Читать книгу Nikolka - Inga Häusermann - Страница 6
Anke
ОглавлениеWie immer trafen wir uns gegen neun Uhr vormittags.
Ich stand auf der Steintreppe vor der Haustür, drückte die Klingel und wartete, bis sein Schatten hinter dem kleinen Milchglasfenster auftauchte. Ich hörte, wie er behutsam den Riegel zurückschob. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt breit, und er bat mich herein.
Wir stiegen die Stufen zur Garderobe hoch. Ich öffnete den Schrank unter dem alten Leuchter und griff nach seinem Mantel, während er sich am Geländer festhielt. Hinter ihm im Treppenhaus hingen drei gerahmte Ahnenporträts, die vom erhabenen Glanz vergangener Zeiten zeugten. Folgte man ihnen in den obersten Stock, tauchte man immer tiefer in die Galerie seiner Vorfahren ein, deren Abschluss das prachtvoll verzierte Bild des weit verzweigten Familienstammbaums machte. Darunter stapelten sich neben alten Chroniken verschiedene Alben, die, zum Teil vom vielen Blättern zerschlissen, bis in die Anfänge der Fotografie zurückreichten. Im angrenzenden Studierzimmer mit dem schweren, lederbezogenen Sessel reihten sich in den hohen Bücherregalen neben den Werken von befreundeten Schriftstellern, Geschichtsbänden und philosophischen Abhandlungen alle bedeutenden Romane und Erzählungen der russischen Literatur.
Unten im Erdgeschoss fiel Licht durch eine halb geöffnete Tür in den Flur und legte sich sanft auf die Fliesen. Im Wohnzimmer hing neben dem Ausgang zum Garten eine in Brauntönen gehaltene und in Gold eingefasste Ikone mit der Muttergottes und dem Jesuskind. Über Generationen weitergereicht und sorgsam gepflegt, umgab sie eine Aura von Erhabenheit und innerer Stille. Darunter befand sich ein kleines Möbel mit lieb gewordenen Gegenständen, alten Postkarten und Heiligenbildern. In einem Wandregal in der Nähe des Kamins standen eine Gruppe kleiner, farbiger Stofffiguren, antikes Teegeschirr sowie ein Dutzend Eier, deren filigrane Bemalung in der Tradition russischer Volkskunst an feine Stickereien oder Scherenschnitte erinnerte. Und auf zwei Bauhaussesseln lagen schwarz-weiss gefleckte Rinderfelle.
Ich legte Niklaus den Mantel über die Schultern, und wir stiegen die wenigen Stufen hinunter zur Tür. Den Stock mit dem Elfenbeinknauf in der rechten Hand, setzte er auf dem Kiesweg hin zum Gartentor behutsam einen Schritt vor den anderen. Die Luft roch nach Regen, doch noch war der Himmel blau und hoch, wie man ihn nur an einem klaren Herbsttag erleben kann. «Siehst du die Rosen dort mit den gelben Blüten?», fragte er und zeigte auf eines der Blumenbeete. «Ist es nicht eigenartig, wie sie oft bis tief in den November hinein ihre Pracht entfalten?»
Niklaus war ein grosser, bedächtiger Mann. Trotz seines etwas unsicheren Ganges strahlte er Würde und etwas bescheiden Aristokratisches aus. Er wählte seine Worte mit Sorgfalt, und seine Stimme war melodiös und zerbrechlich zugleich.
Langsam gingen wir nebeneinanderher. Das Quartier wirkte wie ausgestorben. Nachdem wir vorsichtig eine Seitenstrasse überquert hatten, kamen wir an einem Café vorbei, zu dem auch eine kleine Konditorei gehörte. Im Schaufensterglas vor der mit frischen Backwaren belegten Auslage spiegelten sich die Fassaden der gegenüberliegenden, mehrstöckigen, alten Häuser, in deren Erdgeschoss sich ein orientalischer Imbiss, ein Blumengeschäft und ein Lebensmittelladen befanden.
Als wir einen Blick ins Innere des Cafés warfen, sahen wir einen eigenartig gekleideten Herrn hinter der Garderobe verschwinden. «Irre ich mich, oder hatte dieser Mann tatsächlich eine weisse Perücke auf?», wandte sich Niklaus an mich. Auch mir war die seltsame Figur aufgefallen, und da wir beide noch nicht gefrühstückt hatten, traten wir ein.
Die Einrichtung des Cafés war seit den Sechzigerjahren unverändert geblieben. Die Zeit schien stillgestanden zu sein. Ein leichter Hauch von Kölnischwasser schwebte in der Luft. Um kleine, ovale Holztischchen standen niedrige, mit dunkelgrünem Kunstleder bezogene Sessel. Der in grün und weinroten Tönen gemusterte Spannteppich passte zum altmodischen Lokal, in dem vor allem ältere Damen nachmittags beim Tee sassen.
