeschwerten Krabbelspaß zurück. Die Kinderärztin bezeichnete Benjamin als „frühreif“, das bezog sich auf seine motorische Entwicklung, da er jetzt außer krabbeln auch sitzen und sich an Gitterstäben hochziehen konnte. Wenige Tage später konnte er bereits überall stehen – an Schränken, Wänden, Türen … – und seitwärts laufen. Den ganzen Tag war er in der Wohnung unterwegs und schien nicht zu ermüden und ich war stolz darauf, dass er schon so viel konnte. Der einzige Wermutstropfen dabei war, dass er, sowie wir Besuch bekamen, all sein Können nur für Fluchtbewegungen einsetzte. Ich hegte die heimliche Hoffnung, dass Benjamin jetzt, wo er selbst bestimmen konnte, auf wen er zugehen, das heißt, zu wem er hinkrabbeln möchte, Kontakt zu anderen Personen aufnehmen würde. Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Benjamin war entweder in der Wohnung unterwegs oder flüchtete zu uns Eltern, sowie sich jemand ihm näherte. Meine Mutter war mit diesem Verhalten unseres Sohnes besonders unzufrieden, sie wollte ihren Enkel hochnehmen und knuddeln. Und sie gab wie auch einige meiner Freundinnen mir die Schuld am Verhalten meines Sohnes, denn ihrer Meinung nach müsste ich mich einfach einmal durchsetzen und das „Geschrei“ meines Sohnes aushalten. Aber dieses „Geschrei“ war nicht einfach nur Geschrei eines wütenden oder frustrierten Babys, es war vielmehr voller Angst und Panik, so ein Weinen, wie ich es von Conrad nie vernommen hatte. In meinem Tagebuch prägte ich damals dafür den Begriff „Weltuntergangsweinen“, heute bin ich verwundert darüber, wie nah ich damit dem wahren Ursprung seines Weinens kam. Und obwohl ich die Ursache für dieses verzweifelte, abwehrende Weinen damals nicht kannte, stand für mich fest, dass es zu bedrohlich klang, um einfach von mir ignoriert zu werden. Ich sagte mir immer wieder, dass ich unseren Sohn am besten kenne und dass ich ihm eben mehr Zeit zum Erlernen bestimmter Dinge gewähre, wenn er sie braucht. Spätestens wenn er Laufen und Reden kann, wird er auf andere Menschen zugehen. Auf einen Teil meiner Umwelt habe ich wohl einfach nur stur und uneinsichtig, vielleicht auch egoistisch gewirkt. Aber mein Mann teilte meine Ansichten und fand meine Entscheidungen richtig. Auch heute bin ich der Meinung, dass wir damals richtig gehandelt haben, denn möglicherweise hätten wir unserem Sohn Entwicklungsmöglichkeiten verschlossen, wenn wir nicht so sehr auf seine Bedürfnisse eingegangen wären.

Das Wetter wurde immer wärmer und Benjamin steuerte auf seinen ersten Sommer zu. Für mich war es jetzt an der Zeit, den Kinderwagen zum Sportwagen umzurüsten, da Benjamin inzwischen den Kopf in Rückenlage hochhob und ja auch prima sitzen konnte. Aber da hatte ich die Rechnung wieder einmal ohne den Wirt gemacht, denn Benjamin wehrte sich mit Weinen und heftigem Strampeln gegen den Sportwagen. Da ich nicht auf das Spazierengehen und Conrads Buddeln verzichten wollte, baute ich den Kinderwagen wieder um und legte Benjamin in seine heiß geliebte Tragetasche zurück, und die Welt war wieder in Ordnung für ihn. Ich dagegen verstand es nicht: Wieso wollte dieses Baby, dass oben und unten an die Ränder der Tragetasche schon anstieß, diese nicht verlassen und sitzend mit völlig neuem Aussichtshorizont die Ausfahrt genießen? Heute habe ich eine plausible Erklärung für dieses Verhalten: Veränderungsängste und daraus resultierend der Widerstand gegen Veränderungen. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich sein Widerstand wirklich gegen den umgebauten Kinderwagen richtete. Im Laufe des nächsten Monats versuchte ich vorsichtig, sozusagen zentimeterweise, das Verdeck der Tragetasche zurückzuschieben, immer gerade soweit, wie es Benjamin zuließ. Manchmal musste ich auch tagelang warten, bis er wieder bereit war, einen Zentimeter mehr Licht in seine Tragetasche zu lassen. Zu Hause dagegen verhielt er sich in dieser Zeit ganz anders. Er liebte das Licht, versuchte Sonnenstrahlen einzufangen, spielte mit seinem Schatten und schaute lange aus dem Fenster, wenn ich ihn dazu hochhob. Nach mehr als einem Monat stellte sich ein erster Erfolg ein, denn Benjamin ließ zu, dass ich das Verdeck der Tragetasche abnahm. Natürlich war immer noch das Verdeck des Kinderwagens schützend über ihm. Als Nächstes machte ich mich daran, diese Methode beim Reißverschluss der Tragetasche zu wiederholen. Es dauerte mehr als zwei Monate, bis Benjamin bereit war, die Tragetasche endgültig aufzugeben. Danach lag er beim Spazierengehen im Kinderwagen, denn obwohl er zu Hause sitzen und inzwischen auch freihändig stehen konnte, wollte er im Kinderwagen nicht sitzen. Ich konnte ihn nicht dazu bewegen, den Wagen zu verlassen und im Sandkasten zu krabbeln oder zu stehen. Auch wurden die Attacken wohlmeinender Sandkastenmütter immer heftiger: Ich solle doch dieses beklagenswerte Kind endlich aus dem Kinderwagen nehmen. Ich wusste nicht, wie ich das ungewöhnliche Verhalten meines Sohnes erklären sollte, ich selbst handelte ja auch nur aus dem Gefühl heraus, unserem oftmals geplagten Söhnchen das Leben etwas angenehmer zu gestalten. Eigentlich verspürte ich keine Lust mehr, mich unter all die Mütter zu begeben, deren Kinder auf dem Spielplatz genau das taten, was von ihnen erwartet wurde. Zum Glück war da noch Conrad, der die sozialen Kontakte zu seinen Freunden dringend brauchte, da er ja, wie bereits erwähnt, nicht mehr den Kindergarten besuchte.

