Читать книгу Mami, ich habe eine Anguckallergie - Inez Maus - Страница 9
Eine sonderbare Maus
ОглавлениеDer größte Reichtum unseres Lebens sind die kleinen Sonnenstrahlen, die täglich auf unseren Weg fallen. Indische Weisheit
Mit eisernem Willen habe ich immer wieder versucht, unser Leben trotz aller nicht erklärbaren Probleme mit Benjamin so normal wie möglich zu gestalten. Ich erinnere mich an einen Besuch bei der Familie von Conrads neuestem Spielplatzfreund, die uns eingeladen hatte. Da wir schon zum Mittagessen erwartet wurden, bereitete ich mich akribisch auf dieses Treffen vor. Benjamin sollte es gut gehen, denn dann ging es uns allen auch gut. Ich packte Lieblingslöffel, Lieblingstasse, Lieblingsteller und sein Lätzchen ein. Des Weiteren wanderte ein Gläschen mit püriertem Hühnchen, welches er zu den vereinbarten Nudeln essen konnte, und eine Flasche Tee, gefüllt mit der einzigen Teesorte, die er trank, in meinen Rucksack. Sein Lieblingskissen und etwas vertrautes Spielzeug durften natürlich nicht fehlen. Meine größten Sorgen bestanden darin, wie er auf die neue Umgebung reagiert und ob er die „fremden“ Nudeln isst. Der Mutter von Daniel, so hieß Conrads neuer Freund, erklärte ich, dass Benjamin sehr empfindlich auf alles Mögliche reagiert und für sein Alter noch sehr ängstlich ist. Besser wusste ich es zum damaligen Zeitpunkt ja selber nicht. Benjamin klammerte zwar die ganze Zeit an mir und ließ keinen an sich heran, aber er weinte nicht und aß auch die unbekannten Nudeln zum Mittagessen. Für mich war das ein Riesenerfolg, auch wenn Daniels Eltern dafür kein Verständnis hatten. Zu meinem großen Entsetzen teilte mir aber nun Daniels Mutter mit, dass sie es als Beleidigung empfände, dass ich all die Sachen für Benjamin mitgebracht hatte. Sei mir etwa ihr Essen nicht gut genug, ihre Wohnung nicht sauber genug oder das Spielzeug der Kinder nicht ausreichend anspruchsvoll? Ich war völlig sprachlos und konnte weder mein Verhalten besser erklären noch das ihre wirklich verstehen. Fortan beschränkten sich die Treffen von Conrad und Daniel auf den Spielplatz.
Benjamin war immer noch ein leidenschaftlicher Schnipselsuppenkoch, aber er entwickelte dieses Spiel selbständig weiter. Inzwischen benutzte er auch Topflappen, denn ein kleiner Ofen war zu seiner Küchenausstattung dazugekommen. Eines Tages vergaß er, die Topflappen zu benutzen, rief „Au!“ und pustete seine Fingerchen. So sehr, wie ich von diesem vielschichtigen Spiel beeindruckt war, so sehr verunsicherte es mich auch. Warum wartete er, nachdem er „Au!“ gerufen hatte, nicht auf irgendeine Reaktion aus seiner Umgebung? Ich versuchte wieder einmal, mich in sein Spiel einzuklinken, indem ich das Arztköfferchen mit dem Arztspielzeug holte und ihm medizinische Hilfe anbot, aber er wehrte mich energisch ab. Ich hatte sein Spiel gestört, und jetzt hatte er wieder die Fassung verloren, und er würde lange brauchen, bis er sich wieder beruhigt und noch länger, bis er wieder zu seinem unbeschwerten Spiel zurückfindet. Trotzdem versteckte ich wenige Tage später zwei leicht in der Farbe abweichende Karteikartenschnipsel in seiner Schnipselsuppe, um zu sehen, was passiert. Ich war mir sicher, dass Benjamin dies nicht bemerken würde. Weit gefehlt! Beim ersten Umrühren fischte er die beiden Schnipsel mit einem empörten und erregten „Da, da!“ aus der Suppe und wollte sie in den Mülleimer werfen. Ich ließ mir die Schnipsel geben und versuchte, sie ihm als Gewürze oder Salz aufzuschwatzen. Er aber wurde immer erregter, solange ich die Schnipsel in der Hand hielt. Erst als sie im Mülleimer gelandet waren, gewann er seine Fassung zurück. Wie war es möglich, dass er in seinem Alter in einem Berg von Schnipseln so schnell zwei fremde, gleich große und farblich nur wenig abweichende Schnipsel fand? Und tat ich das Richtige, wenn ich versuchte, mich immer wieder in seine Spiele einzuklinken oder war er einfach noch nicht reif genug für gemeinschaftliche Spiele? Wieso hatte er kein Mitteilungsbedürfnis, wieso wollte er nicht bewundert werden wie andere Kinder in seinem Alter? Wieso suchte er nur unsere Aufmerksamkeit, wenn es um grundlegende Bedürfnisse wie Essen oder Trinken ging? Wieder Fragen über Fragen und wir hatten keine Antworten. Bis jetzt beruhigte uns aber die Tatsache, dass halt jedes Kind sein eigenes Entwicklungstempo hat.
