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Die Liebeshexe Arina

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Im ersten Augenblick dachte Andy, er hatte es mit dem Spiegelbild von Siren zu tun. Dann fiel ihm ein, dass Sirens Spiegelbild tot war. Und dann begann er sich zu fragen, wen er da eigentlich vor sich hatte. Indessen wandte die aufregende Unbekannte ihren Blick zur Tür, sah Andy und da erblühte auf ihrem Gesicht ein strahlendes Lächeln. Andy blinzelte verwirrt. So hat noch nie eine Frau auf ihn reagiert, zumindest keine Frau wie diese. Das schimmernde Satin in Champagnerfarbe umschmeichelte ihre weiblichen Formen mit sanftem Faltenwurf, das perfekt mit ihrer golden gebräunten, hellen Haut harmonierte. Ein dunkelroter Edelstein in Tropfenform an einer filigranen Goldkette lenkte den Blick in den tiefen Ausschnitt. Er gab sich alle Mühe, sie nicht anzustarren. Sie winkte ihn zu sich an den Tisch. Er vergewisserte sich, dass sie tatsächlich ihn und keinen anderen meinte, der zufällig neben oder hinter ihm stand, und schlenderte auf sie zu, so lässig er nur konnte. Vermutlich sah das Ergebnis grauenvoll aus. Er kam sich plötzlich wie ein alberner Teenager vor.

Als er ihr näher kam, bemerkte er mit Erleichterung, dass das schummrige Licht ihn getäuscht haben musste. Er hatte es nicht mit Siren zu tun, auch wenn eine gewisse Ähnlichkeit durchaus vorhanden war. Bei Siren lag die Anziehungskraft jedoch vor allem in ihrer Stimme, während diese Frau eindeutig mit ihrer körperlichen Ausstrahlung bestach. Er musste sich alle Mühe geben, seine Gedanken darauf zu fokussieren, dass er noch wichtige Dinge zu erledigen hatte.

„Hi, ich bin Arina, eine... Freundin von Steve. Er hat mich um einen Gefallen gebeten, weil Sie sich ein paar mächtige Feinde gemacht haben, die Ihnen wohl nach dem Leben trachten, wie man es so schön sagt. Ich weiß zwar nicht, warum er unbedingt der Meinung war, dass ich Ihnen behilflich sein kann, aber nun ja. Wollen Sie einen Drink?“

Das war ganz sicher nicht Siren. Sirens Stimme hatte ein mittelhohes Timbre, war weich und samtig, konnte aber beim Singen in unglaubliche Höhen hinauffahren oder sehr tief sinken und das volle Spektrum an Ausdruck ausschöpfen. Arinas Stimme war dagegen die typische, eher hohe Frauenstimme, die jugendlich klang, von den meisten Männern zweifellos als sexy bezeichnet werden würde, aber mit Sicherheit nicht mit Sirens faszinierender Stimmenmacht mithalten konnte.

Andy nickte wortlos. Arina winkte die Bedienung herbei und bestellte. Dann sah sie wieder zu Andy: „Wie auch immer, ich habe mir gedacht, dass es gar keine so schlechte Idee wäre, Ihnen zu helfen, da sie ja vielleicht der nächste große Held und Retter werden und überhaupt. Und da ich mich mit einigen Leuten auf gar keinen Fall verkrachen will und andere Leute wiederum genauso wenig mag wie zum Beispiel unser gemeinsamer Freund Steve, habe ich einfach mal zugesagt. Ah, die Drinks. Was dagegen, wenn ich sie mit meiner Spezialmischung würze? Ich verspreche ihnen, daneben ist Sex auf Koks eine ziemlich lahme Sache.“

Andy zog eine Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf: „Danke, aber ich verzichte lieber“.

Arina zuckte mit den Schultern und holte aus ihrer Handtasche eine kleine Ampulle hervor, die ein leicht golden schimmerndes, rosiges Pulver enthielt. Einen Hauch davon ließ sie in ihr Glas rieseln, dann verschloss sie das Gefäß wieder sehr sorgfältig und ließ es da verschwinden, wo es hergekommen war. Andy staunte einfach nur darüber, dass sie mal nicht wie ein Wasserfall redete. Währenddessen stürzte sie ihren Drink in einem Zug herunter und seufzte wohlig.

„Wissen Sie, sie sehen gar nicht so übel aus, Steve hatte sie wesentlich schlimmer beschrieben. Na ja, eigentlich hatte er sie gar nicht so recht beschrieben, aber in seiner Wortwahl war er selten besonders wohlmeinend. Muss wohl das Testosteron sein“, sie kicherte. „Ach, und wenn wir schon dabei sind – ich bin erst kürzlich hier angekommen und suche noch eine Bleibe. Sie haben nicht zufällig etwas Platz?“

Andy trank ganz langsam seinen Drink leer, bevor er ihr eine Antwort gab. In dieser Zeit wartete sie ganz geduldig und still und wirkte nicht im geringsten genervt oder gereizt. Irgendwie hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache, aber andererseits hatte sie eine überzeugende Vorstellung geliefert.

„Ich nehme an, Sie... sind auch etwas... Besonderes?“ Auch wenn sie sehr charmant war, wollte er sich nicht sofort zum Trottel machen und ihrer Bitte nachkommen. Er wollte zumindest wissen, mit wem er es zu tun hatte.

„Ja, aber ich würde meine... Berufsbezeichnung vorerst noch nicht ausbreiten. Die ist nicht für die Ohren dieser Leute hier bestimmt. Sie würden es nicht verstehen. Ach, ich weiß“, sie beugte sich zu ihm vor um in sein Ohr zu flüstern. Gänsehaut raste über seinen Körper, als er ihren warmen Atem an seiner Haut spürte und ihr feminines, würziges Parfum in die Nase bekam. Das war wirklich unfair.

„Vulgäre Zungen würden mich eine Liebeshexe nennen. Für die meisten bin ich eher so was wie eine gute Fee der besonderen Art. Und meine geschätzten Feinde nennen mich einfach nur Schlampe, und aus ihrem Mund ist es eine Auszeichnung. Aber in erster Linie bin ich ein Springer.“ Arina lehnte sich wieder zurück und lächelte verspielt.