Für Benjamin war es aber wichtig, all die Sinneserfahrungen, die mit Sand, Wasser und Matsch verbunden sind, zu machen. Wenn er sich also weigerte, zum Buddelkasten zu gehen, dann musste ich den Buddelkasten eben zu ihm bringen. Wir bauten auf unserem Balkon einen Buddelkasten und ein Planschbecken auf und beides wurde intensiv von Benjamin, aber auch von Conrad genutzt. So hatte ich wenigstens nicht mehr das Gefühl, dass Benjamin in seiner Entwicklung etwas verpasste, wenn er am „richtigen“ Buddelkasten seinen Kinderwagen nicht verließ. Wenn Benjamin das Planschbecken verlassen sollte, schien er nicht auf unsere Ansprache zu reagieren, sondern erst das Aufziehen einer Spieluhr als Signal, dass die Badezeit nun vorbei ist, brachte ihn dazu, sich aus dem Planschbecken heben zu lassen. Das erinnerte mich stark an das Quietschen des Teddys, welches er zum Mundöffnen benötigte. Dieses Quietschen brauchte er zwar jetzt nur noch zu Beginn einer Mahlzeit, und es ließ sich mittlerweile durch ein menschliches Brummen ersetzen, aber mir stellte sich die Frage, ob er mit bestimmten Geräuschen besser zurechtkam als mit gesprochenen Wörtern. Waren Geräusche für ihn leichter heraushörbar aus all dem Lärm von Sprache, Vogelgezwitscher, Haushaltsgeräten, Spielzeugsirenen … um ihn herum? All diese Beobachtungen gaben uns noch keinen handfesten Grund zur Sorge und sie waren auch nicht pathologisch genug, um mit der Kinderärztin darüber zu diskutieren. Bei seiner sechsten Vorsorgeuntersuchung gab ihm die Ärztin in allen Punkten „Note 1“, dabei wurde vor allem seine körperliche und motorische Entwicklung begutachtet. Aber er konnte auch sechs verschiedene Laute von sich geben und „ei machen“. Dabei legte er seine Hand auf mein Gesicht, als ich ihn auf dem Arm hielt, und ich bin mir heute fast sicher, dass dies rein zufällig passierte. Sein geringes Schlafbedürfnis, seine extremen Einschlafprobleme und das Ablehnen von Kontakt zu familienfremden Personen fand die Ärztin nicht bedenklich und sie erklärte es damit, dass sich halt jedes Kind in seinem eigenen Tempo entwickelte. An dieser Stelle sollte ich noch erwähnen, dass Benjamin auch jedes Mal bei der Kinderärztin weinte, sobald die Ärztin ihn berührte. Er hörte dann frühestens nach Verlassen der Praxis auf zu weinen, oft weinte er allerdings auf dem gesamten Heimweg. Er blieb aber immer beim Betreten der Praxis ruhig, auch wenn ich ihn auszog oder auf die Waage legte. Solange ich ihn hielt oder versorgte, war alles in Ordnung.

