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Schnipselsuppe
ОглавлениеIm Spiel verraten wir, wes Geistes Kind wir sind. Publius Ovidius Naso (Ovid)
Wenige Tage nach seinem ersten Geburtstag konnte Benjamin selbständig laufen und von da an war er unentwegt in der Wohnung unterwegs. Entweder lief er herum, kletterte auf alle erreichbaren Möbel oder schob Autos und seine heiß geliebte, große Lokomotive durch die Zimmer. Ich konnte ihn keinen Augenblick aus den Augen lassen. Seit seinem Geburtstag sagte er „Danke!“, und zwar jedes Mal, wenn wir ihm etwas in die Hand gaben. Das fand ich schon faszinierend, und es tröstete mich darüber hinweg, dass er immer noch nicht „Mama“ sagte. Schon vor Monaten war mir aufgefallen, dass Benjamin nicht versuchte, alles Mögliche in den Mund zu stecken, so wie es gleichaltrige Babys aus dem natürlichen Drang zur Erkundung ihrer Umwelt in diesem Alter tun. Er ließ nur Essen, damit verbunden seinen Lieblingslöffel, seinen Nuckel und Eisbeißringe, wenn er Zähnchen bekam, an seinen Mund. Jetzt hatte sich die Situation schlagartig geändert. Sobald er laufen konnte, hatte er zwei neue Lieblingsbeschäftigungen: Er lief zum Spiegel und leckte sein Gegenüber ab und er war ganz wild darauf, Schuhsohlen abzulecken. Ersteres konnte ich mit ruhigem Gewissen zulassen, aber um die Schuhe entstand ein erbitterter Kampf. Besonders schwierig war die Situation dann, wenn wir hinausgehen wollten. Conrad brauchte mit seinen vier Jahren hier und da noch Hilfe beim Anziehen, hauptsächlich bei schwierigen Verschlüssen, und in diesen Situationen hätte ich noch zwei weitere Arme benötigt, um Benjamin von den Schuhen fernzuhalten. Eine im Flur aufgehängte Maus mit vielen Spielaktivitäten wie Quietschen und Rasseln zum Erzeugen verschiedenster Töne brachte nur bedingt Abhilfe. Wieder war ich hin und her gerissen: Sollte ich mich nun freuen, dass Benjamin seine Umwelt auch mit dem Mund erkundete, oder sollte ich mir Sorgen machen, wegen der Art und Weise, wie er es tat?
Bedingt durch Benjamins andauernde Einschlafprobleme änderte sich unser Leben langsam und zu Beginn auch eher unbemerkt. Ich vermied es immer häufiger, mit beiden Kindern einkaufen zu gehen. Diese ständigen Angstattacken konnten nicht gut sein für unseren Sohn, außerdem hegte ich immer die Hoffnung, dass sich mit der Zeit alles bessern würde. Der Wochenendeinkauf wurde komplett von meinem Mann erledigt, Kinderkleidung bestellten wir fortan hauptsächlich über den Versandhandel und ich ging nur noch einkaufen, wenn Benjamin in dieser Zeit von Leon betreut werden konnte, wobei Conrad mich fast immer begleitete. Meine Außenaufenthalte beschränkten sich darauf, mit den Kindern spazieren oder auf den Spielplatz zu gehen. Manchmal gelang es uns auch in kleineren Läden, wie einem Bäcker, kurz einzukaufen. Auf dem Spielplatz saß Benjamin im Kinderwagen, beobachtete die Kinder, zumindest glaubte ich das, und war nicht bereit, den Spielplatz zu betreten. Nun gut, da wir uns dem Winter näherten und das Wetter häufig nass und regnerisch war, vertagte ich die Aufgabe, Benjamin das Spielen auf dem Spielplatz beizubringen, auf den Frühling. Bis dahin konnte sich ja noch vieles ändern. Mit dem schlechter werdenden Wetter trafen wir uns mit Conrads Freund Jonathan, dessen Bruder und seiner Mutter immer häufiger drinnen. Das löste für Benjamin eine neue Lawine von Problemen aus. Bis jetzt hatte er bei derartigen Besuchen in seiner Tragetasche gelegen oder wurde von mir ständig herumgetragen. Nun, da er laufen konnte, war er als Spielgefährte für Jonathan und dessen Bruder Kilian, der ein halbes Jahr älter als Benjamin war, äußerst attraktiv. Die beiden versuchten auf jede erdenkliche Weise, ihn in ihr Spiel zu integrieren. All diese Versuche wurden von Benjamin energisch abgewehrt. Da er aber ansonsten mit Conrad, nein eigentlich neben Conrad, gut spielen konnte, waren es wohl die lebhaften Jungs meiner Freundin, die ihn einschüchterten. Fortan versuchte ich Treffen zu arrangieren, wo Benjamin nicht anwesend war. Auch Verwandtschaftsbesuche wurden immer häufiger nur von mir und Conrad wahrgenommen, während mein Mann Leon mit Benjamin im Park spazieren ging. So gelang es uns, etwas Ruhe in unser Familienleben zu bringen, denn aufregende Tage für Benjamin gab es nach wie vor genug, nämlich Arztbesuche und familiäre Pflichtbesuche zu Geburts- und Feiertagen.
Mein Tagebuch berichtet in dieser Zeit häufig über Beobachtungen, die ich stolz damit beschrieb, dass Benjamin den Tauschhandel entdeckt habe. Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass unser Sohn nach den Mahlzeiten die Brotkrümel vom Küchenteppich aufpickte und mir brachte. Irrtümlicherweise glaubte ich, er wolle mir damit sagen, dass er etwas zu essen haben möchte. Zur Belohnung gab ich ihm dann immer ein kleines Stückchen Brot oder Brötchen. Ich fand es schon sehr verwunderlich, dass ein so kleines Kind Krümel überhaupt beachtete, Conrad dagegen schien sie immer noch nicht als störend zu empfinden. Entwickeln sich Geschwister wirklich so unterschiedlich? Dass das Sammeln kleiner Gegenstände in diesem Alter eine Handlung mit Zwangscharakter darstellt, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, und ich traf auch niemanden, der darin etwas wirklich Besorgniserregendes gesehen hätte. Benjamins Vorliebe für kleine Dinge beschränkte sich jedoch nicht nur auf Brotkrümel. Zu seinem zweiten Weihnachtsfest war er damit beschäftigt, vom Weihnachtsbaum heruntergefallene Nadeln einzusammeln. Da sich zu dieser Zeit die Nordmanntanne noch nicht als gängiger Weihnachtsbaum durchgesetzt hatte, lieferte die festlich geschmückte Fichte reichlich Arbeitsmaterial für unseren Sohn. Er war überglücklich, als ich ihm für die eingesammelten Nadeln ein kleines Eimerchen gab. Diese Tätigkeit führte er zwei Wochen lang tagtäglich aus, solange bis der Baum wieder aus unserer Stube verschwunden war.
