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Konstantinopel

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In Russland weitete sich die wirtschaftliche und technische Rückständigkeit mehr und mehr auf alle Bereiche des geschäftlichen Lebens aus. Die Schifffahrtsgesellschaft «Roput» hingegen, die 1856 unmittelbar nach dem Krimkrieg vom langjährigen Stadtpräsidenten Odessas mitbegründet worden war, blühte unter Admiral Nikolai Tschichatschow förmlich auf. Zwei Jahre nach der Inbetriebnahme hatte das Unternehmen bereits 35 Schiffe in französischen und englischen Werften bauen lassen, die weit über hunderttausend Passagiere und über vier Millionen Tonnen Ware auf zwölf Seewegen transportierten. Die Firma wurde grösser und grösser, fuhr bis in die Häfen von Ägypten und Frankreich und entwickelte sich zur führenden Reederei im Handel mit dem Osmanischen Reich. In der Folge berief man den Admiral in den Marinestab und übertrug ihm später sogar das Amt des Marineministers.

Auf der Suche nach einem neuen Direktor kam Rudolf von Steigers Sohn Eduard, der sich nach der Rückkehr aus der Schweiz und dem Studium in Sankt Petersburg während seiner 15-jährigen Tätigkeit im Marineministerium einen Namen gemacht hatte, ins Spiel. An seinem Vorstellungsgespräch gelang es ihm, die Unternehmensgründer davon zu überzeugen, dass sie mit ihm die beste Wahl für den weiteren Ausbau ihrer Flotte treffen würden.

Als Eduard seine Stelle in Konstantinopel antrat, hatte die einst blühende Hauptstadt des Osmanischen Weltreichs ihren Zenit bereits überschritten. Es war versäumt worden, die notwendigen Modernisierungen durchzuführen, überall herrschte Korruption, und die militärischen Niederlagen hatten auch auf das Leben in der Metropole ihre Auswirkungen. Trotzdem war Konstantinopel, wo zwei Kontinente und eine Vielzahl von Nationalitäten aufeinanderstiessen, noch immer ein faszinierender und lebendiger kultureller Schmelztiegel. In den Strassen und Gassen vermischten sich Menschen christlicher, jüdischer und muslimischer Prägung mit allen erdenklichen Ethnien, und das gegenseitige Interesse am Austausch trieb die Geschäfte voran. Im «ägyptischen Basar» reihten sich in einer langen, überwölbten Passage kleine Läden aneinander, die Gewürze und allerhand Erzeugnisse für Apotheker, Färber und Parfümeure anboten. Langbärtige Händler sassen mit untergeschlagenen Beinen in Kaftanen und mit Turbanen würdevoll inmitten von Gefässen mit geheimnisvollen Salben und Tinkturen und warteten auf Kundschaft. In der Nähe des Basars lagen die Gasthäuser und Karawansereien, wo die von weit her gereisten Kaufleute übernachten und ihre Güter einlagern konnten. Unmengen von Stoffrollen und Gefässen mit eingelegten Oliven und getrockneten Datteln standen bereit, und in den riesigen Lagerhallen stapelten sich kostbarste Teppiche.

Auf einem dieser Basare begegnete Eduard erstmals Philomène Durand, der Tochter eines französischen Bankiers, die durch ihre ausserordentliche Eleganz die ganze Gesellschaft Konstantinopels bezauberte. Auch Eduard konnte sich dem Charme dieser Frau nicht entziehen und hielt schliesslich bei ihren Eltern um ihre Hand an.

Das grosse Haus, das die beiden nach ihrer Heirat bezogen, trug den schönen Namen «Petit Champs», auch wenn weit und breit kein Feld zu sehen war. Philomène brachte all ihre Kinder in «Petit Champs» zur Welt. Den älteren Kindern Walerija, Anatolij und Rudolf folgten mit etwas Abstand Nikolai und Sergej – die späteren Grossväter von Niklaus und Sergius Golowin.

Während die Söhne zu Hause von einer Gouvernante und einem Schweizer Privatlehrer unterrichtet wurden, besuchten Walerija und die meisten ihrer Cousins und Cousinen das französische Pensionat Notre Dame de Sion. Die Sonntage verbrachten Walerijas Brüder oft bei ihnen im Kloster, wo die Atmosphäre stets fröhlich und unbeschwert war.

