Читать книгу Die Hexe und der Schnüffler - Inga Kozuruba - Страница 4
Prolog
ОглавлениеEs war zu einfach. Steve stand in den zermalmten Überresten derer, die ihn hatten aufhalten wollen. Seine Hände waren voller Blut, seine Kleidung besudelt – und nichts davon stammte von ihm. Es waren alles ihre Leute. Die Gnadenlose warf ihm ihre Bauern entgegen jedes Mal, wenn sich ihr die Chance dazu bot. Hoffte sie etwa darauf, dass er eines Tages einen Fehler machen würde? Als ob er ihr diesen Gefallen tun würde.
Steve ging auf die Knie und sah sich die Leichen an. Er wusste, was er tun musste, auch wenn er sich noch immer nicht daran gewöhnen konnte. Corry hatte ihm beigebracht, wie die Profis selbst Leichen dazu nutzen konnten, Geheimnisse zu enthüllen. Wer unter Folter nichts preisgab, war als Leiche oftmals hilfreicher – wenn die Leiche noch frisch war. Diese Leichen waren es. Wie ein Rabe pickte Steve ein Auge nach dem anderen heraus, erst das rechte, dann das linke, und schlang sie eines nach dem anderen herunter, ohne sie zu zerbeißen. Hätten seine toten Freunde ihm nicht beigebracht, sich zu beherrschen, er hätte sich schon beim ersten Auge übergeben. Doch er tat es nicht – und er begann zu sehen, was die Toten gesehen hatten, und damit auch zu fühlen, was sie gefühlt hatten, und schließlich zu wissen, was sie gewusst hatten. Was für ein Glück – das waren mehr als nur einfache Schläger. Sie hatten etwas von den Plänen ihrer Herrin mitbekommen, und das ganz ohne ihre Absicht. Sie hatten wohl gehofft, sich damit einen Vorteil zu erkaufen. Nun erkauften sie ihm damit einen Vorteil.
Dass die Gnadenlose ihn tot sehen wollte, das war für ihn kein Geheimnis. Schließlich beruhte das auf Gegenseitigkeit. Dass sie auch allen anderen Überlebenden des von ihr ausgelösten Massakers an den Hauptstädten nur das Schlimmste wünschte, auch das war sonnenklar. Und natürlich hatte sie ein spezielles Plätzchen in ihrem giftigen Herzen für Andy reserviert, der die Schlüsselrolle in der Vereitelung ihres Planes gespielt hatte. Dass ihre ganzen Manöver jedoch nur davon ablenken sollten, ihr Werk zu vollenden, indem sie ausgerechnet Andy tötete, das war neu. Das hätte Steve nie gedacht – und es kränkte ihn ungemein. War er nicht der wahre Auserwählte gewesen? War Andy nicht einfach nur jemand gewesen, der aus Versehen in diesen Zug gestiegen war?
Für einen Moment dachte sich Steve, dass er sich da eigentlich gar nicht einmischen sollte. Die Gnadenlose bildete sich Andys großen Wert sicherlich nur ein. Sollte sie sich doch den armseligen Schnüffler schnappen. Und wenn Andy tot war, würden sich die anderen an ihn wenden, weil ihnen kein anderer Träumer bleiben würde. Der Gedanke war zu verlockend und zu schön, um sich ernsthaft darauf einzulassen. Wenn es ihr Plan war, dann konnte er ihn nicht unterstützen, selbst dann nicht, wenn er davon profitieren würde. Es wäre Verrat an seinen Freunden. Also würde er irgendwie dafür sorgen müssen, dass Andy überlebte.
Steve erhob sich und sah sich um. Um ihn herum befand sich eine Großstadt, eine von vielen in den Myriaden der Möglichkeiten, die Elaine geschaffen hatte. Die Gnadenlose hatte sich mit Absicht weit weg von den Hauptstädten und von Andys und Steves Heimatwelt niedergelassen – damit es ihren Gegnern nicht so leicht fiel, den Zugang zu ihrer Domäne zu finden. Sie hatte sich ein Labyrinth aus Netzwerken aufgebaut und sich hinter tausend Masken verschanzt. Steve glaubte, auf halbem Weg durch dieses Dornengestrüpp zu sein – jetzt umzukehren wäre eine Vergeudung von Zeit. Er musste jemand anderen schicken, der auf Andy achten würde. Jemanden, der ihm noch einen Gefallen schuldig war.
Ohne es zu merken, imitierte Steve Ironys nachdenkliche Geste, indem er seine Augen schloss und mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Nasenrücken zu massieren begann. Es gab nicht allzu viele Leute, die ihm derzeit Gefallen schuldig waren, weil er auf der Jagd nach der Gnadenlosen eine Menge davon aufgebraucht hatte. Und diejenigen, die ihm noch blieben, konnte er unmöglich für Andys Rettung vergeuden, dafür waren das zu wertvolle Verbündete. Ihm blieb genau eine Alternative – und auch wenn er sich nicht sicher war, ob diese Person in der Lage war, Andy zu helfen, so konnte er sich keinen anderen Zug erlauben. Also zückte er sein Handy, und zwang es in der Sprache der Tiefe, eine seiner neuen Freundinnen anzurufen.