Wenig später entdeckte Benjamin seine Vorliebe für das Spielen mit Kindergeschirr. Er rührte in den Töpfen, schaufelte nach unserer Interpretation symbolisches Essen hin und her, und wir hatten unsere Freude daran, ihm zuzusehen. Eines Tages zerriss ich eine Karteikarte, bevor ich sie wegwerfen wollte. Benjamin, der immer genau mitzubekommen schien, was ich gerade tat, lief mit seinem Topf zu mir und bedeutete mir, dass er die Schnipsel haben möchte. Er zeigte mit seinem Kochlöffel in seinen leeren Topf und rief aufgeregt: „Da, da!“ Ich war überwältigt davon, was ich doch für ein kluges Kind hatte, und gab sie ihm bereitwillig. Fortan kochte er leidenschaftlich Schnipselsuppe. Aber täglich kam er mit einem anderen Topf, den er auch mit Schnipseln gefüllt haben wollte. Mit der Zeit häufte er wahre Schnipselberge an, und die Ausdauer, mit der er dieses Spiel spielte, begann langsam uns zu beunruhigen. Ich beschloss, die Schnipsel um ungefähr ein Zehntel zu reduzieren und tat dies nachts, um unangenehmen Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Mein Grundsatz war zwar, den Kindern nie heimlich Spielzeug wegzunehmen, auch dann nicht, wenn sie offenbar zu groß dafür waren. Aber diese Schnipsel fielen in meinen Augen nicht unter diese Regel. Am nächsten Morgen schrie Benjamin völlig verzweifelt, dicke Tränen rannen über seine runden Wangen und er zeigte immer wieder hoch erregt auf seine Töpfe, während er ein verzerrtes „Da!“ hervorstieß. Was hatte ich nur getan! Ich vermochte mir nicht zu erklären, wie er das Fehlen der Schnipsel bemerken konnte. Es dauerte einen halben Tag, bis ich ihn wieder richtig beruhigen konnte, und natürlich kam ich nicht darum herum, ihm neue Schnipsel zu geben. An dieser Stelle nahm ich mir fest vor, mich in Zukunft noch besser in meinen kleinen Sohn hineinzuversetzen, damit mir solche gedankenlosen Fehler nicht mehr allzu häufig unterlaufen würden. Da ich all diese Probleme von meinem ersten Kind nicht kannte, glaubte ich nun, dass Conrad wohl ein sehr pflegeleichtes Baby gewesen war.
Als Benjamin dreizehn Monate alt war, plagte mich eine üble Erkältung. Um keine Medikamente nehmen zu müssen, beschränkte ich mich auf ein Erkältungsbad am Abend. Am darauffolgenden Morgen gelang es mir nicht, Benjamin anzulegen. Er wendete sich angewidert von mir ab, obwohl er bis jetzt immer noch begeistert Muttermilch getrunken hatte. Auch tagsüber und an den kommenden Tagen wollte er nicht mehr trinken. Hatte ihn wirklich der für uns so wohlriechende Duft des Erkältungsbades abgeschreckt? Mir war ja bekannt, dass Babys viel geruchsempfindlicher als Erwachsene sind, aber können sie ein Erkältungsbad noch tagelang riechen? Wehmütig gestand ich mir das Ende der Stillzeit ein, obwohl ich unseren Sohn bei all seinen Überempfindlichkeitsreaktionen gerne noch etwas länger gestillt hätte. Wenige Tage nach dem Abstillen bekam Benjamin eine Durchfallerkrankung, die uns ein dreiviertel Jahr lang weitere Probleme bescheren sollte. Immer wieder fragte ich mich, ob hier ein Zusammenhang zum Abstillen bestand, da das Stillen das Immunsystem von Babys positiv beeinflusst. Aber diese Gedanken waren eigentlich unsinnig, denn ich hätte ihn sowieso nicht ewig stillen können.
Die motorische Entwicklung unseres Sohnes verlief weiterhin zu unserer höchsten Zufriedenheit. Inzwischen konnte er auch mit „Gewichten“ stehen, so stemmte er beispielsweise in der linken und rechten Hand gleichzeitig 500g Kaffee, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er meisterte Türschwellen ohne Stolpern und ohne Festhalten am Türrahmen und er konnte sogar rückwärts laufen. Die fast gleichaltrige Tochter meiner Freundin Victoria konnte in diesem Alter gerade einmal ein bisschen krabbeln, dafür war ihr aktiver Wortschatz bedeutend größer. Das bestätigte mich erneut in meiner Auffassung, dass sich Kinder unterschiedlich schnell entwickeln. Lisa, die Tochter meiner Freundin, wird auch in absehbarer Zeit laufen können, genauso wie Benjamin demnächst neue Wörter lernen wird. Leider musste ich ziemlich bald einsehen, dass sich nur ein Teil dieser Prognose in Kürze erfüllen würde.
Ich klammerte mich weiterhin an die Fortschritte, die wir mit viel Mühe erreichten. Üblicherweise greifen kleine Kinder in diesem Alter nach ihrem Löffel und können gar nicht erwarten, endlich alleine zu essen. Benjamin hatte, wie bereits erwähnt, kein Interesse daran, selbständig zu essen. Damals glaubte ich jedenfalls, er hätte kein Interesse, heute würde ich eher sagen, er ängstigte sich vor der neuen Situation, was ihn dazu bewegte, lieber alles beim Alten zu lassen. Dieses Verhalten haben wir später noch sehr häufig bei ihm beobachtet. Also musste ich die Initiative ergreifen. Mehr als zwei Monate lang schob ich bei jeder Mahlzeit, nachdem ich ungefähr die Hälfte des Essens gefüttert hatte, unter Protest seine kleine Hand zwischen meine und den Löffel und hielt sie so lange wie möglich sanft fest. Am Anfang zog er seine Hand jedes Mal sofort wieder zurück, aber mit der Zeit erduldete er diese für ihn ungewohnte Prozedur immer etwas länger. Ich allerdings fragte mich häufig, ob das der rechte Weg war und warum mein Kind nicht aus eigenem Antrieb alleine aß. Gab es eigentlich Kinder, die zu faul zum Essen waren? Ich jedenfalls kannte kein solches Kind. Die gleichaltrigen Kinder meiner Freundinnen versuchten ständig Besteck, Tassen, Teller oder Essen bei den Mahlzeiten in die Finger zu bekommen, und auch Conrad hatte sich in diesem Alter ähnlich verhalten. Nach zweieinhalb Monaten, an einem Adventssonntag, hielt Benjamin seinen Löffel für kurze Zeit alleine in der Hand. Waren es die Kerzen, welche er wie hypnotisiert anschaute, die ihn seine Sorgen mit dem Löffel vergessen ließen? Wieder einmal war das Eis gebrochen und mit viel Übung konnte Benjamin langsam, aber stetig immer ein bisschen länger den Löffel halten und besser damit umgehen.
