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Le prince

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Wir überquerten den Casinoplatz und konnten vor uns schon das Kornhaus erkennen. Bei der Tramhaltestelle setzten wir uns auf eine Holzbank. Das hektische Treiben im Stadtzentrum und die rastlosen Menschen im Lärm des Verkehrs kamen mir auf einmal seltsam unbedeutend vor, während ich neben Niklaus sass, der in Gedanken ins Ancien Régime abgetaucht war. In die Welt seiner Ahnen, die ihn seit seiner Kindheit begleiteten und an deren Bildnissen er täglich, auf dem Weg von seinem Schlafzimmer hinunter in die Küche und spätnachmittags die Treppe hoch in die Bibliothek, vorüberging. All diese Porträts waren von Generation zu Generation weitergegeben worden, oder er hatte sie in alten Sammlungen aufgestöbert und an Auktionen ersteigert.

«Ich habe mich immer als Teil der Geschichte verstanden», bemerkte Niklaus. «Hier am Kornhausplatz beispielsweise erwarb Johannes Stäger, der Stammvater unserer Familie, Mitte des 16. Jahrhunderts ein Haus. Der Schneider war erst kurz zuvor aus dem Thurgau nach Bern gekommen. Dass er sich eine Liegenschaft an einer derart prominenten Lage leisten konnte, war nicht selbstverständlich. Und dass sie ihm zugesprochen wurde, zeigt, dass er sich in der Gesellschaft der Bernburger rasch Ansehen verschafft hatte.»

Niklaus und ich versuchten uns auszumalen, wie anstelle der Strassenbahn Kutschen vorfahren. Wie Frauen mit wallenden Röcken und eleganten Hüten vom Trittbrett steigen, die Hand dem aufmerksamen Kutscher reichend, während Männer in Amtsroben und weissen Halskrausen ihnen zur Begrüssung entgegenschreiten. Die Szenen, die sich vor unserem inneren Auge aufbauten, schienen sich hinter einem milchglasigen Schleier abzuspielen, als blickten wir durch ein trüb gewordenes Fenster in längst vergangene Tage. Benommen von diesem Wechselspiel der Zeiten und dem Vergangenen fast näher als dem Gegenwärtigen, machten wir uns wieder auf den Weg. Wir überquerten die Strasse, ohne die Busse und vorbeieilenden Passanten zu bemerken, bogen in die Rathausgasse ab und tauchten in die Laubengänge der Unterstadt ein. In den Kisten vor den Antiquariaten lagen Bücher neben Kupferstichen, historischen Veduten und alten Postkarten mit Blumenmotiven.

Weiter unten in der Gasse beim alten Schlachthaus verliessen wir die Lauben wieder. Die Kirchenglocken läuteten. Auf dem Pflaster lagen Pferdeäpfel, und Niklaus fasste mich rasch am Arm, als vor uns auf dem Rathausplatz eine schwere Kutsche vorfuhr. Ein adliger Herr mit roten, knielangen Hosen und einem goldbestickten Wams stieg leicht wankend vom schmalen Trittbrett. Niklaus streckte ihm kurzentschlossen die Hand entgegen. Als sich ihre Blicke trafen, stutzte Niklaus. Er kannte den Herrn mit der Perücke unter dem breitkrempigen Hut von irgendwoher. «Von Steiger, Schultheiss Christoph von Steiger», stellte sich dieser vor. «Vielleicht darf ich Sie auf ein Glas in eine meiner Weinstuben bitten», bedankte er sich und wischte sich den Schweiss von der geröteten Stirn, «noch bleibt mir etwas Zeit vor der Sitzung im Rat». Bevor Niklaus antworten konnte, zog er uns bereits in Richtung eines Kellerlokals. Nun war ich es, die Niklaus zurückhalten musste, damit er nicht über die Pflastersteine stolperte.

Auf der Treppe kam uns eine zweite Gestalt in Amtstracht und mit historischer Perücke entgegen, zog den Hut und verneigte sich zum Gruss.

Unten im Keller wies uns von Steiger einen Tisch zu und rief: «Bringt uns drei Gläser vom Tschugger Pinot Noir, und zwar vom besten!» und uns zugewandt: «Nun habt ihr ihn gerade gekreuzt, meinen Gegenspieler und Amtsgenossen, oder wie auch immer man den Hieronymus von Erlach bezeichnen soll.» Von Erlachs leicht aufgedunsenes Gesicht hatte rundlicher gewirkt, vielleicht auch lebenslustiger als jenes von Steigers, das in seiner kargen, schmalen Kantigkeit etwas Ernsthaftes, Hochwürdiges ausstrahlte. «Und mit wem habe ich es eigentlich zu tun?», fragte er Niklaus, der sich ebenfalls mit von Steiger vorstellte. «Gut», meinte darauf der Herr, «auch wenn ich Ihnen bisher noch nicht begegnet bin, so gehören Sie offenbar zur Familie, und ich muss kein Blatt vor den Mund nehmen».

Unser Gastgeber war im 17. Jahrhundert in höchste Ämter aufgestiegen und weitherum für sein diplomatisches Geschick bekannt. Das Verhandeln hatte im alten Bern und dem zweihundertköpfigen Rat oft besondere Klarsicht und Fingerspitzengefühl erfordert. Seit sein Urahn Johannes Stäger in den Grossen Rat gewählt worden war, hatten das Ansehen und der Einfluss der von Steigers stetig zugenommen. Sie wurden Säckelmeister und Landvögte. Als erster Vertreter ihres Geschlechts hatte Christoph schliesslich den Schultheissenstuhl bestiegen und war zum Träger des höchsten Amts im damaligen Bern geworden.