An diesem Tag jedoch schien etwas anders zu sein. Das Licht war gedämpfter als sonst, und die Umrisse des Mobiliars wirkten undeutlicher. Während Niklaus sich an einem der polierten Holztischchen in einem Sessel einrichtete, brachte ich seinen Mantel und seinen Stock zur Garderobe und setzte mich zu ihm.
«An genau diesem Tisch sassen Anke und ich schon in den frühen Sechzigerjahren», sagte Niklaus. «Es dürfte kurz nach der Eröffnung des Lokals gewesen sein. Wir waren mit Pferden unterwegs, hatten sie draussen angebunden. Ich weiss noch, dass wir beide furchtbar aufgeregt waren. Es war unser erster gemeinsamer Ausritt, und zwischen uns lag ein heftiges Knistern in der Luft.
Kennengelernt hatten wir uns über meinen Cousin Sergius und seine Frau Miggi, die damals etwas oberhalb von Interlaken wohnten. Miggi führte dort eine physiotherapeutische Praxis. Sergius hatte es sich schon lange in den Kopf gesetzt, für mich eine Frau zu finden, daher erstaunte es mich nicht, als er anrief und sagte: ‹Niklaus, meine Frau hat eine neue Mitarbeiterin, sie ist blond und eine richtige Sumawuscha. Komm doch zu uns zum Abendessen!› Heute darf man den Ausdruck der ‹Supermaximalen Wunderschabe› vermutlich nicht mehr verwenden. Aber damals wusste ich natürlich, was damit gemeint war.
Also fuhr ich zu ihnen nach Interlaken und war sofort hingerissen von der bezaubernden Frau, die ich dort antraf. Ich erinnere mich noch genau an das kurze rote Kleid und den dazu passenden schwarzen Pullover, den Anke an jenem Abend trug. Sergius war noch nicht zu Hause. Nachdem Miggi uns einander vorgestellt hatte, liess sie uns alleine im Wohnzimmer zurück, und wir versuchten, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Mir gefiel, dass sie sich für Pferde interessierte, denn ich war selbst ein ganz passabler Reiter, und so befanden wir uns unversehens mitten in einer angeregten Diskussion. Damals war man im persönlichen Umgang noch sehr formell, und so fragte ich etwas umständlich: ‹Fräulein Langeheine, ich kenne in Bern eine Reitschule. Könnten Sie sich vorstellen, mich einmal dorthin zu begleiten?›
Von nun an fieberte ich jedem Montag entgegen. Es war der Tag, an dem wir uns jeweils in der grossen Halle hinter dem Bahnhof trafen. Auch Anke liess in den Briefen an ihre Mutter durchblicken, dass sich in Bern etwas anbahnte, was ich natürlich erst viel später erfuhr.
An einem düsteren Dezembertag mietete ich für unseren ersten Ausritt Pferde. Und während wir im Bremgartenwald über die frisch verschneiten Wege trabten, zauberten uns die schneeverhangenen Äste ein märchenhaftes Spalier. Plötzlich hatte ich das Bild von Wassilissa, der Hauptfigur im Lieblingsmärchen meiner Kindheit, vor Augen. Von der bösen Stiefmutter und deren Töchtern in den Wald geschickt, musste sie bei der Hexe Babajaga Feuer holen. Am Ende konnte nur ihre Puppe Babuschka sie vor dem sicheren Tod retten. Ich fragte mich, was mir Babuschka wohl bei Anke raten würde und sagte: ‹Fräulein Langeheine‚ beim Ausreiten will es der Brauch, dass man sich gegenseitig duzt. Dürfte ich Ihnen das Du anbieten?› Als echte Hamburgerin war sie über meine Direktheit zwar etwas überrascht, wagte aber auch keinen Einwand vorzubringen. Schon ein wenig vertrauter ritten wir weiter, und zuweilen war mir, als würde zwischen den Bäumen Babajagas Hütte kurz aufscheinen. Auf dem Heimweg kehrten wir dann in diesem Café ein», sagte Niklaus, während er das letzte Stückchen seines Gebäcks auf die Gabel schob. Die ältere Dame mit der weissen Schürze, die uns den Kaffee gebracht hatte, räumte die leeren Teller weg, und ich holte seinen Mantel und seinen Spazierstock aus der Garderobe.
Draussen wirbelte eine leichte Brise über den Asphalt und liess die letzten Blätter an den Bäumen erzittern. Aus der Ferne winkte uns der Apotheker zu. Auf dem Weg Richtung Helvetiaplatz hielten wir immer wieder kurz inne. «Das Jahresende rückte näher», fuhr Niklaus fort, «und bei Anke zu Hause in Hamburg ist es an Weihnachten immer sehr feierlich zu- und hergegangen. Für sie war es das erste Mal, dass sie diese Zeit nicht mit ihrer Familie verbringen konnte, was sie furchtbar traurig machte. Ich bot ihr deshalb an, die Festtage gemeinsam mit mir bei meinen Eltern zu verbringen. Für meine Familie waren die russisch-orthodoxen Weihnachten im Januar das eigentliche Fest, und am 24. Dezember luden wir alleinstehende oder bedürftige Menschen zu uns ein.