Andy seufzte: „Gut, bis auf den letzten Punkt habe ich alles verstanden, aber was bitte ist ein Sp...“

Sie legte ihm einen Zeigefinger mit goldschimmernd lackiertem Fingernagel auf die Lippen: „Nicht aussprechen, bitte. Das Wort zieht Ärger an wie das Licht die Motten, wenn man es laut sagt. Ich bin einer. Steve ist auch einer. Der Spinnenmann und seine Freundin inzwischen auch. Sie könnten auch einer werden, wenn sie lange genug überleben. Und glauben Sie mir, das könnte sich zu einem Kunststück entwickeln, wenn die Gnadenlose sie auf dem Kieker hat. Also, kann ich bei Ihnen übernachten oder nicht?“

Andy seufzte erneut und nickte: „Ich werde es vermutlich bereuen, aber ja, Sie können.“

Sie strahlte: „Wunderbar! Sie sind ein Schatz! Ach, und von mir aus können wir das Siezen bleiben lassen und gleich zum Du übergehen. Ich meine, wir haben ja so was wie gemeinsame Freunde und das alles.“

Andy zuckte mit den Schultern: „Von mir aus. Wie sind... bist du eigentlich hierher gekommen? Auch mit dem Zug?“

Sie schüttelte den Kopf: „Nein, der bedient nicht alle Stationen, um es mal so zu sagen. Ich kann mich recht gut durch die Grenzen mogeln. Weißt du, wenn man ein wenig Chaos im Blut hat... ähm... ich glaube, wenn ich deine Neugier noch weiter befriedigen sollte, sollten wir besser zu dir gehen. Es geht doch nichts über einen abgeschirmten, privaten Bereich.“

Andy war sich nicht sicher, warum seine Gedanken ausgerechnet da zum Hexen-Teil des Wortes Liebeshexe zurückkehrten, aber es war auch nicht wichtig. Viel interessanter war für ihn an diesem Punkt, ob sich ihre Hexerei irgendwie nutzen ließ, um die Schatten davon abzuhalten, ihrem Opfer etwas anzutun. Vielleicht war sie ja so mächtig und konnte gleich alle drei Männer verzaubern oder etwas in der Art. Dann müsste er sich nur noch etwas überlegen, um die Blondine außer Gefecht zu setzen. Womöglich ließen sich sogar ihre bezauberten Kollegen dafür nutzen.

Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken, weil Arina aufgestanden war und offensichtlich beschlossen hatte, allein für die Drinks aufzukommen, bevor er sich auch nur zu dem Thema äußern konnte. Fasziniert und missmutig zugleich beobachtete er, wie sie die Angelegenheit mit einem Kuss regelte. Der Blick des Barkeepers, nachdem sie ihre Lippen von seinen löste, erinnerte Andy an einen der zugedröhnten Drogensüchtigen, die er hin und wieder bei der Arbeit zu Gesicht bekam. Das war eine überzeugende Demonstration von Arinas Fähigkeiten und er nahm sich vor, dieser Frau besser nicht zu nahe zu kommen.

Als Andy mit Arina zusammen auf die Straße hinaustrat, schlug ihnen ein kalter Windzug entgegen und peitsche ihnen winzige Wassertropfen ins Gesicht. Er warf einen kurzen Blick in ihre Richtung und war sich nicht sicher, ob sie in ihrem doch eher luftigen Trägerkleid nun fror oder nicht. So oder so war er jedoch zu gut erzogen, also bot er ihr seinen Mantel an. Sie dankte ihm lächelnd und schlüpfte hinein.

„Ich rufe uns mal ein Taxi“, schlug er vor.

Sie lächelte: „Lassen Sie das besser mich machen. Ich würde so etwas ungern dem Zufall überlassen.“

Er hatte zwar keine Ahnung, was sie damit meinte, nickte aber. Sie streckte den Daumen der linken Hand aus und ließ einen durchdringenden, lauten Pfiff auf den Fingern der rechten Hand los. Andy zuckte zusammen; einen solchen Laut hätte er nicht von ihr zu hören erwartet. Er passte eher zu rücksichtslosen, harten Typen, die es gewohnt waren, immer und überall ihren Willen durchzusetzen. Aber ihm blieb nicht allzu viel Zeit, um zu staunen, denn wenige Augenblicke später bog ein Taxi um die Ecke und hielt neben ihnen an. Arina deutete Andy mit dem Blick, er möge auf dem Rücksitz Platz nehmen, während sie selbst den Beifahrersitz wählte. Als sie angekommen waren, wurde ihm auch klar, warum sie unbedingt vorne sitzen wollte. Sie entlohnte den Fahrer auf dieselbe Weise wie den Barkeeper.

Andy merkte, dass seine Hände ein leichtes, nervöses Zittern angenommen hatten, während er die Zugangstür zum Gebäude aufzuschließen versuchte. Zum Glück war es schon dunkel, so dass dieser Umstand ebenso gut dafür herhalten konnte, dass er den Schlüssel nicht sofort ins Schloss bekam. Nach drei Etagen mit dem Aufzug standen sie vor seiner Wohnung und waren wenig später drin. In der ganzen Zeit sagte sie kein Wort und er ebenso wenig. Er für seinen Teil wusste einfach nicht, was er sagen sollte, und außerdem sah sie so aus, als ob sie darauf wartete, anzukommen, bevor sie weitersprach. Sie war zwar eine Quasselstrippe, aber anscheinend wusste sie, wann es besser war, nichts zu sagen.

„Bitte schließe mit mindestens zwei Drehungen ab. Nur zur Sicherheit“, sagte sie leise, als er sie in seine Wohnung gelassen hatte, ihr nachgefolgt war und die Tür hinter sich leise ins Schloss zog. Er war sich nicht sicher, warum er sich so vorsichtig verhielt. Vielleicht war ihr Verhalten ansteckend. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, auf ihren Stilettos so leise wie nur irgendwie möglich zu sein. Tatsächlich waren ihre Schritte im Gebäude selbst kaum zu hören gewesen, während sie auf dem Bürgersteig das gewohnte Klacken von Absätzen hervorgebracht hatten.

„Mehr als zwei Drehungen werden auch gar nicht drin sein. Bitteschön“, entgegnete er, als er ihrer Bitte nachkam. Sie schlüpfte inzwischen aus seinem Mantel und hängte ihn vorsichtig an die Garderobe.

„Ich muss mich für das Chaos hier entschuldigen, ich habe nicht mit... Besuch gerechnet“, fügte Andy hinzu, als sie weiter in die Wohnung hineinging.