Zwei Monate vor seinem zweiten Geburtstag waren Benjamin und Conrad mit ihrer Großmutter im Wohnzimmer alleine, während ich mit Leon in der Küche das Essen zubereitete. Inzwischen ließ es unser Sohn kurzzeitig zu, dass wir uns entfernten, solange die vertraute Aufsichtsperson ihm nicht zu nahe kam oder gar etwas von ihm verlangte. Plötzlich vernahmen wir einen markerschütternden Schrei. Wir stürmten herbei und sahen, dass Benjamin offensichtlich vom Fensterbrett gefallen war. Obwohl ich meine Mutter vor den Kletterkünsten meines kleinen Sohnes gewarnt hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass er so schnell so hoch klettern würde. Sie hatte mit Conrad gespielt und war dadurch abgelenkt gewesen. Benjamin schrie, ohne sich irgendwie beruhigen zu lassen, und konnte sich nicht hinstellen. Sein linkes Füßchen schwoll bedrohlich an. Da es Sonntagabend war, fuhren wir sofort in die Kinderrettungsstelle des Krankenhauses. Benjamin hörte einfach nicht auf zu weinen, sein Weinen wurde nicht einmal wenigstens etwas leiser. Das Krankenhaus oder die Erinnerung an dieses Krankenhaus regten ihn so sehr auf, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihn während der Untersuchung und auch während des Röntgens durch meinen Mann festhalten zu lassen. In mir krampfte sich alles zusammen, weil ich nicht wusste, ob er vor Schmerz oder vor Angst schrie. Leon meinte, dass Benjamin panische Angst vor dem dunklen Röntgenraum und dem Klacken der Geräte hatte. Der Arzt stellte eine metatarsale Distorsion, also eine Verdrehung des Mittelfußes, fest und verordnete, dass der Fuß samt Unterschenkel für ein bis zwei Wochen ruhig gestellt werden müsse. Da unser Sohn aber immer noch heftig weinte und sich mit jeder Faser seines Körpers gegen diese ganze Situation wehrte, bat mich der Arzt in ein Nebenzimmer und forderte, ich solle Benjamin die Schiene und den Verband zu Hause anlegen, wenn er sich wieder beruhigt hätte. Er würde unserem Sohn nur Schmerzen zufügen, wenn er jetzt versuche, dieses aufgebrachte Kind zu verbinden und deshalb erläutere er mir jetzt, worauf ich dabei zu achten hätte. Weiter meinte er, er könne sich nicht erklären, warum unser Sohn nicht aufhöre zu schreien, denn eine solche Verletzung würde nicht mehr schmerzen, sobald keine Belastung des Fußes mehr stattfände, und das sei ja wohl der Fall, da mein Mann ihn schon seit mehr als zwei Stunden auf dem Arm trüge. War es nicht allzu verständlich, dass Benjamin sich nach seinen Krankenhauserfahrungen und den Aufregungen des heutigen Tages nicht beruhigen konnte? Auf der Rückfahrt und zu Hause beim Anlegen der Schiene ging ihm die Kraft langsam aus und er wimmerte nur noch ganz kläglich. Die kommende Nacht war wieder zerrissen von Weinen, Wimmern und schreiendem Aufwachen durch Albträume, zumindest hielt ich dieses schreiend aus dem Schlaf Aufwachen für schlimme Träume. Und wieder einmal hatte ich nach dem Aufstehen das Gefühl, nicht geschlafen zu haben und jetzt dringend ins Bett zu müssen. Am anderen Morgen war das Drama aber keineswegs überstanden. Benjamin weinte schon im Bett, sobald er die Schiene an seinem Bein erblickte. Den ganzen Tag über zeigte er immer wieder auf die Schiene und rief verzweifelt: „Da, da!“ Ich musste ihn den kompletten Tag herumtragen, damit er sich wenigstens etwas beruhigte. Er weigerte sich zu spielen und ich war völlig hilflos, weil ich seinen Kummer nicht lindern konnte. Nach und nach wurde mir klar, dass er offenbar glaubte, seine Fähigkeit zum Laufen für immer eingebüßt zu haben. Aber wie sollte ich ihm erklären, dass er bald wieder laufen können würde? Meine Worte schienen ihn nicht zu beruhigen, genauso wenig wie seine heiß geliebten Spieluhren. Diese angespannte Situation hielt fast eine Woche lang an, dann wurde die Schiene durch einen Verband ersetzt. Benjamin beruhigte sich sichtlich und humpelte übereifrig durch die Wohnung. Obwohl er dabei Schmerzen zu haben schien, sagte er keinen Mucks.
An dieser Stelle möchte ich meinen Lesern erklären, warum ich überwiegend davon berichte, dass Benjamin „weinte“ und ich nur selten das Wort „schreien“ dafür benutze. Für die meisten Menschen in unserer Umgebung bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ lediglich in der Lautstärke, und würde ich danach gehen, dann müsste ich eigentlich fast immer vom „Schreien“ unseres Sohnes berichten. Für uns bestand der Unterschied zwischen „Weinen“ und „Schreien“ jedoch darin, dass die Ursachen für Weinen tiefer Kummer, Sorgen, Schmerzen, Hilflosigkeit oder Angst sind. Schreien dagegen deutet eher auf Wut, Frust, plötzliches Erschrecken oder schlechte Laune. Natürlich ist das keine generelle Einteilung, es soll nur erklären, warum ich mich innerlich weigere, Benjamins Reaktionen auf seine Umwelt mit Schreien zu umschreiben. Bereits im Säuglingsalter war zuerst Leon und später auch mir aufgefallen, dass Benjamins Weinen sich deutlich von dem anderer Babys unterschied. Später haben wir uns eingestanden, dass wir beide unabhängig voneinander all die seltsamen Erkrankungen, die uns während unserer Studienzeit über den Weg liefen, in Gedanken durchgegangen waren, weil das Weinen unseres Babys so seltsam und fremd klang. Das sogenannte Trotzalter, wo meine Freundinnen darüber klagten, dass ihr Nachwuchs bei jeder Kleinigkeit wütend herumschreien würde, blieb bei Benjamin aus. Da Kinder um den zweiten Geburtstag herum zunehmend selbständiger werden, aber sich dabei auch oft überschätzen und ihnen somit nicht alles gelingt, führt das zu den von meinen Freundinnen beschriebenen Wutanfällen oder zu trotzigem Verhalten. Benjamin dagegen hatte überhaupt nicht das Verlangen, irgendetwas aus eigenem Antrieb zu verändern. Aus meinem heutigen Verständnis heraus ist die Angst vor etwas Neuem, und dazu gehört auch, sich selber an- oder auszuziehen, einen Stift zu halten …, der Grund dafür, warum Benjamin keine Veränderungen anstrebte. Keine Veränderungen brachten auch keine Misserfolge und damit kein Trotzalter. Andererseits reagierte unser Sohn auf alle von uns erzwungenen Neuerungen mit heftigem Widerstand, was sich vom Nervenaufwand mit dem Trotzalter eines Kleinkindes vergleichen ließe, nur dass dieses „Pseudo-Trotzalter“ viel länger andauerte.
Pflanzen, egal ob draußen oder drinnen, weckten in dieser Zeit immer die Aufmerksamkeit unseres Sohnes. Mindestens einmal am Tag goss er mit seiner Spielzeuggießkanne fiktiv unseren Grünbestand, wobei er nie eine Pflanze übersah, das Spiel nicht langweilig wurde und er jede Neuerwerbung sofort bemerkte, selbst wenn es sich dabei nur um einen winzig kleinen Kaktus handelte. In den Gebrauch der Spielzeuggießkanne hatte ich Benjamin eingewiesen und ich glaube, dass er zu dieser Zeit nie beobachtet hatte, dass lebende Pflanzen mit Wasser gegossen werden, weil das Gießen meiner Gewächse durch unseren anstrengenden Alltag tagsüber nicht möglich war. Nachdem ich eine Mimose gekauft hatte, um Conrad die ungewöhnliche Reaktion dieser bezaubernden Pflanze auf Berührungen zu demonstrieren, versuchte Benjamin die Reaktion der Pflanze zu reproduzieren, indem er beharrlich an das Zwischenfenster klopfte, hinter dem die filigrane Mimose gedieh. Wieder einmal hatte ich geglaubt, dass mein Sohn unsere Aktivitäten überhaupt nicht mitbekam, da er sich weder zu uns gesellte noch uns aus der Ferne zuzusehen schien. Nachdem auch Benjamin die Mimose, wie Conrad sagte, „erschrecken“ durfte, versuchte er trotzdem weiterhin, die Mimose durch Klopfen an die Scheibe zu einer Reaktion zu bringen.