Was das Essen betraf, gab es bei Benjamin nur zwei Möglichkeiten: Entweder es schmeckte ihm oder es wurde rigoros abgelehnt. Es war schwierig, ihn überhaupt dazu zu bewegen, ein ihm unbekanntes Nahrungsmittel zu kosten. Bestimmte Gerichte schien er schon alleine vom Geruch her abzulehnen. Andererseits störte es ihn nicht, wenn er tagelang sein Lieblingsessen bekam, er schien keinen Wert auf Abwechslung zu legen. Am liebsten aß er Spaghetti pur mit den Fingern. Ansonsten wurde er gefüttert, weil er nicht bereit war, den Löffel selbst in die Hand zu nehmen. Das Füttern empfand ich als äußerst anstrengend, da er nach jedem Happen aufschrie, als ob es ihm nicht schnell genug gehen würde. War der Teller leer, brach er in herzzerreißendes Weinen aus. Benjamin war immer noch ein knuddeliges Baby, welches kräftig zunahm, also schloss ich Hunger als Ursache für seinen Kummer aus und griff weiterhin zu der bewährten Methode der Teeflasche nach dem Essen. Auch hier standen wir wieder auf einsamem Posten, denn unsere Umgebung redete uns ein, dass unser Sohn Hunger habe, wenn er nach dem Essen jedes Mal weinte. Heute bin ich froh, dass wir uns nicht beschwatzen ließen, ihm mehr Essen zu geben, denn sonst hätte er vermutlich auch noch Gewichtsprobleme.

Kurz vor seinem ersten Geburtstag konnten wir weitere Fortschritte bei Benjamin beobachten. Er benutzte ein neues Wort, welches wie Hunger klang und auch in diesem Sinne von ihm verwendet wurde. Ansonsten hörten wir nur für uns unverständliches Silbengebrabbel. Einmal glaubte ich ein einziges Mal „Papa“ gehört zu haben, aber auf so typische Äußerungen wie „Mama“, „Gag-Gag“ oder „Auto“ warteten wir vergeblich. Wenn ich zu ihm „Nein“ sagte, schüttelte er den Kopf, ließ aber dann keine Taten folgen. Da er das unbezwingbare Bedürfnis hatte, alle Schränke komplett auszuräumen, sicherten wir die Schränke mit Kindersicherungen und ließen ihm aber in jedem Zimmer ein Schrankfach mit Sachen, die er ausräumen durfte. Beim Verlassen des Hauses machte er „winke, winke“, aber nur, wenn mein Mann oder ich die Person war, die er verlassen würde. Seiner Großmutter oder anderen ihm vertrauten Personen verweigerte er weiterhin solche Aufmerksamkeitsbeweise. Seine neue Lieblingsbeschäftigung zu Hause bestand darin, in niedrige, leer geräumte Regalfächer der Wohnwand zu klettern und sich dort mit seinem Lieblingskissen, welches er Tag und Nacht zu Hause bei sich haben musste, hinzulegen. Der harte Bretterboden schien ihn dabei nicht zu stören und er schaute von dieser Position aus besonders gern dem Regen zu, von dem es in der zweiten Hälfte dieses Sommers genug zu sehen gab. Wasser spielte jetzt überhaupt eine wichtige Rolle in seinem Leben. Da er wegen des kalten und nassen Wetters vorläufig nicht in seinem Planschbecken spielen konnte, fand er heraus, dass sich ja auch in der Toilette Wasser befand und dass er da seine Hände hineinhalten konnte. Das habe ich natürlich sofort unterbunden, aber als ich ihm nach dem ersten Versuch die Hände gründlich wusch, fiel mir auf, dass es ihm nur um das Wasser ging. Er liebte es, Wasser über seine Hände laufen zu lassen und dabei zuzusehen. Jedes Mal, wenn jemand von uns aus dem Bad kam, war er schon zur Stelle und bestand darauf, dass wir ihm den Wasserhahn aufdrehten. Es war schwer und zeitaufwändig, ihn wieder davon wegzubekommen. An dieser Stelle fällt mir auf, dass schon damals nahezu alle seine Fortschritte mit einem „Aber“ von uns betrachtet wurden. Bloß woher soll man bei einem Kind mit ein paar kleinen Auffälligkeiten wissen, ob mehr dahinter steckt oder ob sich alles mit der Zeit „auswächst“, wie eine etwas ältere und damit in meinen Augen erfahrenere Freundin immer zu mir sagte.