„Ach, das ist schon in Ordnung. Ohne Vorwarnung perfekt aufgeräumte Junggesellenwohnungen sind mir suspekt. Solche Männer sind nicht ganz dicht im Kopf und entweder fürchterlich langweilig oder extrem gefährlich. Na ja, oder sie sind ständig unterwegs, dann ist das natürlich absolut in Ordnung. Hm, ich finde, die Wohnung hat ihren Charme. Ich hatte schon wesentlich schlimmere Behausungen gesehen. Gegen die meisten ist das hier ein Palast.“

Sie spazierte wie beiläufig geradewegs in sein Wohnzimmer und ließ als erstes die Jalousien vollständig herunter, bevor sie das Licht einschaltete. Dann lächelte sie ihn an: „So, jetzt können wir reden, glaube ich.“ Sie setzte sich sehr dekorativ auf die Couch und sah ihn erwartungsvoll an.

Andy räusperte sich: „Gut... willst du vielleicht einen Kaffee?“

Sie überlegte kurz und schüttelte den Kopf: „Nicht unbedingt, außer du willst auch einen. Ansonsten brauchst du dir keine Mühe machen.“

„Gut, dann also nicht.“ So gern er auch Kaffee trank, inzwischen war es dafür etwas zu spät. Er setzte sich ihr gegenüber hin. „Also, jetzt noch einmal die Geschichte von vorhin, nur ausführlicher bitte.“

Sie nickte: „Die gnadenlose Ruth ist dir noch ein Begriff?“

„Du meinst die Kanzlerin?“

„Genau die. Ich bin ja der Meinung, sie hätte auch keine Gnade verdient, aber es war ja nicht mein Urteil. Ich persönlich hoffe ja darauf, dass Steve sie noch in die Finger bekommt, um ihr endgültig den Gar aus zu machen, aber vermutlich wird da erst einmal nichts daraus werden. Wenn diese Frau etwas kann, dann Macht anzusammeln und auf wundersame Weise jeglichen dabei entstandenen Ärger zu überleben. Jedenfalls, sie hat deine Rolle in dieser Geschichte, wo sie leider nicht Königin geworden ist, nicht vergessen und würde dich gern tot sehen, solange dies noch möglich ist und ihr nicht jemand oder etwas anderes zuvorkommt. Ich schätze, Steve wollte, dass ich dir ein wenig Rückendeckung gebe.“

Andy atmete tief durch: „Was genau ist sie eigentlich? Ich muss gestehen, ich blicke da nicht so ganz durch bei den vielen verschiedenen Bezeichnungen.“

Arina wirkte so, als müsste sie nachdenken. Nach einer Pause begann sie dann wieder zu sprechen: „Es ist auch ziemlich kompliziert. Ich weiß nicht einmal wo ich anfangen soll. Sie ist ein Springer wie Steve und ich, so viel kann ich sagen. Im Gegensatz zu Steve und mir ist sie jedoch dazu verflucht, einer zu sein, deswegen ist alles ein wenig anders. Ich glaube, wenn sie damals Königin geworden wäre, dann wäre sie absolut glücklich und zufrieden gewesen da zu sein wo sie war, und wäre auch in Frieden entschlummert wenn der Tod sie geholt hätte. Dummerweise wäre das eine Katastrophe für alle anderen gewesen, und insofern ist es besser, mit dem Übel der gnadenlosen Ruth zu leben als mit der gnadenlosen Königin Ruth. Wer weiß, was sie in ihrem Größenwahn da noch angestellt hätte. Die armen Avera und Jack hätten das sicher nicht überlebt, auch wenn sie extrem fähige Leute bei sich haben. Avera ist die Schwester von Jack, wenn du mich schon so fragend anschaust, also die Kronprinzessin der Hauptstadt. Man hat sich Namen einfallen lassen müssen, um sie von Dannel und Astasia, ihren königlichen Gegenstücken aus der Spiegel-Hauptstadt, zu unterscheiden. Ach, hättest du vielleicht doch ein Glas Wasser oder Saft für mich? Das ganze Reden trocknet irgendwie den Mund aus.“

Andy nickte und ging in die Küche. „Ist Orangensaft in Ordnung? Ist leider nur aus der Tüte.“

„Hm, ich bevorzuge zwar frisch gepressten, aber ich denke, um die Uhrzeit bekommt man auf normalen Wegen keine frischen Orangen mehr. Also ist das in Ordnung. Ich kenne zwar jemand, die wäre sicherlich in der Lage, welchen zu besorgen, aber wenn ich sie um so etwas bitten würde, dann wäre der Saft hinterher vermutlich vergiftet. Nicht, dass es mir ernsthaft schaden würde, aber es wäre trotzdem sehr unangenehm gewesen.“

Andy kehrte mit zwei gefüllten Gläsern zurück und reichte eines an Arina weiter: „Ähm, einer deiner Feinde?“

Arina nahm einen Schluck, nickte zufrieden, und kicherte dann – ein durchaus angenehmes Geräusch, was man nicht von jedem Kichern behaupten konnte, stellte Andy fest: „Ach, das ist zu viel gesagt. Rivalin trifft es wohl eher. Sie war so etwas wie meine Lehrmeisterin, allerdings eher unfreiwillig, und das nimmt sie mir sehr übel. Aber zurück zu Ruth.“

Andy nickte und Arina sprach weiter: „Ich weiß, das wird dir jetzt merkwürdig vorkommen, aber in dem von Elaine und ihren Vorgängern erschaffenen... Gebilde verläuft die Zeit alles andere als linear. Also in den einzelnen Strängen ist sie das mehr oder weniger, aber die Stränge selbst sind mehr ein Knäuel als ein gespanntes Seil, wenn du verstehst was ich meine. Außerdem nehmen sie so weniger Platz weg, aber das ist nicht so wichtig. Einige Stränge sind dichter verwoben, wie die Hauptstadt und dieser hier, andere eher lose, und wiederum andere haben zueinander so gut wie gar keine Berührungspunkte. Deswegen bedient der Tornado nicht alle Stationen und deswegen sind Springer so... interessant für mancherlei Leute.“