Diese Pflanzenliebe machte ich mir zunutze und so verbrachten wir viele Tage im Botanischen Garten. Als ich das erste Mal mit Benjamin in die prachtvollen Gewächshäuser gehen wollte, musste ich feststellen, dass Kinderwagen und auch Buggys dort drinnen nicht erlaubt waren. Also nahm ich Benjamin auf den Arm. Zu meinem allergrößten Erstaunen signalisierte mein sonst so laufscheuer Sohn, dass er meinen Arm verlassen wollte. Er marschierte fleißig durch die Gewächshäuser, ließ verschiedenste Blättchen über seine zarten Händchen streifen und bestaunte große Blüten in mannigfaltigen Farben. Ein kleiner See mit Trittplatten machte ihm Angst, hier ließ er sich vorsichtshalber darüber tragen. Im Sukkulenten-Gewächshaus angekommen, strebte Benjamin auf einen gewaltigen Kaktus zu, der mindestens doppelt so groß war wie er selbst. Für seine Größe riesige Dornen ragten in alle Richtungen. Schon wollte ich meinen Sohn ergreifen und in Sicherheit bringen. Da fiel mir auf, wie vorsichtig, ja fast ehrfurchtsvoll, er sich dem wehrhaften Wüstenbewohner näherte. Ich hielt mich zurück und wartete gespannt ab. Inzwischen stand Benjamin vor dem Kaktus und berührte mit dem rechten Zeigefinger vorsichtig die Spitze eines Dornes in Augenhöhe. Er gab ein „Au!“ von sich, pustete seinen Finger und wiederholte die Prozedur einige Male. Dann benutzte er den linken Zeigefinger als Prüfwerkzeug. Nach mehreren Versuchen ging er zum nächsten Dorn über: Anfassen, „Au!“, Pusten, Anfassen, „Au!“, Pusten … Ich liebte die Besuche im Botanischen Garten unter anderem deshalb, weil er an Wochentagen nur wenig frequentiert wurde. Aber jetzt betrat eine ganze Gruppe älterer Damen das Gewächshaus. Aus meiner Erfahrung wusste ich, dass gerade Frauen im fortgeschrittenen Alter häufig Kontakt zu kleineren Kindern suchen und Benjamin schien als süßer, kleiner Junge mit weichen, blonden Löckchen dafür äußerst geeignet. Instinktiv suchte ich mit den Augen die nächste Tür, denn ich glaubte zu wissen, was jetzt passieren würde. Aber nichts geschah! Obwohl die Damen inzwischen hinter Benjamin standen und sich an seinen Experimenten ergötzten, schien Benjamin völlig in seine Tätigkeit versunken zu sein. Zwei Dinge lernte ich an diesem Tag: In der richtigen Umgebung hatte auch mein Sohn Spaß daran, draußen, oder zumindest außerhalb der Wohnung, herumzulaufen. Und zweitens war Benjamin sogar in der Lage, fremde Menschen in unmittelbarer Nähe zu ertragen, wenn ihm seine momentane Beschäftigung äußerst wichtig war.
Die siebente Vorsorgeuntersuchung brachte zum ersten Mal zu Tage, dass in der Entwicklung unseres Sohnes etwas nicht stimmte. Sobald die Schwester bei der Gewichtskontrolle mit ihm in Kontakt getreten war, begann Benjamin zu weinen und war dann nicht mehr zu beruhigen. Im Behandlungszimmer der Ärztin flüchtete er vom Behandlungstisch, indem er das seitliche Treppchen sicher herunterstieg und beim Rutscherauto in der äußersten Ecke des Zimmers Zuflucht suchte. Die Ärztin forderte mich ein wenig gereizt auf, ich solle mein Kind zurückholen und dafür sorgen, dass es während des Tests auf dem Tisch verweile. Sie erwähnte weiterhin, dass sie von seinen motorischen Fähigkeiten bereits überzeugt sei. Es gelang mir nicht, meinen Sohn auf den Tisch zu setzen. Er sprang sofort wieder auf, krallte sich ängstlich an mir fest und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Nach einem kurzen Gespräch mit mir schrieb die Ärztin in sein Untersuchungsheft: „Denver Test: ignoriert Aufforderung; nur nach Befragen der Mutter altersentspr. Entw.“ Ich kann meine Gefühle in diesem Moment nur schwer wiedergeben. Ich fühlte Tränen in mir aufsteigen, war wütend auf mich und verzweifelt. Was machte ich nur falsch bei Benjamin und wieso war Conrad ein so unkompliziertes Baby und Kleinkind gewesen? Da Benjamin keine organischen Schäden aufwies, musste es doch mein Versagen sein, welches seine Entwicklung in die falschen Bahnen lenkte. Ich fand damals jedenfalls keine plausible Erklärung für seine Verweigerung. Die Dinge, die die Ärztin im Test von ihm verlangte, erledigte er zu Hause mit Leichtigkeit, zumindest traf das für die grob- und feinmotorischen Aufgaben zu. Ich erwähnte im Gespräch mit der Ärztin zum wiederholten Male seine unveränderten Schlafstörungen und tat meine Sorge über die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes kund. Die Schlafstörungen verharmloste die Ärztin damit, dass viele Zweijährige protestieren täten, wenn sie ins Bett gebracht würden. Wie sollte ich auch erklären, dass etwas so schlecht Messbares wie der Gesamtschlaf einer Nacht bei einem Kind, das häufig weinend aufwacht und dann ewig braucht, bis es wieder einschläft, uns nicht ausreichend erschien. Wann hat ein Kind eigentlich Schlafstörungen? Dafür gibt es doch keine Mess- und Richtwerte wie für Blut- und Urintests. Die verzögerte Sprachentwicklung erklärte mir die Ärztin damit, dass Jungen häufig später sprechen lernen würden als Mädchen und dass Zweitgeborene meistens langsamer die Sprache erwerben täten, weil sie öfter mit dem Erstgeborenen und dafür weniger mit den Eltern kommunizieren würden. Damals erschien mir das durchaus plausibel und in meinem tiefsten Innern war ich wohl froh, dass die Ärztin unsere Sorgen zerstreute und zum Abwarten riet. Der Denver-Test sollte nach spätestens zwei Monaten wiederholt werden, wozu es aber nicht kam, weil Benjamin auch zum späteren Zeitpunkt nicht kooperationsbereit war. Das gelbe Untersuchungsheft gaukelte uns damals vor, dass die Probleme unseres Sohnes nicht besorgniserregend waren. Heute bin ich der Meinung, dass in der Spalte „Erfragte Befunde“1 folgende Punkte hätten unbedingt angekreuzt werden müssen:
„altersgem. Sprache fehlt (z. B. keine Zweiwortsätze, kein Sprechen in der 3. Person wie ‚Peter essen‘)“
„altersgem. Sprachverständnis fehlt (z. B. kein Zeigen auf Körperteile nach Befragen, kein Befolgen einfacher Aufforderung)“
„Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Schlafstörungen)“
Daraus ergibt sich natürlich die zwingende Frage, wie Benjamins Entwicklung zu diesem Zeitpunkt schon hätte professionell gefördert werden können. Darüber zu spekulieren, wäre allerdings reine Energieverschwendung.