Auch mit meinem Projekt Kinderwagen erzielte ich langsam weitere Fortschritte. Nachdem ich Benjamin wie beschrieben von der Tragetasche, die er immerhin neun statt der geplanten drei Monate benutzte, entwöhnt hatte, begann ich, die Rückenlehne des Kinderwagens an guten Tagen etwas höher zu stellen. Die Rückenlehne unseres Kinderwagens verfügte glücklicherweise über mehrere Stufen zwischen Liege- und Sitzposition. Mit guten Tagen meine ich Tage, an denen Benjamin rundum zufrieden war und somit eher die Bereitschaft zeigte, kleine Veränderungen zuzulassen. So konnte ich innerhalb von drei Monaten erreichen, dass unser Sohn bereit war, seinem Alter entsprechend, im Kinderwagen zu sitzen, anstatt zu liegen. Aber warum mussten so einfache Dinge, wie ein Kind, das prima sitzen kann, in den Kinderwagen zu setzen, so kompliziert und langwierig sein? Mir kam das alles wie eine nicht enden wollende Geduldsprobe vor.

Mit meinem im Kinderwagen sitzenden Baby wurde das Einkaufen nahezu unmöglich, denn es fing schon beim Betreten eines Ladens an, schrecklich zu weinen. Anfangs glaubte ich, das läge nur an den nun für Benjamin gut sichtbaren, vielen leckeren Lebensmitteln, aber dieses Weinen beschränkte sich nicht auf Lebensmittelläden. Ein besonders stressiges Erlebnis hatte ich an dem Tag, als ich mit beiden Kindern im Kaufhaus Benjamins erste Schühchen kaufen wollte. Da er ja bereits freihändig stehen, an den Händen laufen und freihändig stehend auch essen konnte, zum Beispiel Kekse oder Brötchen, wollte ich den Versuch wagen, ihn auch draußen laufen zu lassen. Ich versuchte, so gut es ging, Benjamins Weinen beim Betreten des Kaufhauses zu ignorieren, schließlich hatte ich ja eine Mission zu erfüllen. Ich wusste auch, dass er seinen Wagen nicht verlassen würde, um vielleicht den Kinderspielplatz der Schuhabteilung zu erkunden. Also suchte ich flink Schuhe aus und wollte sie ihm im Wagen anprobieren. In diesem Moment kam eine sehr freundliche Verkäuferin auf ihn zu und wollte ihm einen kleinen, bunten Ball schenken, vermutlich in der Hoffnung, dass er sich dann beruhigt. Da war es wieder, dieses Weltuntergangsweinen. Hatte er beim Betreten des Kaufhauses nur verhältnismäßig leise geweint, so steigerte er sich jetzt bis ins Unerträgliche und schlug mit Armen und Beinen um sich. Die Verkäuferin war verunsichert und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, und ich stand irritiert da und wusste nicht, wie ich das Verhalten meines Sohnes erklären konnte. Nur Conrad schien eine Erklärung zu haben, denn er sagte zu seinem Bruder: „Keine Angst, Benjamin, die Frau will dich doch nicht auffressen!“ Wie nah er damit an der tatsächlichen Erklärung für Benjamins Verhalten war, ist mir erst viel später bewusst geworden. Mein kleiner Sohn war einfach von der gesamten Situation komplett überfordert – es war zu laut, zu unbekannt, alles lief zu schnell für ihn ab … Ich nahm ohne Anprobe zwei Paar Schuhe, die mir zu passen schienen, und verließ ohne Umschweife das Kaufhaus. Zu Hause, nachdem wir uns alle wieder beruhigt hatten, denn auch für Conrad war das ja nicht der erhoffte Einkaufsbummel, fragte ich mich immer wieder, was ich anders machen konnte, und tief in meinem Inneren beneidete ich die Mütter, die ihre genauso alten Kinder so lässig aus dem Kinderwagen nahmen und in die Spielecke setzten, während sie am Rand stehend Kindererlebnisse austauschten.

Weitere kleine Eigenheiten fielen uns an unserem Sohn auf. So hatte er, als ich durch Conrad abgelenkt war und er eine Tüte mit Brötchen ergattern konnte, alle acht Brötchen an der gleichen Stelle angeknabbert. Dieses Phänomen ließ sich wiederholen, sobald wir ihm mehr als ein Brötchen gaben. Sollten wir das nun lustig finden, so wie alle anderen, denen wir dieses Erlebnis erzählten oder steckte da mehr dahinter, und wenn ja, was? Offensichtlich strebte Benjamin danach, dass alle Brötchen auch nach dem Anbeißen wieder gleich aussahen, so wie sie vorher ja auch alle gleich ausgesehen hatten. Aber solche Bestrebungen schienen mir für ein fast einjähriges Kleinkind einfach zu komplex.