„Hm... okay, und wovor muss ich mich jetzt eigentlich in Acht nehmen?“

Auf Arinas Gesicht erschien ein böses Grinsen: „Was macht eine von Macht besessene Person, wenn es zur Königin nicht reicht? Richtig, sie versucht sich zu einer Göttin aufzuschwingen. Ich meine, wir wissen alle, dass es Götter nicht gibt – es gibt nicht einmal den einen, denn absolute Macht und freier Wille ist ein rieeesiges Paradoxon, auch wenn das irgendwie keinem bei euch aufzufallen scheint – und mehr als einen schon mal gar nicht. Aber Menschen sind in der Regel leichtgläubig, und darum gibt es sie in gewisser Weise doch. Das ist alles etwas kompliziert. In der Hauptstadt hatten im Übrigen das Königspaar und zwischenzeitlich die Mutter, sowie der eine oder andere Träumer, verdächtig nahe am göttlichen Status gekratzt, aber eben nur das. Wie auch immer. Ruth hat über die Zeit eine sehr große Anzahl an Anhängern angesammelt. Das kann sie recht gut. Ich kenne deine Welt jedoch nicht gut genug, um dir zu sagen, in welcher okkulten Gesellschaft ihre Leute hier zu finden sind. Meistens wird sie als so was wie eine Dunkle Mutter oder Blutrote Königin oder etwas in der Art verehrt. Nicht sehr einfallsreich, wenn du mich fragst, aber die Leute fahren total auf diese Symbolik ab. Keine Ahnung, ob sie dir persönlich den Kopf abreißen wollen wird. Vermutlich wirst du es erst mal mit ihren Lakaien zu tun bekommen. Sie macht sich ungern die Hände schmutzig, aber das weißt du sicherlich selbst.“

Andy nickte: „Hm, das klingt ja... witzig. Aber ich hab momentan eigentlich ganz andere Sorgen, die eigentlich auch um einiges wichtiger sind – nichts für ungut.“

Arina zog eine Augenbraue hoch: „Ich würde die Warnung von meinem eigenen von anderen Leuten geplanten Ableben nicht so leichtfertig abtun, aber bitte. Was gibt es denn?“

Andy seufzte: „Du scheinst bestens über Elaines und meine Geschichte informiert zu sein. Dann kennst du sicherlich auch die Schatten aus Alices Gesellschaft. Sie sind nicht tot, obwohl wir das angenommen haben. Sie haben ein Mädchen entführt. Angeblich geht es ihr gut, aber ich befürchte, dass man sie früher oder später zugrunde richten wird, wenn die Schatten sie weiterhin in ihren Händen behalten. Ich habe die vier heute in den Spiegeln gesehen, und ich denke nicht, dass es ein Hirngespinst war.“

Arina nickte mit einem ernsten Gesichtsausdruck: „Ja, ich habe von ihnen gehört. Es wundert mich nicht, dass sie noch da sind. Unkraut vergeht nicht, wie man so schön sagt. Ich weiß es schließlich am besten, als schönstes Unkraut der Welt“, sie zwinkerte ihm zu. „Du willst also ernsthaft erst dieses Mädchen rausholen bevor du dich um dich selbst kümmerst?“

Andy nickte: „Ja, das war mein Plan. Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich und ich... na ja, ganz ehrlich, ich bin fast schon ein alter Mann.“

Arina schmunzelte: „Ach, ich kenne ein gutes Mittel, um dich vom Gegenteil zu überzeugen. Aber rein objektiv hast du natürlich teilweise recht – zumindest wenn man den Jugendwahn eurer Zeit bedenkt. Woanders würde man sagen, du hast gerade die besten Jahre erreicht und es wäre an der Zeit, sich eine rassige Geliebte zuzulegen und mit ihr zusammen die Welt zu bereisen, mit pikanten Einzelheiten gespickte Reiseberichte zu schreiben, um sie dann mit möglichst viel Gewinn zu verhökern und rauschende Partys schmeißen zu können. Egal, ich habe Steve versprochen, ein Auge auf dich zu haben, also werde ich das auch tun, während du dieses Mädchen suchst. Hast du schon mal dran gedacht, Hilfe von den Agenten da drüben anzufordern?“

„Danke. Nein, ich hätte nicht gedacht, dass es geht.“

Sie lächelte: „Es ist auch nicht gerade üblich, ist aber auch nicht so wichtig. Was sind schon ein paar Abziehbilder? Hätten wir es mit Elaines Freunden zu tun gehabt, dann würde ich mir Sorgen machen. Da hätte ich schon Glück, wenn ich Boo um den Finger wickeln könnte. Nichts ist gruseliger als Leute, die ihre Wahre Liebe gefunden haben oder für ihre Freunde sterben würden. An denen beißt man sich nur die Zähne aus. Und Corry würde mir meine Zähne vermutlich mit einem Hieb ausschlagen, wenn ich ihr auch nur zu nahe komme. Nein danke. Die Schatten auszustechen wird dagegen... ein leichteres Unterfangen sein.“

Es war kein angenehmes Gefühl, ständig irgendwelche Insider-Kommentare um die Ohren gehauen zu bekommen, aber da musste Andy wohl oder übel durch, auch wenn er inzwischen nicht mehr so ahnungslos war wie einen Monat zuvor. Aber das war jetzt nicht wichtig. Er musste den Abend dringend nutzen, um alle Informationen zu verarbeiten und zu notieren, bevor der Schlaf irgend etwas an seinen Erinnerungen verändern konnte.

„Gut, ich denke, ich werde mich jetzt mal daran machen, zu überlegen, wo ich die Schatten finden kann. Viele Spuren habe ich ja nicht. Du kannst das Bett im Schlafzimmer nehmen, ich schlafe dann auf der Couch.“

Sie zog fragend die Augenbrauen hoch: „Mich würde es überhaupt nicht stören, wenn wir im selben Bett schlafen. Selbst wenn da gar nichts passiert. Ich schlafe ungern allein – aber wenn es dir so lieber ist, dann machen wir es so.“

Andy versuchte, möglichst freundlich zu lächeln, obwohl er ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte angesichts der Demonstration ihrer Fähigkeiten: „Ich will nicht unhöflich sein und dich auch gar nicht beleidigen. Jeder Mann kann sich sicherlich geehrt fühlen in deiner Gesellschaft – aber ich brauche jetzt vor allem Konzentration, und da wäre es vermutlich besser, wenn ich mich von nichts und niemandem ablenken lasse, sonst verliere ich am Ende die Fährte. Verstehst du, was ich meine?“

Sie nickte und wirkte auf einmal nicht mehr so lasziv wie zuvor, sondern ernst und beinahe ehrfürchtig: „Weißt du, zu meinen besten Freunden gehören einige Adepten von Leben und Tod. Die sind ähnlich wie du drauf. Ich kann es gut verstehen. Dann wünsche ich dir eine gute Nacht und viele gute Ideen.“ Sie lächelte ihm zu und verschwand im finsteren Schlafzimmer. Die Tür ließ sie angelehnt und durch den Spalt konnte er ihre vom Licht beschienene Seite sehen. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung glitt ihr Kleid zu Boden und entblößte ihren makellosen, golden gebräunten Körper. Dann schloss sie die Tür. Andy hörte das leise Geräusch der Federn, als sie sich ins Bett legte. Danach wurde es still. Er atmete tief durch.