1921 kam Sergej, der jüngste der Brüder, auf seiner Flucht vor der Russischen Revolution noch einmal bei jenem Kloster vorbei. Am äusseren Erscheinungsbild hatte sich nichts geändert, und auch in den Gängen roch es noch immer wie in seinen Kindertagen. Und obwohl inzwischen mehr als vier Jahrzehnte vergangen waren, kam es ihm vor, als wären es dieselben Schwestern, die ihn empfingen. Noch trotzten die schweren Mauern dem Weltgeschehen und waren von Ruhe und Frieden erfüllt.

Die Eltern Eduard und Philomène führten ein offenes Haus. Abends empfingen sie entweder Besucher oder waren selbst irgendwo zu Gast. Dann wurde gesungen, musiziert und eine Partie Whist gespielt. Dieses Kartenspiel, das ursprünglich aus England stammte und aus dem sich später das Bridge entwickelte, hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts um den ganzen Erdball verbreitet und wurde vor allem in jenen Kreisen mit Begeisterung gespielt, die den britischen Lebensstil priesen. Obwohl auch im russischen Adel der gelegentliche Gebrauch französischer Redewendungen zum guten Ton gehörte, war die Bewunderung für englische Sitten und Gebräuche weit verbreitet.

Bei den grossen Empfängen in «Petit Champs» waren die Kinder nicht dabei. Nur bei kleineren Einladungen kam es zuweilen vor, dass sie zusammen mit der Gouvernante an einem separaten Tisch essen durften. Meistens jedoch nahmen die Knaben ihre Mahlzeiten im hauseigenen Schulzimmer ein und wurden anschliessend ins Bett geschickt, wo sie noch eine Weile der Musik, dem vergnügten Lachen und den Gesängen der Gäste lauschen durften. Dann kam die Mutter, setzte sich zu ihnen ans Bett, bekreuzigte sie und sprach ein Nachtgebet. Eingenommen von ihrer liebenswürdigen Art und mit dem Bild ihres anmutigen Lächelns vor Augen, schliefen sie friedlich ein. Auch den Vater bewunderten sie über alles. Im Gegensatz zu Philomène war er von grosser, aber schlanker Statur und hatte trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner grau gelockten Haare ein jugendliches Gesicht. Eduard wiederum war stolz, dass seine Frau als die eleganteste Dame Konstantinopels galt. An vielen Anlässen und Empfängen waren ihre Kleidung und ihr sicherer Geschmack das vorherrschende Thema unter den Damen. Auch als die Auslagen später eingeschränkt werden mussten, war sie stets darauf bedacht, ihre Noblesse nie völlig ablegen zu müssen.

In jenen Tagen in Konstantinopel jedoch fehlte es ihnen an nichts. Sie waren von zahlreichen griechischen Bediensteten umgeben, besassen Pferde und ein Boot, mit dem sie im Sommer in Begleitung von drei türkischen, in goldene Gewänder gekleideten Ruderern Ausfahrten machten. An die Bälle liess sich Philomène von zwei edel ausstaffierten Knaben in einer geschlossenen «Chaise à Porteur» tragen. Ansonsten stand die Sänfte in der Empfangshalle, und wenn es niemand sah, setzten sich die Kinder hinein und ahmten das Leben der Erwachsenen nach.

In der gehobenen Gesellschaft Konstantinopels ging es damals ausgesprochen fröhlich zu und her. Die Menschen waren unbeschwert und voller Lebensfreude. Nebst Bällen und Empfängen fanden Konzerte und Theaterveranstaltungen statt. Im Sommer unternahm man Picknickausflüge aufs Land oder auf die Prinzeninseln.

Die Familie von Steiger reiste jeden Frühling an den Bosporus, meistens nach Bujuk-Dare. Der Ort mit den vielen Botschaften und Residenzen galt in ihrem Bekanntenkreis als beliebtes Ausflugsziel. Besonders beeindruckte die russische Residenz, die von einem prachtvollen Park umgeben war und von der aus man eine wundervolle Aussicht auf die Öffnung des Bosporus mit den vielen Schlössern und ausgedehnten Gartenanlagen bis hin zum Schwarzen Meer und zum Hafen von Konstantinopel hatte. Und man sah auf das Goldene Horn, das den Bosporus mit dem Marmarameer verband. Obwohl Eduard und Philomène in ihrem Leben viele Länder bereist hatten, waren sie sich einig, dass ihnen nie zuvor eine Gegend von vergleichbarer Schönheit begegnet war.