Obwohl ich Benjamin unzählige Male gezeigt habe, wie man Holzbausteine aufeinanderstapelt, hatte er nie versucht, das nachzumachen. Als er vierzehn Monate alt war, bastelte ich für ihn einen Adventskalender, bei dem sich hinter jedem Türchen ein DUPLO-Baustein verbarg. Kaum hatte ich ihm beim Öffnen des zweiten Türchens geholfen, schon lief er mit dem zweiten Baustein los, nahm den ersten Baustein vom Vortag und steckte beide zusammen, bevor wir irgendwelche Erklärungen abgeben konnten. Wir klatschten alle Beifall, woraufhin Benjamin für einige Wochen immer selber klatschte, wenn er die Steine fortan zusammensetzte. Mit der Zeit legte sich sein Klatschen, offensichtlich wurde es ihm angesichts der steigenden Anzahl an Bausteinen zu mühsam. Ich habe mich oft gefragt, wieso er die Steine sofort ohne Anleitung zusammenbauen konnte. Bis dahin besaßen wir nur LEGO-Bausteine, und die benutzte nur Conrad, für Benjamin in unerreichbarer Weite. Hatte er Conrad dabei zugeschaut und das Prinzip sofort auf die großen Steine angewendet, war es einfach nur Zufall oder hatte er es alleine sofort durchschaut? Wenn ja, war das in seinem Alter überhaupt denkbar oder erklärbar? Aber ehrlich gesagt, macht man sich in solchen Augenblicken keine tiefgehenden Gedanken, sondern genießt einfach nur das Gefühl, auf sein Kind stolz zu sein.
Conrad durfte zu dieser Zeit am Wochenende in der Mittagszeit einen Disney-Film schauen, während mein Mann oder ich mit Benjamin spazieren gingen. Eines Sonntags kam Benjamin nach dem Spazierengehen ins Zimmer und sah die halb aus dem Videorekorder herausschauende Videokassette. Er lief hin, schob die Kassette behutsam hinein und startete damit den Videorekorder. Zu unserer absoluten Verwunderung klebte er aber noch den Aufkleber, der sonst den Kassettenschlitz verschloss, damit Benjamin keine Spielsachen oder Lebensmittel hineinstopfte, über den Spalt. Wir wussten nicht, was wir davon halten sollten. Hatte er uns so genau beobachtet, wenn wir für Conrad einen Film starteten? Nun, da der Film einmal lief, gelang es uns nicht, ihn zu unterbrechen, da Benjamin sofort in verzweifeltes Weinen verfiel, sobald wir dies versuchten. Vielleicht hört sich das jetzt so an, als wären wir nicht konsequent genug oder würden nicht ein wenig Protest aushalten, aber die Panik, Ohnmacht und Verzweiflung, die Benjamin fast jedes Mal mit seinem Weinen zum Ausdruck gebracht hatte, lassen sich nicht in Worte fassen und waren mit dem Protest anderer Kinder auch nicht zu vergleichen. Vielleicht können das ja nur Eltern, die ein Kind mit ähnlichen Problemen haben, wirklich nachvollziehen. Unsere Überlegungen waren aber auch ganz praktischer Natur: Lohnt es sich, einen erbitterten Kampf gegen unseren Sohn wegen „Bambi“ zu führen, wenn wir im Falle eines zweifelhaften „Sieges“ dann die ganze Nachtruhe des Tages aufs Spiel setzen würden? Nein, es lohnte sich zweifelsohne nicht, denn wir mussten schon oft genug, zum Beispiel wenn es um Fragen der Sicherheit ging, unseren Willen durchsetzen. Der Aufkleber auf dem Schlitz des Videorekorders war übrigens, wie sich später zeigte, völlig überflüssig, denn Benjamin wäre nie auf die Idee gekommen, etwas anderes als Videokassetten, und zwar immer richtig herum, dort hineinzuschieben. War das nun ein Zeichen für ein braves oder für ein experimentierunfreudiges Kind?
Weihnachten stand wieder einmal vor der Tür und Conrad war wieder einmal krank. Eines Morgens in dieser Vorweihnachtszeit wachte Benjamin sehr früh auf, atmete schwer und gab beim Einatmen ein pfeifendes Geräusch von sich. Das beunruhigte mich, obwohl ich so etwas noch nie zuvor gehört hatte und auch nicht wusste, was es zu bedeuten hatte. Da ich mit Conrad zur Kinderärztin musste, beschloss ich, auch Benjamin vorzustellen. Beim Betreten der Arztpraxis, noch bevor ich etwas sagen konnte, packte mich die Schwester, zog mich in ein freies Zimmer und wies mich an, Benjamin sofort auszuziehen. Während ich das tat, erschien die Ärztin, erklärte mir, dass mein Sohn einen Pseudokrupp-Anfall habe, dass sie ihm sofort ein Cortison-Zäpfchen geben müsse und dass sie mir danach alles erklären werde. Die Ursache eines Pseudokrupp-Anfalls ist ein Virusinfekt der Atemwege, der in bestimmten Fällen zu einem plötzlichen Anschwellen des Kehlkopfes, der Stimmbänder sowie der Luftröhre führt, was in akuten Fällen zu einer lebensbedrohlichen Atemnot führen kann. Viele neue Fragen türmten sich auf. Am meisten quälte mich die Frage, ob ich mit Benjamin auch zur Ärztin gegangen wäre, wenn Conrad nicht krank gewesen wäre. Benjamin hatte an diesem Morgen kein Fieber, das bekam er erst einen Tag später, er weinte nicht und schien sich bis auf die ungewöhnliche, quälende Atmung wohlzufühlen. Würde er weitere solche Anfälle erleiden müssen? Für diesen Fall gab mir die Ärztin eine Audiokassette, worauf uns Sofortmaßnahmen erklärt wurden, und ein Notfallpäckchen mit. Des Weiteren erklärte mir die Ärztin, das anfällige Kinder, das seien überwiegend blonde Jungen, meistens bis zum vierten Lebensjahr in der Erkältungszeit unter solchen Anfällen zu leiden hätten, in Einzelfällen auch bis zur Schulzeit. Was weder die Ärztin noch wir zum damaligen Zeitpunkt wissen konnten, war die Tatsache, dass Benjamin jedes Jahr unter teilweise schweren Pseudokrupp-Anfällen litt, und das bis zu seinem ersten Schuljahr.