Nicht jetzt, nicht an diesem Abend. Andy ging in die Küche und ließ nun doch die Kaffeemaschine arbeiten. Er würde einen besonders starken Kaffee brauchen, um möglichst lange wach zu bleiben. Dann nahm er seine Tasse, sowie die volle Kanne, und setzte sich in sein Büro. Irgendwo vor seinem Fenster schepperte es und ein Katzenschrei war zu hören. Andy erstarrte, bemerkte dann aber, dass es nicht der von Kryss geschickte Traum war, sondern nur ein eigenartiger Zufall. Er schüttelte verärgert über sich selbst den Kopf und setzte sich an seinen Tisch.

Wie gewohnt zog er seinen Notizblock heraus, um alles aufzuschreiben, das ihm aufgefallen war. Er stutzte ein wenig, als er bemerkte, dass die Einträge aus der Hauptstadt immer noch da waren. Normalerweise heftete er seine Notizen immer in die jeweilige Akte ab, aber diesmal schien er es vergessen zu haben. Das war ihm noch nie passiert. Er blätterte weiter auf der Suche nach einer freien Seite, um den neuen Fall zu beginnen. Irritiert blieb er beim letzten Eintrag hängen. Dieser war in einer anderen Schrift verfasst als seiner oder Alices. Es war eine saubere, beinahe mechanisch wirkende Schreibweise, tadellos und markant.

Wir verdanken Alice unser Leben, und wir schulden ihr alle Mühen, sie zurück zu holen. Ihr Opfer hat ihr die Unsterblichkeit erkauft, doch wo und wann, das ist die große Frage. Wir suchen sie, wo auch immer sie ist. Wenn Sie uns nicht helfen wollen, dann suchen Sie uns auch zu unser aller Besten nicht. Dem Mädchen wird nichts passieren. Wenn sie nicht die Richtige ist, dann wird sie alles vergessen und wohlbehalten nach Hause zurückkehren.

Andy las den Absatz immer und immer wieder. Es mussten die Worte sein, die der Schönling in sein Notizbuch geschrieben hatte, als Andy einen kurzen Blick auf die vier Schatten erhaschen konnte.

Plötzlich klingelte das Telefon. In der Stille der Nacht erschien Andy das Geräusch derart übertrieben laut, dass er zusammenzuckte und lauschte, ob Arina von diesem Lärm wach geworden war. Dies schien jedoch nicht der Fall zu sein und das zweite Klingeln stabilisierte sich auf einem wesentlich leiseren Niveau als zuvor. Diesmal war Andy sogar der Meinung, dass es die leiseste Abstufung war, die das Telefon hergab.

„Hallo?“, sagte er schließlich, nachdem er beim dritten Klingeln abgehoben hatte.

Hallo Andy“, hörte er wieder die Stimme, die ihm wie ein Reibeisen durch den Verstand fuhr und einer aufgeschnittenen Zwiebel gleich Tränen in die Augen trieb, „schön dass Sie in Ihrem Büro und nicht im Schlafzimmer sind. Schnappen Sie sich Ihre Sachen und raus aus dem Haus. Sonst sind Sie gleich tot. Warum hören Sie mir noch zu?“ Kryss klang nicht so, als ob er Scherze machen würde.

Langsam legte Andy den Hörer beiseite und griff mechanisch nach den auf dem Tisch liegenden Unterlagen, vor allem nach seinem Notizblock, um sie hastig in seine Aktentasche zu verfrachten. „Wir müssen gehen, Arina!“, rief er dann. Er war überrascht, sie angezogen und abmarschbereit in der Tür stehen zu sehen.

Sie nickte nur: „Anrufe mitten in der Nacht sind selten gute Botschaften.“ Sie linste zum Fenster, fluchte leise in einer Sprache, die Andy nicht verstand, und fügte dann hinzu: „So ein Mist.“

Andys Blick folge ihrem und er sah, wie einige Polizeifahrzeuge in der Straße parkten. „Was zum...“

Auf Arinas Gesicht erschien ein schiefes Grinsen: „Manche Dinge scheinen sich nie zu ändern. Hat das Haus im Keller einen Zugang zur Kanalisation?“

Andy schüttelte den Kopf: „Nicht dass ich wüsste. Wieso?“

„Unsichere Wege sind keine Wege... aus der Haustür kommen wir so einfach nicht mehr raus. Sobald die uns sehen, nehmen sie uns fest.“

„Warum sollte die Polizei hinter mir her sein, Arina?“

Sie zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung, vielleicht sind sie auch hinter mir her. Manche Leute haben ihre dreckigen Finger überall. Sie denken doch wirklich, dass Leute wie ich und Leute wie Ruth alle ein und dasselbe sind... Nun ja. Hintereingang?“

Andy nickte: „Ja, aber der führt nirgendwohin.“

Arina schmunzelte: „Das sehen wir dann.“

Diesmal lief sie barfuß mit ihm die Treppe hinunter, die Schuhe an den Riemchen in einer Hand tragend, die Handtasche über der Schulter. Auf halbem Weg merkte Andy, dass er vergessen hatte, die Tür richtig abzuschließen, aber vermutlich war das ohnehin egal. Schade um die halbvolle Kaffeekanne.

Arina schloss leise die Tür des Hintereingangs hinter ihnen im selben Augenblick als der Vordereingang des Gebäudes geöffnet wurde. Sie hörten Schritte, die zum Aufzug gingen und andere, die gleich die Treppe nahmen.

„Sie werden gleich merken, dass niemand in der Wohnung ist“, flüsterte Andy.

„Ja... okay, Du willst dieses Mädchen suchen und außerdem wollen wir hier weg. Ich denke, wir sollten das am besten miteinander verknüpfen. Wie war das, du hast die Doppelgänger in den Spiegeln bei ihr zu Hause gesehen?“

Andy nickte.

„Dann sollten wir schnellstmöglich dahin.“

Arina huschte wieder ins Gebäude hinein und zum Vordereingang. Andy folgte ihr hastig.

„Stehen bleiben und Hände hoch, damit ich sie sehen kann!“, hörten sie dann, gefolgt vom Klicken eines Abzugs.