Die von Steigers verfügten neben einem Kutter über ein eigenes Luxusschiff mit dem Namen «Taman». Der Kommandant war schon etwas älter und hatte ein grosses Herz. Alle nannten ihn «Kapitän Gut», und wenn er die Familie durch den Bosporus steuern und ihnen einen Teller seines kräftigen Borschtsch mit einem Stück schmackhaftem Schwarzbrot vorsetzen konnte, strahlte er über das ganze Gesicht.

Die Aufzeichnungen von Eduards Sohn Sergej geben Einblick in das Leben seines Vaters und in die damaligen besseren Kreise von Konstantinopel. Sie zeigen, womit die Gesellschaft zu kämpfen hatte und was sie beschäftigte. Figuren und Schicksale tauchen auf, die man für Erfindungen halten könnte und anhand derer man nachvollziehen kann, warum Niklaus gewisse Kapitel seiner Familiengeschichte mit Tolstois «Anna Karenina» verglich.

Abgesehen von den verwandtschaftlichen Verbindungen, die Philomène und Eduard besonders wichtig waren, bestand ihr Umfeld hauptsächlich aus Mitgliedern des diplomatischen Korps und Teilen der sehr grossen und vermögenden russischen Kolonie. Besonders verbunden waren sie mit dem Minister für Volksbildung, der sich in den schwierigen Jahren, die noch auf die russische Bevölkerung zukamen, hohes Ansehen erwerben sollte, sowie mit dem russischen Botschafter, einem Fürsten Lobanoff-Rostowskij. Ihm sagte man eine stürmische Romanze mit einer jungen Schönheit namens Virginie nach, was dem notorischen Schürzenjäger durchaus zuzutrauen war. Seine zahlreichen Affären hatten dazu geführt, dass man ihn zwischenzeitlich sogar von seinem Botschafterposten abgezogen hatte. 1888 kam er beim tragischen Eisenbahnunfall des Zarenzuges in der Nähe von Birky, an dessen Spätfolgen auch Alexander III. erlag, ums Leben. Der Fürst verschied noch an der Unglückstelle, was letztlich auch seine Geliebte in den frühen Tod trieb.

Über längere Zeit war auch der Sekretär des russischen Militärattachés in aller Munde, nachdem bekannt geworden war, dass er in Armenien mithilfe eines dort stationierten Generals ein einfaches Bauernmädchen geraubt und in die Türkei entführt hatte. In Odessa schliesslich verwandelte es sich zum allgemeinen Erstaunen in eine russische Dame von Welt, und nur ein kleiner Akzent erinnerte noch an deren Herkunft und die zur Legende gewordene Räubergeschichte.

Zu den regelmässigen Gästen in «Petit Champs» gehörte ausserdem eine gewisse Familie Onu, deren ältester Sohn als Student in eine politische Verschwörung verwickelt und in die Verbannung geschickt worden war. Seine von allen geliebte Schwester hatte sich mit einem Gutsbesitzer verheiratet und lebte auf dem Land, als sich eines Tages in der Stadt die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, dass die beiden unter noch ungeklärten Umständen ihre Kinder umgebracht hatten. Auf ihrer Flucht vor der Justiz griff die Polizei sie schliesslich in Wien auf und wies sie nach stundenlangen Verhören und zahlreichen medizinischen Untersuchungen in die Psychiatrie ein. In den gehobenen Kreisen diskutierte man damals, ob es sich um ein brutales Gewaltverbrechen im Affekt gehandelt, oder der Tat nicht doch eine seelische Notlage zugrunde gelegen haben musste.

Während solche und andere Geschichten besonders von den Damen angeregt diskutiert wurden, drehten sich die Gespräche in den Männerrunden immer wieder um die politischen Verhältnisse im Land. Viele der Entscheidungen des Sultans Abdul Hamid hatten einen unmittelbaren Einfluss auf ihre berufliche und persönliche Situation. Obwohl sie grundsätzlich Abdul Hamids autokratischen Führungsstil befürworteten und aufklärerischen Tendenzen ablehnend gegenüberstanden, stellten sie als kultivierte Bürger doch die zunehmende Zensur und den staatlichen Überwachungsapparat infrage.

Als sich aber die Bewegung der sogenannten Jungtürken formierte, die eine Revolution nach französischem Vorbild mit dem Ziel eines säkularisierten Staates anstrebten, ging dies selbst den fortschrittlichsten Köpfen unter ihnen zu weit. Nur Eduard fürchtete weniger den drohenden Untergang des Osmanischen Reichs als die damit verbundenen Zollformalitäten, die auf seine Schifffahrtsgesellschaft zugekommen wären.


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