Die ungewöhnliche Sprachentwicklung unseres Sohnes äußerte sich in vielen Besonderheiten. Außer der Beobachtung, dass Benjamin eher mit sich selbst sprach und nur bei dringenden Bedürfnissen mit uns kommunizierte, fiel uns auf, dass er keine Zweiwortsätze bildete. Einige Wörter sprach er sehr deutlich aus, andere dagegen nur rudimentär. Schon damals beobachteten wir, dass er viele Wörter lediglich ein einziges Mal benutzte. Danach schienen sie aus seinem Sprachgebrauch verschwunden zu sein. Es sollte noch über drei Jahre dauern, bis wir die Gewissheit hatten, dass davon nur Benjamins aktiver Wortschatz betroffen war, keineswegs jedoch sein passiver Wortschatz. Viele kleine, zufällige Erlebnisse zeigten uns immer wieder, dass sein Sprachverständnis sich nahezu altersgerecht entwickelte. So erwiderte er auf die Feststellung, dass sein Teller „Alle, alle!“ sei, immer: „Leer!“. Im Übrigen war er laufend damit beschäftigt, seine Spiele mit ausdauernden Monologen zu kommentieren, aber uns gelang es kaum, ein für uns verständliches Wort herauszuhören. Die folgende Aufzählung soll seine Sprachentwicklung in dieser Zeit verdeutlichen:
10 Monate: „pap-pap“
11 Monate: „Ball-la“
12 Monate: „brumm, brumm“ (Auto)
13 Monate: „danke“
14 Monate: „mam-mam“ (für Essen und Zähneputzen), „Nani“ (Banane), „alle“
15 Monate: „Hammer“
16 Monate: „Teddy“ (zu allen Plüschtieren)
17 Monate: „Leiter“, „Eimer“, „Gag-gag“ (alle Badetiere), „Nane“ (Banane), „Mama“ und „Papa“ (nicht als Anredeform)
18 Monate: „Decke“, „Auto“ (Autos und Boote)
19 Monate: „eins, zwei, drei“, „geht nicht“, „halt“
20 Monate: „Nein, nein“, „Kröte“, „mehr“, „baden“, „Didi“ (Dinosaurier und Krokodile), „Mille“ (Milch)
21 Monate: „na klar“, „Wasser“
22 Monate: „Hallo“ (ins Spielzeugtelefon), „Ei“, „Wau“, „leer“, „Saft“
23 Monate: „Arielle“, „Ines“
Mehr verständliche Worte bekamen wir in den ersten zwei Lebensjahren von unserem Sohn nicht zu hören. Ein zweijähriges Kind sollte einen Wortschatz „von vielleicht 30 Wörtern“2 bis zu 2503 Wörtern besitzen, aber kann man Wörter, die nur ein einziges Mal oder sehr selten benutzt werden, als Wortschatz bezeichnen? Wörter wie „eins, zwei, drei“ oder „Kröte“ zählten für mich damals jedenfalls nicht zum Wortschatz meines Kindes, weil ich sie für Zufälle hielt. Auch heute vermag ich auf diese Frage keine Antwort zu geben. Auffällig war weiterhin, dass Benjamin keine Fragewörter benutzte, keine Fragen beantwortete und uns nicht mit Mama oder Papa ansprach. „Mama“ und „Papa“ glaubten wir wenige Male in seinen Monologen zu hören, wenn er mit seinem DUPLO-Zoo spielte. Er benutzte seine karge Sprache nur, um etwas zu bekommen, jedoch nicht, um mit anderen Kontakt aufzunehmen. Warum konnte er aber seine Spiele mit einem derart lebhaften Geplapper untermalen und warum blieb die Qualität seiner Sprache dabei unverändert? Bücher zum Thema Spracherwerb wurden nun zu meiner bevorzugten Lektüre, aber keines kannte unsere Probleme und konnte mir irgendwie weiterhelfen. Wie sollte ich zum Beispiel einem Kind Bilderbücher vorlesen, wenn ich es nicht dazu bewegen konnte, neben mir zu sitzen und zuzuhören? Warum war mein Kind nicht an meinen Vorlesekünsten interessiert? Auch für Fingerspiele, Singen oder Musizieren zeigte Benjamin kein Interesse. Wenigstens ertrug er es einigermaßen gelassen, wenn ich mit Conrad sang und musizierte, immer in der Hoffnung, er würde sich doch einmal zu uns gesellen. Die Tochter meiner Freundin, die fast zweijährige Lisa, ließ sich inzwischen von mir mit großer Freude Bücher vorlesen, beantwortete bereitwillig einfache Fragen und hörte auch gespannt zu, wenn Conrad für Lisa den Inhalt von Benjamins Büchern erzählte. Benjamin schien das überhaupt nicht zu stören, er war kein bisschen eifersüchtig auf Lisa. Im Gegenteil: Offenbar war er froh, wenn sich niemand in sein Spiel einmischte. Er genoss es, nicht beachtet zu werden. Zu Beginn hielt ich das Fehlen von Eifersucht für eine charakterliche Stärke meines Sohnes, aber ziemlich bald fragte ich mich, ob es nicht eher ein Defizit in seiner sozialen Entwicklung darstellte.
Von den Büchern zum Thema Sprache und Spracherwerb wurden wir genauso enttäuscht wie von anderen Ratgebern. Werke mit verheißungsvollen Titeln wie „Jedes Kind kann Regeln lernen“, „Jedes Kind kann richtig essen“ oder „Jedes Kind kann schlafen lernen“, die sich „Kompetente Ratgeber für den Alltag“ nennen, wurden von einigen unserer Bekannten hoch gelobt und uns empfohlen, weil wir dort Hilfe finden würden. Wir als verzweifelte Eltern mussten allerdings feststellen, dass all diese vielversprechenden Ratschläge bei unserem Kind nicht funktionierten und uns keinen Schritt weiterbrachten. Gehörte unser Sohn also nicht zu der Kategorie „jedes Kind“? Und wenn er nicht ein „jedes Kind“ ist, was ist er dann für ein Kind?