Andy sah Arina wie in Zeitlupe die Hände heben, die Schuhe und Handtasche auf den Boden fallen ließen, und in dieser Bewegung die Träger ihres Kleides lösen. Der Stoff glitt zu Boden. Die Augen des Polizisten weiteten sich, als er eine wunderschöne, völlig nackte Frau vor sich sah.

Alivarton yan“, hauchte sie mit einem eigenartigen, äußerst angenehmen, samtigen Unterton in ihrer Stimme und fing den Blick des Mannes mit ihren Augen, deren Pupillen sich immer mehr weiteten. Der Polizist ließ seine Waffe fallen und griff gierig nach ihr. Sie küsste ihn innig. Dann glitt er bewusstlos zu Boden.

Arina rollte mit den Augen, hob ihr Kleid auf und zog es sich beinah so schnell wieder über wie es zu Boden gefallen war. „Hör auf mich anzustarren und lauf!“, zischte sie.

Andy wollte nicht mit ihr diskutieren oder ihr widersprechen. Sie griff schnell nach ihren Schuhen und der Handtasche und sprintete los. Er rannte ihr nach, seine Aktentasche fest unter den rechten Arm geklemmt. Sie schlug wilde Haken durch die Gassen des Viertels wie ein Hase auf der Flucht. Er wunderte sich, warum sie gar nicht außer Atem zu kommen schien, während er selbst schwer keuchen musste.

„Du bist... kein Läufer, was?“, hörte er sie leise.

„Läufer... Springer... Schachfiguren?“, keuchte er.

„Ja und nein... Anhalten!“, zischte sie erneut.

Der Trägheit folgend rannte Andy noch einige Schritte weiter, bis er zum Stehen kam. Arina war an einer Bushaltestelle stehen geblieben und zog sich ihre Schuhe an. Danach fischte sie einen Taschenspiegel aus ihrer Handtasche und korrigierte den Sitz ihrer Frisur. Andy ging zu ihr und warf einen Blick auf den Fahrplan. Es gab genau eine Nachtlinie, die an dieser Haltestelle vorbeikam. Der nächste Bus war in 2 Minuten fällig. Und wie der Zufall es so wollte, würde er durch das Viertel fahren, in dem die Wohnung des verschwundenen Mädchens lag. Andy warf Arina einen misstrauischen Blick zu.

Sie zuckte mit den Schultern: „Manchmal muss man einfach Glück haben, findest du nicht?“

„Ist es denn eine gute Idee, den Bus zu nehmen?“, fragte er immer noch schwer atmend.

Sie lächelte: „Keine Sorge, wir tauchen in der Menge unter. Solange da nicht ausgerechnet einer von Ruths Leuten mitfährt, versteht sich. Aber wie groß stehen die Chancen dafür?“

Andy murmelte: „Und wie groß sind die Chancen dafür, dass wir ausgerechnet hier und jetzt einen passenden Bus erwischen?“

Während der besagte Bus anhielt und die Türen öffnete, schmunzelte sie: „So viele Busse gibt’s hier nun auch wieder nicht. Und es macht doch Sinn, dass in einem Viertel, wo viele Studenten wohnen, eine Nachtlinie durchfährt. Junge Leute feiern gern.“

Andy beschloss für sich, dass es besser war, ihr nicht zu widersprechen. Stattdessen nickte er einfach nur, während er ihr in den Bus folgte. Sie nahm den Fensterplatz von zwei nebeneinander liegenden freien Sitzen ein und wirkte ganz und gar fasziniert von den nächtlichen Straßen der Stadt. Bei einem Blick in ihre Richtung bemerkte Andy jedoch, dass sie eigentlich aufmerksam die anderen, allesamt leicht beleuchteten Mitfahrer über die Spiegelung im dunklen Fenster musterte.

Die Fahrt würde noch einige Minuten in Anspruch nehmen, also holte Andy sein Notizblock aus der Tasche hervor, schlug den letzten Eintrag auf und reichte ihn Arina. „Was hältst du davon?“, fragte er sie leise.

Sie überflog die Zeilen und antwortete mit ebenso gedämpfter Stimme: „Der Schreiberling ist männlich, eher oberflächlich von seiner Orientierung her, vermutlich sehr gutaussehend und eitel, und könnte ein Kontrollfanatiker sein. Nicht sehr romantisch, aber vermutlich gut im Bett, um seinem Ego zu schmeicheln. Ach, du meinst den Inhalt... ähm... nicht so wichtig, das übliche Bla Bla. Vermutlich machen sie eine Gehirnwäsche mit der Kleinen, aber ich würde nicht ausschließen, dass sie auf diese Weise... mehr als nur in ihrer Psyche verändert wird.“

Andy räusperte sich: „Das hätte ich gern genauer, wenn es geht. Du kennst diese Methoden vermutlich besser als ich.“

Sie zog eine Augenbraue hoch: „Was willst du mir damit sagen?“

Er zuckte mit den Schultern: „Ich meinte, du kennst dich mit... Dingen aus, von denen ich keine Ahnung habe.“

Sie rollte mit den Augen: „Ich denke, sie werden etwas ähnliches mit ihr machen, wie Steves Freunde mit ihm angestellt haben, um sein Potential als Träumer zu wecken. So was ähnliches, was Elaine auch widerfahren ist, nur etwas anders inszeniert. Sie wollen schließlich Alice aus ihr machen. Und wenn es nur halb so schlimm laufen wird wie die Initiationsriten von Teenagern in Papua-Neuguinea, dann hat sie echtes Glück. Stell dir mal bitte Teenager mit übernatürlichen Fähigkeiten vor – ein Alptraum. Ich weiß das, ich war selbst mal einer.“ Sie kicherte wieder.

Andy rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und packte seinen Block wieder ein: „Das gefällt mir ganz und gar nicht.

Arina zuckte mit den Schultern: „Ich denke, das werden wir bald sehen... dreh dich jetzt bitte nicht um... siehst du die Spiegelung da im Fenster?“

Andy folgte ihrem Blick, konnte aber nur einen unauffälligen Mann in einem Anzug von der Stange erkennen, mit einem Aktenkoffer auf dem Schoß, auf dem wiederum ein Hut lag. Sowohl Hut als auch Anzug waren grau, ebenso die Krawatte, während Schuhe und Aktenkoffer dunkler waren, vermutlich irgend ein Braunton.