Dass es die Familie überhaupt zu dieser Position gebracht hatte, war massgeblich jenen Vorfahren zu verdanken, die in einem geschickten Schachzug von der Zunft zum Mohren zur Gesellschaft zu Ober-Gerwern übergetreten waren. Diese gehörte zu den vier einflussreichsten Zünften, die erst die Polizei, später auch die Gerichtsbarkeit unter sich hatten und an Macht und Bedeutung gewannen.

Christoph von Steigers Ruf als geschickter Verhandler festigte sich nach dem Tod des damaligen Fürsten von Neuenburg, besser bekannt unter dem Namen «Le prince». Als dieser kinderlos verstorben war, stritten sich die Franzosen und Preussen um die Übernahme des Gebiets. Man suchte nach einem fähigen Vermittler, und von Steiger übernahm das ihm angetragene Mandat. Aufgrund seines Schiedsspruchs gelangte das Fürstentum in die Hände Preussens. Zum Dank wurden er und seine Nachkommen in den Baronenstand erhoben. Niklaus brüstete sich niemals damit, es hätte nicht seinem Wesen entsprochen, doch auch er trug noch immer den Adelstitel in seinem Namen.

Nach dem Tod von Christoph folgten mit seinem Sohn Christoph II. und Niklaus Friedrich, dem letzten Schultheissen des alten Bern, zwei weitere Schultheissen aus der Linie von Steiger, die das Wappen des schwarzen Bocks trugen.

An unserem Tisch im Weinkeller verwickelten sich Niklaus und Christoph innerhalb kürzester Zeit in ein angeregtes Gespräch.

Christoph erklärte, dass er und von Erlach sich traditionsgemäss den Posten des Schultheissen teilten. Abwechslungsweise leiteten sie ein Jahr lang den Rat und hätten im folgenden Jahr mehrheitlich mit auswärtigen Angelegenheiten zu tun. Sie beide bevorzugten allerdings die Rolle des stillstehenden Schultheissen, weil man in dieser Position den aussenpolitischen Einfluss festigen könne. Dies führe dazu, dass man sich zuweilen auch Steine in den Weg lege, Geschäfte verschleppe oder sie absichtlich beschleunige.

Von Erlach hatte sich für seine Laufbahn, wie damals üblich, immer wieder die Dienste seiner Ratskollegen erkauft und war deshalb ständig auf Geldsuche. Auf dieselbe Weise hatte er sich auch die Gunst Avarais, des Gesandten von Louis XV. in der Schweiz, und schliesslich das Amt des zweiten Schultheissen erworben. Zusätzlich half ihm dabei die Heirat mit einer sogenannten Barettlitochter, wie man Ratsherrentöchter nannte, die man nur zum Zweck des eigenen politischen Vorankommens heiratete.

«Auf solche Winkelzüge ist von Erlach dringend angewiesen», zog Christoph über seinen Widersacher her, «denn, wenn es auch niemand wissen darf, so ist doch allseits bekannt, was er auf dem Kerbholz hat. Etwa, dass er als Jüngling in Aarwangen jemanden zu Tode gebracht hat und dies unter den Teppich gekehrt wurde. Oder seine vielen Weibergeschichten, die ihm ein Dutzend Kinder beschert haben sollen. Seine Frau und seine Tochter hingegen hat er in ein Kloster abgeschoben, was auch nicht gerade die feine Art ist. Und erst neulich hat eine seiner zahlreichen, früheren Mätressen damit gedroht, ihre Affäre öffentlich zu machen, was ihn eine hübsche Summe Schweigegeld gekostet hat. Abgesehen von seiner Vorliebe für prunkvolle Auftritte und seinem ausschweifenden Lebensstil ist er auch für solche Belange immer wieder dringend auf Nebeneinkünfte angewiesen.

Mich persönlich ärgert die Unsitte, sich Gefälligkeiten zu erkaufen, auch wenn ich zuweilen selbst gewisse Zuwendungen entgegennehme. Im Gegensatz zu Hieronymus aber versuche ich, meine Weste wenigstens einigermassen sauber zu halten.»

«Was das Regieren manchmal schwierig macht», erklärte der Schultheiss, «ist der Umstand, dass Hieronymus und ich jede unserer Entscheidungen von den Ratsmitgliedern, die nicht selten bereit sind, ihr vertrauliches Wissen gegen gutes Geld zu verkaufen, absegnen lassen müssen. Und je heikler die Geschäfte sind, umso schneller erfährt die ganze Gesellschaft davon. Die besten Ergebnisse erziele ich noch mit Geheimverhandlungen, doch auch diese versucht man mir mehr und mehr zu unterbinden. Hinzu kommt, dass Louis XV. wenig bis gar kein Verständnis für unser Politsystem aufbringt. Aber wie soll man auch einem französischen König alle Eigenarten eines so kleinen und unbedeutenden Staatenbundes wie der Eidgenossenschaft erklären?»

Nach dieser Bemerkung erhob er sein Glas und schloss mit den Worten: «Wie dem auch sei, ich will euch nicht länger aufhalten, und die Geschäfte drängen. Trinken wir einen letzten Schluck auf das gemeinsame Wohl, getreu dem Sprichwort: ‹Venedig ist auf Wasser, Bern aber auf Wein gebaut›.»


Nikolka

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