Sein zweites Weihnachtsfest bescherte Benjamin ein Spielhäuschen, welches geometrische Öffnungen im Dach hatte, durch die Tierfiguren mit Standfüßen in eben diesen Formen einsortiert werden konnten. Eigentlich war dieses Spielzeug erst für Kinder ab achtzehn Monaten empfohlen, Benjamin war jetzt fünfzehn Monate alt. Wir dachten uns, dass er ja erst einmal mit den Tierfiguren spielen könnte, bis ihm das Einsortieren gelingen würde. Da hatten wir uns geirrt. Sofort nachdem ich die bunten Tiere aus ihren durch Türchen verschlossenen Ställen herausgelassen und vermischt hatte, sortierte Benjamin sie ohne Zögern wieder richtig in die Dachöffnungen ein. Damit war das Thema für ihn erledigt. Wenn ich versuchte, die Tiere erneut herauszuholen, damit er sie noch einmal einsortieren konnte, protestierte er laut. Fortan bestand sein Spaß mit seinem Geschenk darin, die ordentlich einsortierten Tiere samt Haus herumzutragen. Seit Benjamin im Besitz eines Eimers voller DUPLO-Bausteine war, bestand er jeden Abend vor dem Schlafengehen darauf, dass alle seine Spielsachen ordentlich aufgeräumt wurden, und er half dabei auch tatkräftig mit. Er ließ keine Ausnahme zu und achtete darauf, dass alles an seinem Platz lag.
Beim Bleigießen am Neujahrstag goss ich für Benjamin ein Gebilde, das wie ein Bäumchen aussah und Leon interpretierte dies so, dass der Baum gutes Gedeihen bedeuten würde. Diesen Wunsch nach gutem Gedeihen hatte Benjamin zu Jahresbeginn bitter nötig, denn sein Durchfall plagte ihn schon mehr oder minder stark seit dem Abstillen, also seit mehr als zwei Monaten. Eine mehrmalige Behandlung mit Hefekapseln und Elektrolyttabletten verbunden mit strenger Diät hatte keine wirkliche Besserung gebracht. Einen Tag nachdem wir bei der Kinderärztin eine Stuhlprobe zur Untersuchung abgegeben hatten, kam noch heftiges Erbrechen dazu und Benjamin nahm überhaupt nichts mehr zu sich. Ich eilte abermals zur Ärztin und diese wies uns sofort ins Krankenhaus ein, weil Benjamin stark abgenommen hatte und auszutrocknen drohte. Wieder zurück zu Hause versuchte ich, Sachen für mich und Benjamin zusammenzusuchen, aber alles in meinem Kopf drehte sich, die Gedanken überschlugen sich und Conrad musste auch noch irgendwo untergebracht werden. Auf diese Situation war ich überhaupt nicht vorbereitet, aber letztendlich wurden wir am frühen Nachmittag im Krankenhaus aufgenommen und Benjamin trank dort sofort etwas Karottensaft mit Elektrolytlösung. Die Lage beruhigte sich etwas, nur die Nacht war für mich unerträglich. Wegen der Infektionsgefahr bewohnte ich zwar ein Zimmer mit Benjamin alleine, aber alle Wände hatten Glasscheiben, sodass das Zimmer von allen Seiten her einsehbar war. Die ganze Nacht über weinten andere Kinder und ständig ging irgendwo das Licht an oder aus. Benjamin hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren oder Angst zu haben. Er lag trotz des Protestes der Schwestern in meinem Bett, wirkte apathisch, wimmerte leise und schlief irgendwann nach Mitternacht ein. Ich weiß nicht, wie lange ich noch von Sorgen zerfressen mein schlafendes Kind betrachtet habe, aber irgendwann bin ich dann wohl auch für kurze Zeit eingeschlafen.
Am nächsten Morgen begann der übliche Testmarathon: Urin- und Stuhlprobe abgeben, dann Blut abnehmen, Visite … Benjamin verweigerte den ganzen Tag über jegliche Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, worauf die diensthabende Ärztin die Ernährung über eine Sonde verordnete. Zwei Schwestern wollten meinen kleinen Sohn zum „Sondenlegen“ abholen, aber ich machte ihnen klar, dass ich dabei anwesend sein möchte. Daraufhin schickten sie mir einen jungen Arzt, der mir erklärte, dass mein Sohn es mir übel nehmen würde, wenn ich bei der Behandlung präsent wäre, andererseits wäre ich die „Gute“, wenn sie ihn mir zurückbrächten. Diese Logik konnte ich nicht nachvollziehen. Ich war der Meinung, dass die Behandlung für Benjamin weniger schlimm ist, wenn ich ihm dabei zur Seite stehe, was ich auch dem Arzt mitteilte. Er gab schließlich nach und die Schwester meinte daraufhin, dann könne ich ihr auch gleich assistieren, wenn ich schon dabei sein muss. Benjamin lag schlapp und ängstlich auf meinem Arm, aber er sagte keinen Mucks, während ihm die Sonde durch die Nase eingeführt wurde. Der Plastikschlauch wirkte bedrohlich groß für so ein winziges Nasenloch. Seine Ärmchen waren für die Behandlung mit Stoffwindeln am Körper festgebunden worden und als ich diese wieder lösen wollte, fragte mich die Schwester empört, was ich da mache. Dann erklärte sie mir, dass so kleine „Sondenkinder“ im Gitterbett festgebunden würden, damit sie die Sonde nicht herausziehen. Ich vermochte das nicht zu glauben, ich war doch da und konnte aufpassen. Wie fühlt sich denn so ein kleines Kind, wenn es krank mit einem Schlauch in der Nase in fremder Umgebung ist und dann auch noch festgebunden wird? Ich protestierte und wollte das nicht zulassen und war doch im gleichen Moment erschreckt über meinen Mut. War ich vielleicht nur unwissend und überheblich? Schließlich hatten die Schwestern jahrelange Erfahrung. Oder befolgten sie ein festgefahrenes Muster, über das lange keiner nachgedacht hatte? Die Schwester sagte mir mürrisch, sie würde meinen Sohn nicht festbinden, aber ich hätte die Verantwortung zu tragen und müsste aufpassen, damit er die Sonde nicht herausreißt. Am Abend führte Benjamin unzählige Male seine kraftlosen Ärmchen zum Schlauch, aber es war für mich leicht, seine Ärmchen von der Sonde fernzuhalten, indem ich meinen Arm dazwischen legte, den er dann jedes Mal umklammerte. Tags darauf schien er vergessen zu haben, dass eine Sonde in seiner Nase steckte. Eigentlich war ich jetzt der Meinung, das Schlimmste sei überstanden. Benjamin wurde alle vier Stunden über die Sonde ernährt und weigerte sich weiterhin, irgendetwas zu sich zu nehmen. Doch dann fing er an, auch die sondierte Nahrung wieder zu erbrechen und nahm weiter ab. Wie sollte das nur weitergehen? Inzwischen war ich völlig übermüdet und geriet langsam in Panik.