„Sieht aus wie ein Beamter, wenn du mich fragst“, flüsterte er ihr zu.

„Du hättest mir an der Bushaltestelle nicht widersprechen sollen. Das ist einer dieser... Leute. Siehst du nicht den Blick seiner Augen?“, antwortete sie ihm noch leiser.

Andy zuckte mit den Schultern: „Sieht mir nach niemand besonderem aus, wenn du mich fragst. Ist nur seltsam, so jemand um diese Uhrzeit im Bus voller Partymäuse und Betrunkener zu sehen.“

Arina erschauerte kurz: „Unwissenheit ist nicht immer ein Segen, Andy. Der Mann ist voller Gift, um es mal bildlich auszudrücken. Ich hoffe, er kommt nicht auf die Idee, uns seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mit etwas Glück ist er wegen jemand anderem in die Nacht hinausgegangen. Vielleicht will er den Liebhaber seiner Frau ermorden oder etwas in der Art. Ich würde nicht wollen, dass er mich in die Finger bekommt.“

Andy war nun doch etwas überrascht von den offensichtlich sogar gedämpften Emotionen in ihrem Flüstern und lenkte seinen Blick erneut in Richtung dieses oberflächlich so unauffälligen Mannes. Für einen Moment trafen seine Augen dessen Spiegelung und er hielt den Atem an. Hinter der langweiligen Fassade lauerte ein Sadist. Er wusste nicht einmal, warum ihm der Gedanke in diesem Augenblick kam, aber aus irgend einem Grund zweifelte er nicht im Geringsten daran.

Arina flüsterte wieder: „Es gibt Muster, die sich wiederholen, immer wieder, in verschiedenen Geschichten. Manche sind derart präsent, dass sie mehrmals zur gleichen Zeit existieren können. Ich glaube, der da könnte einen Abglanz des Schergen in sich tragen... er sieht zu uns...“ Sie hatte in der Tat recht. Der Blick des Mannes blieb verdächtig lange in ihrer Richtung hängen.

Bevor Andy irgend etwas tun konnte, griff Arina nach ihm und zog ihn an sich, um ihn zu küssen. Völlig überrascht spürte er ihre weichen, warmen Lippen auf seinen, das Züngeln ihrer Zungenspitze, und dann wirbelten seine Gedanken davon wie Blütenblätter im Frühling, um einer angenehmen, aus Wohlgefühl bestehenden Leere im Kopf Platz zu machen.

„Nicht aufhören, noch nicht“, dachte er sich, als dieser Zustand abrupt endete. Dennoch trat an seine Stelle sein wieder zurückgekehrtes Bewusstsein und die Wahrnehmung einer warmen Umarmung. Sie hatte sich an ihn gekuschelt.

„Nimm mir das bitte nicht übel... aber es gibt hier kein einziges Pärchen, das nicht zumindest ab und zu herumknutscht... wir fallen sonst auf.“

Er räusperte sich und fragte sie flüsternd: „Hast du eigentlich jemals jemanden ohne einen Hintergedanken an den daraus entstehenden Nutzen geküsst?“

Sie seufzte leise: „Es ist sehr lange her...“

Mehr wollte sie anscheinend nicht zu dem Thema sagen. Aber zumindest schien ihr Ablenkungsmanöver seine Wirkung nicht verfehlt zu haben. Für den eigenartigen Mann im Bus wurden sie genauso uninteressant wie alle anderen Mitfahrer. Als sie an der für sie richtigen Haltestelle ausstiegen, fuhr er weiter.

Arina schien angespannt abzuwarten, bis schließlich selbst das schwächste Echo des Motorgeräusches verklungen war. Als es endlich still war, atmete sie tief durch und wirkte erleichtert. Andy stellte überrascht fest, dass er sich ihrem Verhalten angepasst hatte und nun ebenfalls freier zu atmen begann.

Sie warf ihm einen merkwürdigen, prüfenden Blick zu und lächelte dann: „Ich bin das Mädchen, vor dem deine Mutter dich immer gewarnt hat, und die Frau, die von alle anderen Frauen gehasst wird“, sagte sie schließlich leise. „Die Tragweite mancher Entscheidungen erkennt man erst, wenn es viel zu spät ist, um sie rückgängig zu machen... oder die Kosten so schrecklich hoch werden, dass man es sich nicht mehr traut.“ Dann verschwand der leichte Anflug des Ernstes von ihrem Gesicht und machte wieder dem amüsierten Schmunzeln Platz, das sich sonst auf ihrer Miene herumtrieb: „Na ja, nicht alle Frauen. Ich habe tatsächlich auch Freundinnen, wenn auch nicht allzu viele. So, wo genau müssen wir hin?“

Andy sah sich um, gewann schnell seine Orientierung wieder und ging los. Arina stöckelte neben ihm her, aber nun war das Klacken ihrer Absätze deutlich leiser als zu Beginn des Abends. Ihr Weg von der Haltestelle zu Tinas Haus führte sie an etlichen anderen Gebäuden vorbei, die in der Finsternis der Nacht alle gleich aussahen. Ihre dunklen Fenster weckten unangenehme Assoziationen an leere Augenhöhlen. Wären nicht die vereinzelten wenigen Lichtpunkte in den Fenstern derjenigen gewesen, die aus dem einen oder anderen Grund noch wach waren, dann hätte man die Gegend für ausgestorben halten können. Das unterschiedliche Muster der glimmenden Rechtecke war auch der einzige Hinweis darauf, dass sie sich nicht längst im Kreis bewegten. Zum Glück war er jedoch nicht mehr in dieser einen, besonderen, verrückten Hauptstadt, wo so etwas vermutlich an der Tagesordnung war, stellte Andy erleichtert fest.