Eines Abends, kurz vor Benjamins zweitem Geburtstag, bemerkten wir einen bedrohlichen Riss im Putz der Decke des Kinderzimmers. Ich nahm die Kinder und kreuzte kurzerhand bei meinen Eltern auf, während mein Mann die Feuerwehr rief. Die Kinder hatten schon gegessen und gebadet und sollten gerade ins Bett gebracht werden. Um ihnen unnötige Aufregung zu ersparen, hielten wir es für besser, dass ich mit ihnen wegging, bis die Situation geklärt war. Doch Benjamin fing schon an zu weinen, als wir bei seinen Großeltern vor der Tür standen. Drinnen versuchte ich, mich mit den Kindern auf eine Couch zu legen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, aber Benjamin stand auf der Couch, versuchte trotz Schlafsack zu fliehen und weinte immer lauter. Seine Großmutter kam herein, um mir gute Ratschläge zu geben, und Benjamin weinte noch heftiger. Sie hielt mich offenbar für völlig unfähig im Umgang mit diesem Kind, wobei ich das langsam selber glaubte, denn jeder Versuch, ihn zu beruhigen, scheiterte. Jedes Mal, wenn meine Mutter eine neue Idee zum Beruhigen zu haben glaubte, kam sie erneut herein und jedes Mal schien Benjamin noch verzweifelter zu weinen. Sicherlich hatte meine Mutter das nur gut gemeint, aber sie konnte mir nicht glauben, dass dieses kleine Kind voller Panik war und keinen Ausweg für sich aus dieser Situation sah. Vielleicht glaubte Benjamin, er müsse jetzt für immer hier bleiben oder ich würde ihn verlassen oder … Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass es pure, nackte Angst war, die dieses kleine Bündel in meinen Armen verspürte, gepaart mit Hilflosigkeit, Müdigkeit und dem Gefühl einer Ohnmacht der ganzen Situation gegenüber. Auch ich fühlte mich hilflos, denn nichts, was ein anderes Kind beruhigt hätte, funktionierte bei Benjamin: kein Streicheln, kein Zureden, kein Singen, kein Schmusetier, kein Lieblingskissen, kein Trinken, kein Keks … Meine Arme schmerzten, denn es war Schwerstarbeit, Benjamin, der heftig um sich schlug, festzuhalten, damit er nicht sich oder andere verletzte. Gerade als ich nach mehreren Stunden kaum noch die Kraft hatte, mit dieser Situation weiterhin fertig zu werden, kam mein Mann und erklärte uns, der Gutachter der Feuerwehr hielte den Riss für ungefährlich, und deshalb würde er uns jetzt wieder nach Hause bringen. Kaum hatte er das gesagt und Benjamin auf den Arm genommen, hörte unser Sohn auf zu weinen, schluchzte nur noch kläglich und sank erschöpft auf die Schulter meines Mannes. Hatte er die Worte meines Mannes wirklich richtig verstanden? Da er sonst auf Fragen oder Bitten nie reagierte, zweifelte ich oft daran, ob er verstand, was wir sagten. Jetzt wurden diese Zweifel gerade wieder einmal zerstreut. Endlich zu Hause angekommen, kroch Benjamin sofort in sein Bett, obwohl er noch seine Jacke über seinem Schlafsack trug. Das wunderte uns sehr, denn so ein „Fehler“ unterlief ihm sonst nie. Noch mehr waren wir aber erstaunt, als wir sahen, dass Benjamin sofort einschlief. Eigentlich hatte ich mich innerlich schon auf massive Einschlafprobleme eingestellt. War er vom vielen Weinen körperlich zu ausgelaugt? Sicherlich, denn nach ein paar Stunden Schlaf wachte er wieder weinend auf und es folgten wie immer unzählige Beruhigungsversuche. Zu dieser Zeit war ich aber wenigstens durch die kleine Portion Schlaf etwas ausgeruht. In mir regte sich die bange Frage, wie lange ich noch diesen physischen Belastungen standhalten konnte, wenn Benjamin jede Fremdbetreuung verweigerte.
Meine zwei Erziehungsjahre waren fast um und erneut sah unsere theoretische Planung vor, dass ich meine Berufstätigkeit nun wieder aufnehmen würde. Allerdings wusste ich nicht, wie sich Benjamin in den Kindergarten eingewöhnen sollte, da er noch immer keine Person außer mir und meinem Mann an sich heranließ. Die Kinderärztin äußerte sich bedenklich zu einem Kindergartenbesuch, da er weiterhin häufig krank war. Gerade hatte er wieder einmal eine Rachenentzündung überstanden, schon fieberte er erneut. Ich beschloss, meinen Sohn wenigstens in der Kindertagesstätte einmal vorzustellen, denn vielleicht würde mir dies erleichtern, eine Entscheidung zu fällen. Benjamin verhielt sich in der fremden Umgebung nicht so ängstlich wie erwartet. Er weinte nicht, verließ auch kurzzeitig meinen Arm und lief ein paar Schritte herum – was für ein Fortschritt! Das spielte sich aber alles nur im Büro der Leiterin ab und er bekam kein fremdes Kind zu Gesicht. Trotzdem schöpfte ich neue Hoffnung, vielleicht war das Eis ja nun gebrochen. Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als mir die Leiterin erklärte, dass sie keine Kinder aufnähme, die mit zwei Jahren noch nicht sauber seien. Es stünden genug Kinder auf der Warteliste und die Erzieherinnen hätten eh schon genug zu tun. Ich würde aber meinen Platz auf der Warteliste nicht verlieren und könne mich wieder melden, wenn Benjamin sauber wäre. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und so verschlug es mir die Sprache. Was konnten wir jetzt noch tun? Meine Vernunft riet mir, in meinen geliebten Beruf zurückzukehren, mein Bauchgefühl sagte mir, dass mich mein kleines, kompliziertes Söhnchen dringender brauchte. Mein Bauchgefühl siegte und dabei spürte ich eine wohltuende Erleichterung. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Wir beschlossen, Benjamin vorerst für ein weiteres Jahr zu Hause zu behalten.