Auch der Rest der Familie litt unter der ganzen Situation. Da Conrad nicht den Kindergarten besuchte, musste mein Mann ihn mit zur Arbeit nehmen. Wie sehr Conrad belastet war, merkten wir daran, dass er nach sehr langer Zeit wieder ins Bett machte. Benjamin benutzte in der Klinik wegen seiner äußerst sensiblen Haut nur seine eigenen Sachen, einschließlich Handtücher, Bettwäsche und Windeln. Da er sich häufig übergab, nahm mein Mann bei jedem Besuch Berge von übel riechender Wäsche mit. Bis heute frage ich mich, wie Leon das damals alles geschafft hat. Einige Tage ging es noch so weiter: sondieren, erbrechen … und ich überlegte ernsthaft, ob die Ärzte auch wissen, was sie da tun. Auf alle meine Anfragen wurde mir gesagt, dass sie den Stuhlbefund erst abwarten wollten. Benjamin stand überhaupt nicht mehr auf, er lag den ganzen Tag auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Am dritten Tag konnte ich das Klinikpersonal davon überzeugen, dass ich Benjamin im Kinderwagen auf dem Klinikgelände spazieren fahren durfte. Benjamin schien das zwar nicht mitzubekommen, er zeigte auch keinerlei Interesse mehr an Spielsachen, egal ob vertraute oder neue, aber für mein angeschlagenes Durchhaltevermögen war das extrem wichtig. Während Leon den Kinderwagen schob, konnte ich ein Stündchen ungestört mit Conrad spielen und die Sorgen für kurze Zeit etwas verdrängen. Nach fünf langen Tagen war der mikrobiologische Befund da: Eine durch Bakterien verursachte Überrepräsentation von natürlich vorkommenden Sprosspilzen im Darm hatte diese schwere Gastroenteritis bei unserem Sohn verursacht. Daraufhin wurde begonnen, ihm ein Antimykotikum zu verabreichen. In diesen Tagen fiel es mir schwer, mir meinen Sohn so agil wie vor der Erkrankung vorzustellen. Trotz der Medikamentengabe nahm Benjamin weiter ab und ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass das Medikament eine gewisse Zeit braucht, bevor die Wirkung einsetzt. Am Tiefpunkt hatte unser Söhnchen mehr als ein Kilogramm abgenommen, was für ein fünfzehn Monate altes Kleinkind ganz erheblich ist.
Nach drei Tagen Medikation ging es langsam bergauf, Benjamin begann löffelweise zu essen und grammweise zuzunehmen. Zögerlich kehrte die Kraft in seine Beinchen zurück und damit auch sein Willen zum Widerstand. Jedes Mal, wenn jetzt ein Arzt oder eine Schwester unser Zimmer betrat, flüchtete er in die hinterste Ecke meines Bettes und schrie, wenn jemand ihm zu nahe kam, was sich natürlich nicht vermeiden ließ. Jetzt, da Benjamin wieder stehen und laufen konnte, tat er mir unmissverständlich seinen Wunsch kund, wieder nach Hause zu wollen. Er holte seine Schühchen aus dem Schrank, packte sein Spielzeug in den Kinderwagen, zog die große Reisetasche bis zur Tür und rief immer wieder aufgeregt: „Da, da!“, während er auf die Tür zeigte. Da ich die Tür immer wieder freiräumen musste, brach Benjamin jedes Mal in herzzerreißendes Weinen aus. Er wollte an diesem Ort nicht bleiben und auch nicht spielen. Die Spaziergänge beruhigten ihn zwar beim Losgehen, aber wenn er nur die Giebelseite des Hauses aus einiger Entfernung zu Gesicht bekam, weinte er schon wieder los. Eigentlich dachte ich, wir könnten doch nun wieder entlassen werden, aber der Oberarzt erklärte mir, dass Benjamin erst entlassen würde, wenn er sein Gewicht vom Aufnahmetag wieder erreicht habe. Also mussten wir noch fast eine Woche durchhalten. Unser Sohn spaltete die Schwestern in zwei Lager. Einige hielten ihn einfach für ein verzogenes, verwöhntes Kind, die anderen glaubten, er habe großen Kummer, weil er so viel weinte, obwohl es ihm doch langsam besser ging.
Kurz vor unserer Entlassung kam ein Arzt zur Abschlussuntersuchung, dessen Art und Weise mich zutiefst faszinierte. Instinktiv wusste dieser Mediziner, wie er an Benjamin herankommen konnte. Die Schwestern hatten ihn vor diesem überängstlichen Kind gewarnt. Er betrat langsam das Zimmer und wie immer flüchtete Benjamin in die hintere Ecke des Bettes. Dann ging er auf mich zu, redete mit mir leise, setzte sich später auf die zu Benjamin entfernteste Ecke des Bettes und begann auf unserem kleinen Keyboard ein beruhigendes Lied zu spielen. Die ganze Zeit hatte er nicht einmal versucht, Benjamin anzusprechen oder sich ihm weiter zu nähern. Ich war schon erstaunt, dass mein Sohn nicht weinte, aber jetzt traute ich meinen Augen nicht: Unter Wahrung des größtmöglichen Abstandes kroch Benjamin zum Keyboard und klimperte mit. Während die beiden spielten, untersuchte der Arzt meinen Sohn ganz nebenbei und Benjamin ließ ihn gewähren, wenn auch etwas widerwillig. Für mich war das ein großartiges Erlebnis: Es war der Beweis, dass eine solche Untersuchung auch ohne Tränchen und fast angstfrei ablaufen kann, wenn der Arzt genug Zeit und Einfühlungsvermögen mitbringt.
Endlich wieder zu Hause fühlte ich mich wie eine Mutter, die gerade ihr erstes Kind bekommen hat. Vollgestopft mit Informationen und Instruktionen steht man plötzlich da und muss all dieses Wissen in die Tat umsetzen. In der Klinik war alles noch so einfach gewesen, aber plötzlich ist man auf sich alleine gestellt. Benjamin musste noch lange Zeit diätisch ernährt werden und ich hatte die Aufgabe, akribisch genaue Ernährungs- und Stuhlprotokolle zu erstellen. Meine morgendliche Unbeschwertheit hatte ich für viele Monate verloren, denn jeder Tag begann mit einem ängstlichen Blick in die Windel. Außerdem litt Benjamin wochenlang unter seinem entzündeten Windelbereich, denn der lange Durchfall und mehrere Urinbeutel hatten ihre Spuren hinterlassen. Im Gesicht blieben von den Pflasterstreifen, mit denen die Sonde angeklebt worden war, dicke, gerötete und mit Pickelchen übersäte Striemen zurück – ein Anblick, der mich als Mutter schmerzte, wenn ich mir die damit verbundenen Strapazen für unseren Sohn ausmalte. Über einen Monat lang waren Benjamins Einschlafprobleme extrem verschlimmert und zusätzlich wachte er jede Nacht mehrmals wie von Albträumen gequält auf. Eigentlich verwunderte mich das nicht sonderlich, hatten wir doch jede Woche zwei bis drei Arzttermine zur Kontrolle. Mehrere Monate lang mussten wir zur Überwachung die gastroenterologische Sprechstunde des Krankenhauses aufsuchen und jedes Mal fing Benjamin schon beim Betreten des Krankenhausgeländes an, panisch zu weinen. Es dauerte noch ein dreiviertel Jahr, bis seine Urin- und Blutwerte wieder in Ordnung waren, und Durchfallerkrankungen, wenn auch weniger heftig, plagten ihn in Abständen bis zur Schulzeit. Benjamins Angst vor Ärzten schien sich für immer manifestiert zu haben, was man ihm ja nicht verübeln konnte, nach allem, was er durchmachen musste. Ich sehnte mich in dieser Zeit zutiefst nach einem einfachen, normalen Tagesablauf ohne Arztbesuche und Diätkämpfe, denn natürlich wollte Benjamin, je besser es ihm ging, wieder alles Mögliche verspeisen.