Benjamins ersten Geburtstag verbrachte ich mit meinen Kindern im Tierpark. Da Besuche ihn ja immer sehr aufgeregten, war meine Überlegung dabei, dass er so wenigstens seinen Geburtstag genießen konnte. Und damit sollte ich Recht behalten. Es war ein warmer Bilderbuchtag im Herbst und Conrad hatte nicht nur Freude an den Tieren, sondern sammelte auch noch einen großen Beutel voller Kastanien. Für Benjamin war das sein erster Tierparkbesuch. Er schaute sich alles interessiert an und schien den Tag zu genießen, denn besonders lange musste ich bei den Enten, Meerschweinchen und Ziegen verweilen. Am späten Nachmittag hatten wir noch ein Kaffeetrinken mit der Familie eingeplant. Der Höhepunkt des Tages bestand allerdings darin, dass Benjamins Großvater ihm die Schuhe ausziehen durfte. Ich wertete das als riesigen Fortschritt und glücklicherweise war mein Vater weitsichtig genug, ihn danach nicht sofort in den Arm nehmen zu wollen. Unsere heimliche Hoffnung, dass Benjamin nach diesem gelungenen Tag ruhig einschlafen würde, denn hundemüde musste er ja auf jeden Fall sein, wurde wieder nicht erfüllt. Im Gegenteil, Benjamins Einschlafprobleme schienen proportional zur Aufregung des Tages zu sein, und mit Aufregung meine ich keineswegs nur Ärger, sondern alles, was auch nur minimal von seiner sonstigen Tagesroutine abwich.

Im Entwicklungsratgeber „So fördere ich mein Kind“2 wird ein gesundes, einjähriges Kind folgendermaßen beschrieben:

 Geistige Entwicklung: „Ihr Baby verfügt über ein ausgedehntes Repertoire an Gefühlen und weiß alles über Küssen und Schmusen. Es hebt eine Puppe auf und überreicht sie Ihnen. Es spricht zwei, drei Wörter, die etwas bedeuten, erkennt Dinge in einem Buch wieder und zeigt darauf. Es lernt, einfache Fragen zu verstehen.“

 Fortbewegung: „Wenn Sie eine seiner Hände halten, kann Ihr Baby gut laufen. Zum Krabbeln benutzt es Hände und Füße, genauso wie es ein kleiner Bär tut.“

 Manuelle Fähigkeiten: „Ihr Baby füttert sich jetzt immer häufiger selbst, verschüttet weniger dabei und kann die Hand drehen, um Nahrung in den Mund zu stecken. Es wirft voller Spaß mit Sachen, malt mit einem Bleistift Linien und hält zwei Bauklötzchen mit einer Hand. Es hat gelernt, etwas loszulassen und kann aus zwei Bauklötzen einen Turm bauen.“

 Sozialverhalten: „Ihr Baby kennt seinen Namen und versteht ‚nein‘. Es hat Humor entwickelt und bringt Sie gerne zum Lachen. Es zeigt viel Zuneigung, indem es sich mit Kopf und Gesicht an Sie drückt. Es kennt einige soziale Rituale wie Küssen oder Winken zum Abschied. Wenn man ihm das Spielzeug fortnimmt, wird es böse.“

Nach dieser Auflistung waren wir der Meinung, dass unser Baby sich gut entwickelt hatte und es keinen ernsten Anlass zur Sorge gab. Dass Benjamin zwar Dinge aufhob, sie aber nicht zu mir brachte, beunruhigte mich damals genauso wenig wie die Tatsache, dass er sich weigerte, alleine mit einem Löffel zu essen oder einen Buntstift zu benutzen. Kekse und Brotstückchen oder auch gekochte Nudeln steckte er sich mit den Fingern alleine in den Mund, das fand ich für sein Alter ausreichend. Seine Babybücher schaute er sich allerdings stets alleine an und es gelang mir nicht, ihn dazu zu bewegen, mich daran teilhaben zu lassen oder mir etwas zu zeigen, wonach ich ihn fragte. Gemeinsames Bücherlesen wurde somit neben dem schon erwähnten Buddeln im Sandkasten eines meiner Hauptziele für sein neues Lebensjahr. Im Nachhinein bin ich mir auch nicht mehr sicher, ob Benjamin nur aus Zuneigung sein Gesicht und seinen Körper an mich drückte, es war wohl öfter eine pure Angstreaktion und eher selten eine reine Schmuseangelegenheit.

Mami, ich habe eine Anguckallergie

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