Im verregneten Herbst begannen wir, Benjamin am Wochenende manchmal zu erlauben, einen Kinderfilm zu schauen. Conrad konsumierte zu dieser Zeit ausschließlich Disney-Filme und so kuschelten wir uns alle zusammen und sahen, anstatt Mittagschlaf von Benjamin zu erhoffen, einen Film. Ich war mir allerdings nie sicher, wie viel Benjamin von der Handlung mitbekam. Er schaute die Filme ruhig und konzentriert und ich wusste, dass wir den Film auf keinen Fall unterbrechen durften, wenn wir die Harmonie des Nachmittages nicht gefährden wollten. Die aktuellen Lieblingsfilme unserer Kinder waren Bambi und Dumbo. Benjamin schaute diese Filme auch in der x-ten Wiederholung genauso konzentriert. Er redete dabei nie und zeigte uns keine Szenen, die ihm vielleicht gefielen. Als er zum ersten Mal Cinderella sah, brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus, und zwar an der Stelle, als eine neue Maus ins Haus kam. Diese Maus war so dick, dass das Hemdchen, welches sie von Cinderella übergestreift bekam, nach oben schnippte und das Mäusebäuchlein freigab. Dieses herzhafte Lachen zeigte uns, dass Benjamin wenigstens teilweise verstand, was in diesen Filmen vor sich ging. Er lachte übrigens bei jeder Wiederholung des Filmes an exakt derselben Stelle, was ihm für eine Weile den Spitznamen „Mäuschen“ einbrachte. Eine Parallele dazu fand ich im Bericht einer Mutter über ihren autistischen Sohn: „Kinobesuche waren eine der wenigen Unternehmungen, die Whitneys Aufmerksamkeit fesselten – und mir etwas Ruhe verschafften. […] Eines Nachmittags schauten wir uns […] Schneewittchen an. Die Zwerge kamen gerade von ihrer schweren Arbeit im Bergwerk zurück und wuschen sich. Als sie ihre Bärte einschäumten, brach Whitney unvermittelt in Lachen aus.“4 Der hier beschriebene Junge hatte bis dahin keinen Laut von sich gegeben.
Viele Jahre später wurde ich von mehreren Fachleuten und Therapeuten gefragt, wann wir denn bei unserem Sohn das erste Mal an Autismus gedacht hätten: Es war genau in dieser Zeit um seinen zweiten Geburtstag herum. Auch wenn die Kinderärztin vorerst nichts Bedrohliches in der Entwicklung unseres Sohnes sah, machten wir uns weiterhin Gedanken und suchten nach Erklärungen. Hatten wir ein verhaltensgestörtes Kind? Und wenn ja, was würde das überhaupt bedeuten? Von einer Tabelle „Typische Eigenschaften eines verhaltensgestörten Kindes“5 glaubte ich, folgende Kriterien würden auf unser Kind zutreffen: „Folgt Anweisungen nicht. […] Spricht auf Disziplin nicht an. […] Wutanfälle. Hört Erzählungen nicht richtig zu. Trotz. […] Reizbarkeit. […] Sprachstörungen. Ungeduld.“ Wobei ich Wutanfälle und Trotz eigentlich für Angst und Panik hielt, aber das kam in dieser Tabelle nicht vor. Eine solche Anzahl von typischen Merkmalen ließe nun soziale Anpassungsschwierigkeiten vermuten. Dies brachte uns auf den Gedanken an Autismus. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt den Film „Rain Man“, aber dieser Autist hatte mit unserem Sohn nur die Gemeinsamkeit, dass er auf absoluter Gleichförmigkeit seines Alltags bestand. Andererseits erzählte der Film fast nichts über die Kindheit des Protagonisten. Weitere Recherchen führten uns zu der Erkenntnis, dass es sich bei Benjamins Problemen nicht um Autismus handeln konnte, da wir zur damaligen Zeit in der uns zugänglichen Literatur nur folgendes Bild eines Autisten fanden: „Das Kind hält sich von jedem fern, kann keine Beziehungen aufbauen, vermeidet Augenkontakt, spielt alleine für sich […]. Typisches Merkmal ist ein extremer Widerstand gegen Änderungen jeglicher Art. Das Kind reagiert mit heftigen Wutausbrüchen auf Störungen des Tagesablaufs oder seiner Tätigkeit. Beim Spielen entwickelt es Rituale, geht oft enge Bindungen zu Gegenständen ein, hat einen Hang zu Eintönigkeit und ist oft wie besessen von einem Thema. Die extreme Abkapselung macht es schwer, dem Kind neue Fähigkeiten zu vermitteln. Auch sonst verhält sich ein autistisches Kind ungewöhnlich: Es geht auf Zehenspitzen, spielt stundenlang mit den Fingern und wiegt sich endlos.“6 Nein, das war nicht unser Sohn, der dort beschrieben wurde. Einiges mochte ja zutreffen, aber Benjamin hatte zumindest zu uns Eltern eine innige Beziehung, hielt kurzzeitig Blickkontakt und wiegte sich nicht stundenlang oder ging auf Zehenspitzen. Da niemand außer uns die Probleme unseres Sohnes erkannte oder sehen wollte, beschlossen wir, an allem, was uns beunruhigte, mit Benjamin zu arbeiten.
In der Wohnung war es eine von Benjamins Lieblingsbeschäftigungen, mit einem Rutscherauto herumzusausen. Das hatte er vor knapp einem Jahr gelernt und er zeigte ungebrochene Freude daran. Nun versuchte ich, ihm draußen das Dreiradfahren beizubringen. Seit Wochen hatten wir einen festen wöchentlichen Termin zum Üben. Am Anfang weigerte sich Benjamin, sich auf das Dreirad zu setzen. Stattdessen schob er es durch die Gegend. Jetzt, da er endlich bereit war, sich auf das ungewohnte Gefährt zu setzen, konnte ich ihn nicht dazu bewegen, die Füße auf die Pedalen zu stellen. Gewohnheitsmäßig wollte er das Dreirad immer wieder wie ein Rutscherauto benutzen und drohte jedes Mal dabei umzukippen. Egal wie viel Energie ich auch in dieses Projekt steckte, es gelang mir nicht, Benjamin das Dreiradfahren beizubringen. Er lernte zwar später mit einem Kindertraktor in die Pedalen zu treten, aber zu dieser Zeit entmutigte mich dieser Rückschlag sehr. Dahinter verbarg sich die ängstliche Frage, was ich ihm überhaupt beibringen konnte. Oder lernt er nur Dinge, die er sich selbst beibringt oder selbst erkennt wie zum Beispiel das Bauen mit DUPLO-Bausteinen? In der Erzählung eines autistischen Jungen las ich später Folgendes zum Thema Dreiradfahren: „Der Junge setzte sich auf das Dreirad, während die Eltern abwechselnd von hinten schoben. […] Der Junge blieb passiv sitzen […].“„Los, befahl der Junge schweigend seinen Beinen. Doch die Beine bewegten sich nicht, und Mutter und Sohn wurden besorgt und wütend.“7 Beim Lesen dieser Passage fragte ich mich unwillkürlich, ob es meinem Sohn damals genauso ergangen war. Konnte er seinen Beinen nicht befehlen, in die Pedalen zu treten?