Abgesehen von seinen gesundheitlichen Problemen erfreute uns Benjamin mit weiteren Fortschritten. Noch bevor er achtzehn Monate alt war, benutzte er nicht nur gelegentlich seinen Löffel, sondern trank auch ab und zu selbständig aus seiner Tasse, obwohl er weiterhin zu diesen Handlungen genötigt werden musste. Im Gegensatz dazu war er eifriger Zähneputzer, wir mussten sogar das abendliche Zähneputzen mit Nachdruck beenden, sonst hätte er endlos weitergeputzt. Vermutlich begeisterte er sich aufgrund seiner ausgeprägten Liebe zu Wasser und Regen so sehr für das Zähneputzen. In dieser Zeit bemerkte ich auch eine ausgesprochen aufmerksame und eifrige Phase bei Benjamin. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Wenn ich eine Kerze auf den Tisch stellte, so zeigte Benjamin sofort auf das Schrankfach, in dem die Streichhölzer sicher verwahrt waren, immer kommentiert mit seinem bereits mehrfach erwähnten „Da, da!“ Wenn ich mit dem Essen die Küche verließ, räumte er ohne Aufforderung seine Spielsachen aus dem Weg und brachte immer sein Rutscherauto auf seinen Parkplatz. Hatte ich das Essen auf den Tisch gestellt, so holte er sofort das Kissen, auf dem er gewöhnlich beim Essen saß. Wollte ich Wäsche aufhängen, begann er, mir die Wäscheklammern zu reichen, und zwar jedes Mal. Er schloss die Tür, nachdem er ein Zimmer betreten hatte. Abends, nachdem ich ihn ausgezogen hatte, räumte er seine Kleidung in den Wäscheeimer. Vor dem Schlafengehen achtete er darauf, dass er seine Zahntablette bekam und dass sein Nuckel für die Nacht frisch abgekocht war, er weigerte sich, einen schon vorher von ihm benutzten Nuckel anzunehmen. Von so viel ausdauernder Aufmerksamkeit war ich total fasziniert. Außerdem leitete ich daraus ab, dass Benjamin Zusammenhänge erkennen konnte und verschiedene Handlungen in zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen sah. Was ich damals nicht sah oder nicht sehen wollte, war die Tatsache, dass immer Benjamin bestimmte, welche Aktionen er ausführte. Er war aber so gut wie nie bereit, etwas zu tun, worum er gebeten wurde. So zum Beispiel ignorierte er Aufforderungen wie die Bitte, uns etwas zu geben, das Zimmer zu verlassen oder den Keks zu teilen. Einem „Nein“ ließ er noch immer keine Taten folgen, sondern schüttelte nur den Kopf. Da Benjamins ungewöhnliche Taten auch von meinen Freundinnen bestaunt wurden, gab es für mich nur eine mögliche Erklärung für sein Verhalten, nämlich dass bestimmte soziale Entwicklungsstufen wie das Ausführen einer Bitte, beispielsweise „Bringe mir bitte den Ball“, bei ihm etwas später eintreten werden. Solange er auf gewissen Gebieten gleichaltrigen Kindern voraus war, bestand doch kein Grund zur Sorge. Oder doch? Nebulöse Zweifel machten sich schon damals breit, aber sie waren nicht zu greifen, nicht zu definieren und sie wurden regelmäßig von Benjamins zum Teil ungewöhnlichen Entwicklungsfortschritten wieder zerstreut.
Benjamin besaß inzwischen neben den Gummibüchern aus seiner Babyzeit eine ansehnliche Anzahl Pappbilderbücher, aber er war immer noch nicht dazu zu bewegen, sie gemeinsam mit mir anzusehen. Wenn ich mir mit der fast gleichaltrigen Tochter meiner Freundin die Bücher anschaute, dann schien dies Benjamin überhaupt nicht zu stören. Er ging einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach und beachtete uns vermutlich nicht. Lisa zeigte mir bereitwillig Dinge, wenn ich ihr einfache Fragen, wie beispielsweise: „Wo ist das Auto?“, stellte. Conrad setzte sich meistens zu uns und versuchte ebenfalls Fragen zu stellen. Um auf diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, versuchte ich zuerst, Benjamin mit einigen seiner Bücher alleine zu lassen. Das traurige Ergebnis bestand darin, dass er die Bücher zerfetzte. Also stellte ich die unversehrten Bücher auf ein für ihn gut sichtbares, aber nicht erreichbares Regal. Wollte er ein Buch anschauen, so stellte er sich davor, zeigte nach oben und rief: „Da, da!“ Ich gab ihm die gewünschten Bücher und ließ ihn damit nicht mehr alleine. Er blätterte die Bücher im rasanten Tempo durch, jedes Buch genau ein einziges Mal, und bevor er sie beschädigen konnte, stellte ich sie auf das Regal zurück. Wenn ich versuchte, ihn in ein Gespräch über den Buchinhalt zu verwickeln, wurde er jedes Mal sehr aufgebracht und wehrte mich mit Weinen ab. Es dauerte noch ungefähr ein Jahr, bis er nicht mehr den Drang verspürte, Bücher zu zerreißen. Und es sollte noch viel länger dauern, bis wir zum ersten Mal gemeinsam ein Buch lasen. Damals glaubte ich, Benjamin würde vom Inhalt der Bücher überhaupt nichts mitbekommen, wenn er sie „nur“ einmal schnell durchblätterte. Conrad jedenfalls hatte seine Bücher oft, ausgiebig und intensiv betrachtet. Interessierte sich Benjamin nicht für den Inhalt? Bestand sein ganzer Spaß im Umblättern, so wie man ein Spielzeugauto über den Boden schiebt? Mein Ziel war es, ihn auf jeden Fall zum Anschauen der Seiten zu bewegen, und das konnte ich doch nur erreichen, wenn er länger auf den Seiten verweilte. Das gelang mir vorerst nicht. Später musste ich einsehen, dass ich hier einem gravierenden Irrtum erlegen war. Kurz nach seiner Einschulung, als im Sachkundeunterricht über Elefanten geredet wurde, beschrieb Benjamin mir eine Seite aus einem seiner Kleinkindbücher, welches schon jahrelang in einer Kiste auf dem Hängeboden lag. Ich war davon so überrascht, dass ich dieses Buch heraussuchte und seine Angaben mit der entsprechenden Buchseite verglich. Alles stimmte vollständig überein. Und auch den Inhalt der weiteren Seiten dieses Buches und aller anderen Bücher dieser Serie konnte er bis ins Detail wiedergeben. Die späte Einsicht war also, dass er damals beim rasanten Durchblättern der Bücher den Inhalt erfasste und sich das auch noch über so viele Jahre gemerkt hatte! Aber warum zeigte er kein Interesse am gemeinsamen Bücherlesen?