Er wollte am liebsten nicht daran zurückdenken, konnte aber dennoch nichts dagegen tun, dass seine Gedanken für kurze Zeit zu seiner Ankunft in der Hauptstadt der anderen Welt zurückkehrten, in die ihn seine verbissene, manische Suche nach der vermissten Elaine geführt hatte. Es war eine Stadt, die oberflächlich betrachtet genauso war wie alle anderen Großstädte, die etwas von jeder einzelnen Hauptstadt hatte, die er kannte oder sich vorstellen konnte, aber in ihrem wahren Kern die Ausgeburt eines Alptraums war, in dem nichts sicher sein konnte, in dem jederzeit die Regeln von Raum und Zeit, von Logik und Vernunft außer Kraft gesetzt sein konnten. Und selbst wenn diese Abweichungen von der Norm nur subtil in Erscheinung traten, so konnten sie früher oder später genügen, um einen Mann wahnsinnig zu machen. Es war kein Ort, an dem er für den Rest seines Daseins leben wollte – und doch, inzwischen wäre er vielleicht sogar in der Lage dazu. Sein Aufenthalt dort hat einige Dinge in ihm unwiederbringlich verändert. Allein die Tatsache, dass er jetzt mitten in der Nacht mit einer Hexe auf den Straßen unterwegs war, um eine weitere Vermisste aus den Klauen einiger durchgeknallter, amoralischer Bewohner dieser anderen Welt zu retten, war der Beweis dafür. Jeder Mensch mit nur einem Quäntchen an Vernunft in seinem Schädel würde einen weiten Bogen um solche Angelegenheiten machen. Er muss verrückt geworden sein. Und tief in seinem Inneren genoss ein Teil von ihm diesen Gedanken, was ihn so erschreckte, dass sein Bewusstsein sich lieber erneut in seine physische Gegenwart floh.

Wie schon zuvor war die Eingangstür des Gebäudes nicht abgesperrt. Noch immer hatte sich niemand um das defekte Schloss gekümmert. Andy schüttelte den Kopf über so viel Gleichgültigkeit und ging hinein. Arina folgte ihm so leise sie konnte. Die Dunkelheit einer ihnen nicht vertrauten Gegend baute langsam wieder eine unangenehme Spannung auf, die sich nach und nach in schnellerer, flacherer Atmung, einem schnelleren Herzschlag und vor Dunkelheit ohnehin noch stärker geweiteten Pupillen bemerkbar machte.

Im Treppenhaus war es bis auf das von der Straße hereinbrechende, schwache Licht der Straßenbeleuchtung stockfinster. Dennoch hielt Arina Andy davon ab, den Lichtschalter zu betätigen: „Es lenkt nur unnötige Aufmerksamkeit hierher“, flüsterte sie ihm zu.

Er zuckte mit den Schultern und tastete sich blind in Richtung des Aufzugs. Kaum hatte er ihn per Knopfdruck angefordert, schwangen schon die Türen auf und er blendete sie mit dem aus der Kabine ausströmendem hellen Licht. Andy zuckte leicht zusammen, da er den Aufzug nicht ausgerechnet im Erdgeschoss erwartet hätte. Es war als ob er nur auf sie gewartet und gelauert hätte. Aber dann ermahnte Andy sich, dass es nur ein einfacher Zufall sein musste, und trat ein. Arina folgte ihm nach. Sie kamen ohne auch nur einen einzigen merkwürdigen Zwischenfall im richtigen Stockwerk an. In der normalen Welt trachteten Aufzüge einem nicht nach dem Leben, im Gegensatz zur Hauptstadt, und das war gut so.

Die Beklommenheit wich in Andys Fall bald der Verärgerung, als er vor der abgeschlossenen Wohnungstür stand und natürlich nicht bedacht hatte, wie er hineinkommen wollte. Er fluchte leise. Arina schmunzelte und zog nach einer kurzen Suche etwas aus ihrer Tasche hervor.

„Ich bin noch nie ein braves Mädchen gewesen“, kommentierte sie, und machte sich daran, mit Haarnadeln im Schloss herumzustochern. „Für die einfachen Haustüren reicht das allemal“, fügte sie hinzu. Ohne Licht dauerte es eine Weile, bis Arina endlich fertig war. Aber zu Andys Überraschung schaffte sie es tatsächlich, die Tür zu öffnen. Er ignorierte bewusst die polizeilichen Siegel an der Tür und hoffte, dass dieser Einbruch schon bald keine Rolle mehr spielen würde, wenn Tina wieder sicher dort war, wo sie hingehörte.

Diesmal musste Arina ihn nicht ermahnen, das Licht ausgeschaltet zu lassen. Das plötzlich stark aufkeimende Verlangen nach mehr Licht, kämpfte er ganz automatisch nieder. Es war eine Sache, Licht im Treppenhaus eines Gebäudes mit mehreren Stockwerken zu sehen, aber eine ganz andere, wenn in einer abgesperrten Wohnung plötzlich mitten in der Nacht das Licht anging.

Arina flüsterte ihm zu: „Ich bleibe lieber hier an der Tür, nur für alle Fälle. Wenn es Ärger geben sollte, dann kann ich dir ja immer noch irgendwie zu Hilfe kommen, aber es ist besser, wenn sie erst mal nicht wissen, dass du nicht alleine bist.“ Andy nickte und bewegte sich weiter in die Wohnung hinein.

Die Tür zu seiner linken interessierte ihn wenig. Das kleine Badezimmer dahinter beinhaltete zwar auch einen Spiegel, der wie gewohnt über dem Waschbecken angebracht war, aber wenn er schon die großen Spiegeltüren des Kleiderschranks zur Verfügung hatte, dann sollte er sich an die halten. Also tastete er sich durch die Finsternis nach vorne, in den einzigen großen Raum des Appartements, der Schlafraum, Wohnzimmer und Küche zugleich war.

Das durch das Fenster einfallende Licht genügte gerade so, damit sich die Konturen der Möbel von den weißen Wänden des Zimmers abheben konnten, und um einzelne weiße Gegenstände wie die losen Papierblätter auf dem Schreibtisch am Fenster erkennen zu können. Obwohl Andy so wenige Details wahrnehmen konnte, beschlich ihn sofort das ungute Gefühl darüber, dass etwas an diesem Anblick ganz und gar nicht stimmte. Und wie bei einem Suchbild machte er sich nun daran, das Zimmer mit seinem Spiegelbild abzugleichen, denn genau dort vermutete er die Ungereimtheit.

Plötzlich blieb sein Blick an einem Ausschnitt des Spiegels hängen: Da lag etwas Weißes, vermutlich ein Kleidungsstück, zusammengeknüllt unter dem Schreibtisch. Als Andy seinen Blick vorsichtig zur Seite schwenkte und am entsprechenden Ort im Zimmer nachsah, erstarrte er. Dort war nur Dunkelheit, von irgendwelchen Gegenständen keine Spur. Ganz langsam drehte er seinen Kopf nun wieder nach links zum Spiegel und keuchte vor Schreck und Überraschung. Anstelle seines Spiegelbilds stand an der Stelle das verschwundene Mädchen und starrte ihn mit einer Mischung aus ätzendem Misstrauen und unverhohlenem Hass an.

Die Hexe und der Schnüffler

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