Die Kerzen brannten, und das Gold der Ikonen glänzte geheimnisvoll an den dunklen Wänden. In Ankes Augen lag noch immer eine Spur Wehmut, als sie mir half, den Tisch festlich zu schmücken. Meine Mutter Walentina und mein Stiefvater strahlten jedoch an diesem Abend eine solche Heiterkeit aus, dass sie wie alle anderen Gäste ihren Kummer bald gänzlich vergass.
An Silvester waren wir bei meinem Cousin Yura in La Chauxde-Fonds eingeladen, wo stets eine Menge Wodka getrunken wurde. ‹Wir feiern ein russisches Fest›, warnte ich Anke. ‹Pass auf, dass sie dir nicht immer wieder nachschenken, sonst trinken sie dich am Ende noch unter den Tisch.› An der festlichen Tafel ging es, wie bei Yura üblich, hoch zu und her. Anke sass zwischen mir und einem ebenso charmanten wie gut aussehenden Vertreter des russischen Hochadels. Nadeschkin konnte sich an ihr kaum sattsehen, was mir nicht entgangen war. Schliesslich sprach er sie mit vor Leidenschaft funkelnden Augen an: ‹Fräulein Langeheine, ich habe den Eindruck, dass wir uns bald noch sehr viel näher kennenlernen werden.›»
Vor der Kunsthalle unterhielten sich leise drei Männer in eleganten Anzügen, mit hohen, schwarzen Hüten und spitzbärtigen Gesichtern. Niklaus wunderte sich kurz über die fremden Gestalten, die aus einer anderen Zeit zu stammen schienen und von denen ihm die eine seltsam bekannt vorkam.
Bevor wir die Kirchenfeldbrücke überquerten, fuhr er in seiner Erzählung fort: «Zwei Tage später war Bärzelistag. Als ich Anke von der eigentümlichen Überlieferung erzählte, dass Menschen, die in der Nacht vor dem Namenstag Berchtolds das Zeitliche segnen, noch im gleichen Jahr wiedergeboren werden, hörte sie aufmerksam zu. Ich spürte, wie nahe wir uns inzwischen gekommen waren, und so nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und machte ihr einen Heiratsantrag. Der Gedanke an die unglückliche Ehe ihrer Eltern liess sie zögern, und ich musste mich noch eine Weile gedulden, bis von ihr endlich das erlösende Jawort kam. Im Frühjahr 1964 feierten wir unsere Verlobung. Auch meine künftige Schwiegermutter reiste aus Deutschland an, um mich in Augenschein zu nehmen. Ich überreichte ihr einen Blumenstrauss und eine Flasche Champagner und hielt förmlich um die Hand ihrer Tochter an.
Im folgenden Jahr heirateten wir zuerst auf lutherische, dann auf russisch-orthodoxe Art. Während der orthodoxen Zeremonie trugen Anke und ich die traditionellen Kronen. Auf dem Boden lag ein rosafarbenes Seidentuch. Ein alter Brauch besagt, dass derjenige, welcher das Tuch als erster betritt, auch in der Ehe das Zepter in der Hand halten wird, und Anke freute sich darüber, dass ich ihr den Vortritt liess.
Inzwischen hatte sich Anke weitergebildet und war mit dem Aufbau eines Zentrums für cerebralgeschädigte Säuglinge in Freiburg beschäftigt. Sie hatte sich mit grosser Begeisterung in dieses Fachgebiet eingearbeitet und leistete später selbst einen bedeutenden Beitrag dazu.
Endlich war sie angekommen. Der Umzug in die Schweiz war für sie, die aus einer gutbürgerlichen Hamburger Familie stammte, ein regelrechter Kulturschock gewesen. Bei ihrer Ankunft hatte sie das Bild von einem Land im Kopf, in dem Heidi und der Geissenpeter lebten und statt Milch und Honig Schokolade floss. Stattdessen traf sie auf mich und die ganzen russisch-orthodoxen Exilanten und sonderbaren literarischen Bohemiens, von denen ich umgeben war. In Miggis Praxis wiederum wunderte sie sich über die kleingewachsenen, kauzigen Männergestalten, die sie so eigentümlich anstarrten, und einen Knaben, der unter Scheuermann, einer Wachstumsstörung der jugendlichen Wirbelsäule, litt und sie während der ganzen Behandlung mit wildem Blick und offenem Mund beäugte. Als sie Miggi auf diese seltsamen Bergler ansprach, meinte diese nur: ‹Das ist auch der Grund, weshalb die dort oben in Habkern viel zu wenig Frauen haben. Die Weiber laufen ihnen alle davon.›»