Obwohl seine Motorik gut entwickelt war und obwohl wir am Fußende des Bettes schon vor Monaten zwei Stäbe entfernt hatten, verließ Benjamin frühmorgens nicht sein Gitterbett. Gewöhnlich saß er wach da und wartete darauf, dass ihn einer von uns aus dem Bett hob. Kam er nicht auf die Idee, das Bett durch die Lücke zu verlassen, ängstigte ihn vielleicht das, was ihn hinter der Tür erwarten würde oder war es ein geliebtes Ritual, von uns aus dem Bett gehoben zu werden? Mit achtzehn Monaten schaute Benjamin mich das erste Mal an, als er „winke, winke“ machte. Er liebte es weiterhin, draußen herumgefahren zu werden, und wenn wir ohne Kinderwagen losgingen, dann bestand er nach wenigen Schritten darauf, getragen zu werden. Heute würde ich dieses Verhalten so interpretieren, dass ihn die quirlige, bunte oder auch laute Welt außerhalb seines Zuhauses irritierte und ängstigte und er deshalb im Kinderwagen oder in unseren Armen Schutz suchte.
Auch sein häusliches Spielverhalten war ungewöhnlich, aber ich habe sehr lange darüber nachgedacht, bis mir aufgegangen ist, was eigentlich daran so ungewöhnlich war. Einerseits liebte es Benjamin immer noch, Schnipselsuppe zu kochen, uns damit zu füttern und auch manchmal fiktive Getränke dazu einzugießen. Aber er verlor völlig die Fassung, wenn wir die Rollen tauschen oder seinen Spielablauf ändern wollten. Er bestimmte die Regeln und die Welt war nur in Ordnung, wenn wir darin seine Marionetten waren. War er vielleicht ein besonders willensstarkes Kind oder würde sich diese Phase mit der Zeit von alleine geben? Warum hatte ich ein solches Verhalten nicht bei Conrad beobachtet, er ließ sich immer bereitwillig und voller Kreativität auf Rollentausche ein und überraschte uns dabei mit witzigen Ideen und Wendungen. Waren die Geschwister wirklich so verschieden oder übersahen wir irgendetwas? Bei anderen Spielen ließ Benjamin absolut keine Einmischung zu. Baute er zum Beispiel seinen DUPLO-Zoo auf, dann wollte er nicht gestört werden und spielte versunken und konzentriert mit den Tieren, Bäumen und Gebäuden. Abends achtete er darauf, dass im Regal neben jeder Tiermutter auch das richtige Tierbaby stand. Bei wieder anderen Spielen ließ er problemlos zu, dass Conrad oder einer von uns quasi parallel zu ihm mitspielte. So konnte Conrad mit seinen Matchbox-Autos auf dem Straßenteppich spielen, während Benjamin seine Plastikautos darüber schob, und auch an den Kreuzungen kam es meistens zu einer Einigung. Oder wir konnten mit einem eigenen Zug auf den Schienen der Holzeisenbahn mitspielen, aber keiner durfte es wagen, Waggons an Benjamins Zug anzukoppeln oder seine Wagen zu beladen oder den Zug mit ihm zu tauschen. Heute bin ich der Meinung, dass Benjamin spielerisches Miteinander nur ertragen konnte, wenn er die Fäden in der Hand hielt und den Ablauf bestimmen konnte oder wenn er in seinem eigenen Spielkonzept nicht gestört wurde. Als er zufällig einen LEGO-Baustein seines Bruders am Boden erspähte, fand er alleine heraus, dass man diesen Baustein auf einen DUPLO-Baustein setzen kann. Wie immer lobten wir ihn dafür, später fiel mir auf, was fehlte: Er war nicht zu uns gekommen, um uns seine Leistung zu präsentieren, er schien mit sich selbst und seiner Leistung zufrieden zu sein.
Meine Karriereplanung sah vor, dass Benjamin jetzt, mit eineinhalb Jahren, eine Kindertagesstätte besuchen sollte. Wir hatten ihn schon kurz nach der Geburt angemeldet und es stand ein Platz für ihn bereit. Die Kinderärztin machte uns allerdings einen Strich durch die Rechnung, denn sie erklärte, dass Benjamin aus gesundheitlichen Gründen auf gar keinen Fall kindergartentauglich sei. Gerade hatte er eine schmerzhafte Rachenentzündung durchlitten, seine Durchfallerkrankung war nicht richtig ausgeheilt, seine Urinprobe zeigte immer noch Auffälligkeiten und sein Bauch erblühte schon wieder einmal mit einem Ausschlag unklarer Herkunft. Außerdem hatte er häufig zum Teil auch sehr hohes Fieber, ohne dass eine wirkliche Ursache erkennbar gewesen wäre. Innerlich war ich ausgesprochen froh, dass die Ärztin diese Entscheidung für uns traf, denn ich hatte mich auch schon besorgt gefragt, ob wir es überhaupt verantworten konnten, ein derart empfindliches Kind in eine Kindertagesstätte zu geben. Mein Mann Leon dagegen hatte bereits nach dem Krankenhausaufenthalt mit dem Gedanken gespielt, Benjamin drei Jahre lang zu Hause zu behalten, in der Hoffnung, dass sich seine Gesundheit bis dahin stabilisiert haben würde. Mein Arbeitgeber, ein großes Forschungsinstitut, sah darin kein Problem und gewährte mir bereitwillig ein weiteres halbes Jahr Erziehungsurlaub. Natürlich hatte ich nie wirklich aufgehört zu arbeiten, denn auch nach der Verteidigung meiner Promotion las ich alle neuen Publikationen zu meinem Fachgebiet und schrieb mit einigen Kollegen Veröffentlichungen. Conrad war überglücklich, dass er weiterhin zu Hause bleiben durfte.