Auf anderen Gebieten konnte ich bis zum dreißigsten Lebensmonat immer häufiger kleine Erfolge verbuchen. So gelang es mir nach über einem Jahr Übung, Benjamin beizubringen, einen Stift zu halten und damit selbständig ein paar Striche zu ziehen. Dabei handelte ich ähnlich wie damals mit dem Löffel. Ich gab meinem Sohn immer wieder einen Stift in die Hand, hielt ihn fest und zog ein paar Linien mit ihm zusammen. Diese Bilder befestigte ich dann neben Conrads Kunstwerken an der Pinnwand. Das erste Ergebnis, ein kleines von Benjamin eigenhändig verziertes Partydeckchen, rührte mich damals zu Tränen. Niemand außer meinem Mann konnte das nachvollziehen, denn für gewöhnlich greifen kleine Kinder selbst zum Stift und malen munter drauflos. Die meisten Eltern, die wir kannten, wussten das überhaupt nicht zu würdigen, sondern waren eher genervt, wenn ihr Kind dann auch Wände oder andere Dinge verzierte. Im Buddelkasten zeigte Benjamin mittlerweile immer mehr Ausdauer, sofern ich mich dazu setzte und mit ihm Sandburgen, Straßen oder andere Dinge baute. Ich musste ihm Schritt für Schritt beibringen, wie man buddelt, weil er dafür keinen Plan zu haben schien. Entfernte ich mich aus dem Buddelkasten, so hörte er auf zu buddeln und trat den Heimweg an. Selten ertrug mein Sohn jetzt auch andere Kinder im Buddelkasten, wenn sie weit genug weg und nicht zu laut waren, und wenn sie in geringer Anzahl auftraten. An guten Tagen, das heißt an Tagen ohne Arztbesuche oder andere Unregelmäßigkeiten, und wenn Benjamin einigermaßen störungsfrei geschlafen hatte, ließ er sich manchmal kurz in ein Geschäft oder in den Supermarkt mitnehmen. Dabei saß er aber immer noch im Buggy oder im Kindersitz des Einkaufswagens. Jedes Mal musste ich peinlich genau darauf achten, dass niemand Benjamin ungebührlich nahe kam. Denn dann konnte die ganze Situation kippen und Benjamin die Fassung verlieren.
In dieser Zeit erlebte ich es häufig, dass wildfremde Frauen auf mich zukamen und mir mehr oder weniger freundlich Ratschläge zur Sprachentwicklung meines Sohnes gaben, wenn sie sein munteres, aber offensichtlich völlig sinnloses Geplapper hörten. Der häufigste Vorwurf bestand darin, dass ich mit meinem Sohn zu wenig reden würde. Ich stand dann jedes Mal völlig hilflos und wütend da. Hilflos, weil ich so sehr nach einer Erklärung für die Probleme von Benjamin suchte und seine Sprachprobleme dabei momentan in unseren Fokus gerückt waren. Und wütend, weil sich diese Frauen anmaßten, mir zu unterstellen, ich würde nicht mein Möglichstes tun und weil sie glaubten, alles besser zu wissen. Konnten sie sich denn nicht vorstellen, dass es auch Dinge gab, von denen sie keine Ahnung hatten? Ich möchte nicht überheblich wirken, aber ich kannte meinen Sohn besser und ich hatte einen zweiten Sohn, der sich prächtig entwickelte.
Auch beim Windelkauf mit Benjamin bekam ich ungefragt Tipps zur Sauberkeitserziehung. Ich erinnere mich an eine Szene, wo eine Frau mittleren Alters nicht mich, sondern Benjamin just in dem Moment ansprach, als ich mich bückte, um aus dem untersten Regalfach die Maxiwindeln hervorzuziehen. Diese Frau kreischte ihn mit schriller Stimme an: „So ein großer Junge und braucht noch Windeln. Du solltest dich aber schämen, in deinem Alter!“ Es kam, was kommen musste: Benjamin schrie verzweifelt auf, fing an, mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, und wurde völlig hysterisch. Ich verließ sofort mit Benjamin den Supermarkt, wobei die Frau mir noch hinterherrief, dass „dieses Gör“ ja völlig verzogen sei. Wie kommt es nur, dass ein bestimmter Typ von Frauen glaubt, alles über Kindererziehung zu wissen und alles richtig zu machen oder richtig gemacht zu haben? Wie vermochte ich mich solchen Personen zu entziehen, die einem doch überall begegnen konnten? Sollte ich mich mit Benjamin zurückziehen, nur weil solche Leute versuchten, die zarten Pflänzchen unserer kleinen Erfolge zu zertreten? Wie gerne hätte ich mit jemandem geredet, der mir wirklich sagen konnte, welcher Natur all die Ungereimtheiten in Benjamins Entwicklung waren.
Als wir wieder einmal meine Freundin Victoria und ihre Tochter Lisa besuchten, bescherte mir Benjamin abermals eins von den verblüffenden Erlebnissen, die mich schon öfter in Staunen versetzt hatten. Lisa und Benjamin saßen auf einer Decke und hatten Lisas gesamten Buchbestand um sich geschart. Das ging so weit auch gut, weil Lisa inzwischen eingesehen hatte, dass Benjamin „sauer“ wird, wenn sie ihn stört, also beschäftigte sie sich lieber mit Conrad, dem die Rolle als Großer sichtlich gefiel. Benjamin blätterte wie immer ein Buch nach dem anderen mit rasender Geschwindigkeit durch. Lisa zeigte geduldig auf Dinge, nach denen Conrad sie fragte oder beantwortete auch Fragen wie: „Und was ist das hier?“ Conrad nahm ein Gummibuch und breitete es vor Lisa aus. Gerade holte er Luft, um seine nächste Frage zu formulieren, da sprang Benjamin, der vorher etwas abseits und halb abgewendet dagesessen hatte, herbei und zeigte auf ein Haus mit dem Kommentar: „Haus“. Und dann gleich noch einmal: „Eimer“, und er wies auf einen Eimer. Ich war völlig sprachlos und überrumpelt und auch Victoria schaute mich ungläubig an. Benjamin beachtete uns nicht weiter und nahm seine vorherige Tätigkeit wieder auf. Wir dagegen diskutierten nun, was das bedeuten könnte. Unterschätzte ich vielleicht völlig seine Fähigkeiten? Fand es Benjamin langweilig, wenn ich ihn dazu bewegen wollte, über seine Bilderbücher mit mir zu kommunizieren? Jedenfalls hatte ich jetzt die Gewissheit, dass er zumindest teilweise mitbekam, was er sich in seinen Büchern anschaute. Leider war dieses Zeigen und Benennen eine Eintagsfliege. Und wieder stand die Frage im Raum, warum Benjamin weder Lob noch Beachtung für seine Leistung erwartete. Und warum hatte er sich in diesem Moment zu dieser Leistung hinreißen lassen, wo er doch sonst derartige Aktivitäten verweigerte. Äußerte ich vielleicht eine Bemerkung über Benjamin zu Victoria, die meinen Sohn zu dieser spontanen Idee veranlasste? Meine Gedanken kreisten wieder einmal immer schneller und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen türmten sich auf. Ich wusste auch nicht, wie ich jetzt verfahren sollte. War es richtig, weiter zu versuchen, mit Benjamin gemeinsam Bücher anzuschauen oder war es überflüssig, weil Benjamin kein Interesse daran zeigte und offensichtlich auch so genug lernte? Aber Lernen war nicht alleine entscheidend. Was nutzte es ihm, wenn er lernte, aber nicht mit anderen kommunizieren konnte? Wenn bei den meisten kleinen Kindern Lernen ein Ergebnis von Kommunikation war, so war es bei Benjamin offenbar umgekehrt. Bei ihm musste ich Gelerntes nutzen, um ihm Kommunikation und Interaktion beizubringen. Für uns war das eine wichtige Erkenntnis, für die Personen in unserer Umgebung war es unverständlicher Quatsch.