Im Laufe des nächsten halben Jahres arbeitete ich intensiv daran, Benjamin mit der Welt draußen vertraut zu machen. Heute muss ich sagen, dass mir das nur mit mäßigem Erfolg gelungen ist. Für längere Strecken wollte ich den Kinderwagen, jetzt wo die Tage immer wärmer und sonniger wurden, durch einen praktischen Buggy ersetzen. Durch meine früheren Erfahrungen mit der Tragetasche und dem Hinsetzen im Kinderwagen ahnte ich schon, dass Benjamin das nicht einfach so akzeptieren würde. In weiser Voraussicht gewöhnte ich meinen Sohn erst einmal in der Wohnung an den Buggy. Zuerst klappte ich ihn nur auf, stellte ihn hin und wartete, dass Benjamin Interesse daran zeigt. Als er nach ein paar Tagen bereit war, sich hineinzusetzen, kutschierte ich ihn durch die Wohnung, wann immer er das wollte. Nach zwei Wochen versuchte ich, ihn aus der Wohnung zu schieben, aber das schlug jämmerlich fehl. Im Endeffekt dauerte es fast vier Monate, bis er bereit war, sich im Buggy aus der Wohnung schieben zu lassen. Danach gab es keine Probleme mehr, wenn es darum ging, den Buggy zu benutzen. Ich war mächtig stolz auf meinen Erfolg, konnte aber dieses Gefühl nur mit meinem Mann teilen. Leon war der Meinung, dass ich das Richtige tat. Benjamins Großmütter und auch einige meiner Freundinnen vertraten die Auffassung, dass ich viel zu viel Zirkus mit diesem Kind machte, dass man manchmal seinen Willen mit Nachdruck durchsetzen musste und dass ich auf diese Art und Weise mein Kind nur ver- und nicht erziehen würde. Hatten sie vielleicht recht? Musste ich „nur“ lernen, Benjamins panisches Weltuntergangsweinen zu ertragen und alles würde sich rapide bessern? Mein Gefühl sagte mir allerdings, dass dieses kleine Kind ganz erhebliche Probleme mit der Welt um sich herum hat, dass ich behutsame Wege finden musste, um ihm einen Weg in diese Welt zu zeigen, und dass es auf diesem Weg Begleitung und Unterstützung benötigte. Aber wie sollte ich dieses Gefühl jemandem erklären? Ich konnte es nicht. Und so beschritt ich weiter meinen Weg und riskierte dabei, als übereifrige Glucke, inkonsequente Mutter oder als Person, die nicht die richtigen Prioritäten setzte, zu gelten. Ich bin fest davon überzeugt, dass mein damaliges instinktives Handeln richtig war, denn mit meinem heutigen Wissen über Autismus und den damit verbundenen Wahrnehmungsstörungen sowie Veränderungsängsten bin ich der Meinung, dass ich, wenn ich weniger einfühlsam gehandelt hätte, die Tür in die Welt für Benjamin vielleicht für immer verschlossen hätte.
Benjamin ließ sich nun stundenlang im Buggy herumfahren, vorausgesetzt, wir versuchten nicht Kaufhäuser zu betreten, überfüllte Nahverkehrsmittel zu benutzen sowie Märkte oder Menschenansammlungen zu passieren. Er liebte Parks und Grünanlagen, verspürte aber auch hier nicht den Drang, den Buggy zu verlassen. Für mich ergab das überhaupt keinen Sinn. Zu Hause war er jetzt ein äußerst agiles Kerlchen, er kletterte auf Regale und Stühle, sogar auf Tische und auf die Fensterbretter. Er drehte Eimer um, um darauf zu steigen und zeigte große Kreativität, wenn es darum ging, Kisten oder Ähnliches aufeinanderzustapeln, um dann darauf zu klettern und aus dem Fenster zu schauen. Wo war dieser Bewegungstrieb nach dem Verlassen der Wohnung? Hatten wir vergessen, ihn mitzunehmen? Der Drang, dem Regen zuzuschauen, steigerte seine Kreativität und perfektionierte seine Stapel- und Kletterkünste. Waren wir aber draußen, wenn es regnete, schien ihm das Unbehagen zu bereiten und ich musste peinlich genau darauf achten, dass er nicht nass wurde. Er spürte nicht das Bedürfnis, seine kleine Hand einmal auszustrecken, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, wenn Regentropfen darauf zerplatzen. Er spürte auch nicht den Drang, durch eine Pfütze zu laufen und sich daran zu erfreuen, wie das Wasser spritzt. Er war ein Kind, das immer um die Pfützen herumlief, wenn es uns gelungen war, ihn im oder nach dem Regen dazu zu bewegen, ein paar Schritte zu laufen. Wind löste ängstliches Unbehagen bei ihm aus. Da ich Benjamin zu Hause inzwischen wegen seiner Kletterkünste keinen Augenblick aus den Augen lassen konnte, hätte ich eigentlich froh sein können, dass er draußen so wenig anstrengend war. Aber das Gegenteil war der Fall, ich strebte draußen mehr und drinnen weniger Aktivität an.
Eine meiner Überlegungen bestand darin, dass, wenn ich ohne Buggy zum Spielplatz gehen würde, mein Sohn keine andere Wahl hätte, als zu buddeln. Obwohl der kurze Weg zum Spielplatz mit Benjamin fast eine Stunde dauerte und obwohl ich Benjamin immer sanft ziehen und festhalten musste, da er sonst weglief, war es jedes Mal ein triumphaler Erfolg, diesen Weg geschafft zu haben. War der Spielplatz leer, dann ließ sich mein Sohn auch auf ein kurzes Spielen im Sand ein, wobei er immer eine Anleitung für das, was er denn mit dem Sand tun konnte, benötigte. Kamen andere Kinder dazu, lief Benjamin weg. Zu meinem großen Erstaunen lief er nicht irgendwo hin, sondern schnurstracks nach Hause. Er hatte sich also den Weg gemerkt und er war auch in der Lage, draußen schnell zu laufen. Wäre Benjamin damals mein einziges Kind gewesen, dann hätte ich kein Problem damit gehabt, immer in der Mittagszeit mit ihm auf den verwaisten Spielplatz zu gehen. Aber Conrad war auch noch da und er fand es langweilig, alleine auf dem Spielplatz zu sein, er wollte seine Freunde treffen. Also gingen wir fast täglich ein zweites Mal auf den Spielplatz und dieses Mal saß Benjamin in seinem Buggy. Fand ich eine ruhige Ecke und kam ich nicht auf den Gedanken, Benjamin nötigen zu wollen, den Buggy zu verlassen, dann ging alles eine Weile lang ganz gut. Zwei Probleme traten aber regelmäßig auf. Das eine waren kleine Mädchen im Kindergarten- oder Grundschulalter, die sich lieber mit kleinen Kindern als mit Puppen beschäftigten und die immer wieder diesen süßen, kleinen, blond gelockten Jungen zum Spielen abholen wollten. Das andere waren Mütter, die nicht glauben wollten oder konnten, dass Benjamin freiwillig im Kinderwagen saß, mir gute Ratschläge gaben und mich in nicht enden wollende Diskussionen verwickelten. Aber wie sollte ich in Worte fassen, was für mich selber nur ein schwer beschreibbares Gefühl war? Wie gerne hätte ich im Sand gesessen und mit Benjamin Sandkuchen gebacken! Langsam fühlte ich mich um diese unbeschwerte Buddelzeit, die den meisten anderen Müttern mit ihren Kindern vergönnt war, betrogen. Dass Benjamin auf unserem Balkon ausgiebig buddelte, war hier nur ein schwacher Trost.