Da Benjamin vorerst als Hauskind aufwuchs, beschloss ich, mit ihm eine Kleinkindgruppe der evangelischen Kirche aufzusuchen, um ihm die Möglichkeit zu geben, soziale Kontakte zu gleichaltrigen Kindern zu knüpfen. Bis jetzt hatte das nicht geklappt und ich glaubte damals, dass nur die Personen oder die Umstände daran schuld wären. Waren die Kinder meiner Freundinnen nicht nach seinem Geschmack? Vielleicht fand er Lisa zu schüchtern und Kilian zu draufgängerisch … Oder er konnte in einer unstrukturierten Umgebung, wie es der Spielplatz war, keine Kontakte knüpfen. Deshalb schien mir die kleine Mutter-Kind-Gruppe im Gemeinderaum des Pfarrhauses eine ideale Umgebung zu sein. Aber unser erster Besuch dort sollte auch unser letzter sein. Da ich den Buggy im Flur abstellen musste, hatte ich große Mühe, Benjamin mit Drängeln und Schieben in den Raum zu bekommen. Wenigstens weinte er nicht. Er versteckte sich hinter meinem Rücken, als die Leiterin der Gruppe, eine Nonne, ihn begrüßen wollte. „Na, da haben wir aber "nen ganz Schüchternen“, sagte sie und ließ ihn nach dieser Bemerkung zu meiner Erleichterung in Ruhe. Durch weiteres Drängeln und Schieben schafften wir es bis zu einem Stuhl. Benjamin kletterte auf meinen Schoß und klammerte sich wie ein kleines Äffchen an mir fest. Wahrscheinlich wollte er in dieser Haltung einfach diese neuerliche Tortur, die ich mir für ihn ausgedacht hatte, überstehen. Zu seinem Leidwesen kamen aber jetzt einige Kinder der Spielgruppe, die an dem Neuzugang interessiert waren, auf uns zu und stellten Fragen wie: „Wie heißt der denn?“ oder „Warum kommt der denn nicht spielen“. Benjamin vergrub sich immer tiefer in meinem Schulterblatt und fing an zu zittern. Währenddessen hatte Conrad die mitgebrachten Kekse auf den Imbisstisch gelegt und war in der Spielecke verschwunden. Das Rascheln der Kekspackung weckte schlagartig Benjamins Aufmerksamkeit. Essbares, was frei herumlag, konnte er nicht ertragen. Er kletterte herunter und rannte an den Kindern vorbei zu dem Tisch mit den Köstlichkeiten. Noch ehe er dort angekommen war, stellte sich die Leiterin in den Weg und Benjamin erschrak zutiefst. Weinend kehrte er zu mir zurück, worauf die Nonne mir streng erklärte: „Wir verzehren die Gaben Gottes erst nach der Spielstunde, und zwar gemeinsam.“ Irgendwie musste ich Benjamin beruhigen, also gab ich ihm einen Keks aus meiner Tasche. Wie sollte ich ihm erklären, dass er das Essen noch nicht anrühren darf, wo er mir doch scheinbar nicht zuhörte? Zu Hause lag kein Essen offen herum, weil Benjamin sonst nur am Futtern gewesen wäre. Er hatte offensichtlich immer Hunger oder Appetit. Jetzt wurde die Nonne sehr ärgerlich und warf mir vor, ich würde die Regeln des Zusammenseins nicht befolgen und ich solle nicht die Erziehung der anderen Mütter untergraben, indem ich meinem Kind freien Lauf ließe. Ein bisschen Strenge habe noch keinem Kind geschadet. Auch einige der anwesenden Mütter fingen an, über mich und mein ungezogenes Kind zu tuscheln. Es ist immer schwer, in eine bestehende Gruppe neu dazuzukommen, aber mit Benjamin schien es unmöglich. Ich hatte nur mit diesem Kind zu tun und konnte nicht einmal ein Gespräch beginnen. Was wollte ich eigentlich hier? Kaum war der Keks verschwunden, forderte Benjamin den nächsten. Als ich ihm den verweigerte, lief er weinend zur Tür. Da er aufgrund seiner Körpergröße die Türklinke erreichte, musste ich hinterherlaufen, sonst wäre er weggelaufen. Nachdem wir das mehrmals durchhatten – weglaufen, einfangen, zurückbringen, weglaufen … – war ich am Ende meiner Kräfte, zumal mein nunmehr kugelrunder Babybauch meine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte. Ich gab auf und verabschiedete mich mit der Ausrede, noch einen Arzttermin zu haben. Die Nonne fragte mich in einem zuckersüßen Ton: „Werden wir Sie nächste Woche wieder in unserer Runde begrüßen dürfen?“ Ich sagte ja, falls mir nicht mein Baby einen Strich durch die Rechnung macht. Das war gelogen, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass ich da nicht wieder hingehen würde, war aber zu feige, es zuzugeben. Hinterher fragte ich mich, was eigentlich wichtiger war: Benjamins Wohlergehen oder Regeln durchzusetzen, die mein Kind nicht begreifen würde, um in der Gruppe nicht aufzufallen? Tat ich wirklich das Richtige für Benjamin, wenn ich immer nur so viel bunte, grelle Welt an ihn heranließ, wie er bereit war zu ertragen? Jedes Mal, wenn ich seine Angst und Panik wieder hautnah spürte, so wie in der Nacht, die diesem Besuch der Spielgruppe folgte, war ich überzeugt, das Richtige zu tun. Sah ich dann wieder Mütter, die mit gleichaltrigen Kindern gelassen die Kinderarztpraxis, den Spielplatz oder einen Laden betraten, dann keimten Zweifel an meiner Fähigkeit als Mutter in mir. Hätte ich doch wenigstens unsere Probleme in überzeugende Worte fassen können, aber es gab keine Bezeichnung oder Erklärung für das, was ich Tag für Tag mit Benjamin erlebte, jedenfalls noch nicht.