Читать книгу Die Hexe und der Schnüffler - Inga Kozuruba - Страница 7
Eine mögliche Rettung
ОглавлениеAndy blieb wie angewurzelt stehen und starrte zurück. Das Schlimmste an der Erscheinung im Spiegel war noch nicht einmal, dass sie nur dort existierte. Es war vielmehr so, dass Andy nicht nur Tina sah. Es war nicht nur dieses hübsche, modisch gekleidete, und eigentlich absolut normal aussehende Mädchen im Spiegel zu sehen. Er hatte das Gefühl, dass er eine doppelt belichtete Fotografie vor sich hatte, mit einem schwachen Schatten, der Tinas Erscheinung wie einen Geist überlagerte. Das war unverkennbar Alice mit ihren kunstvoll hochgesteckten Haaren, ihrem blutroten, dunklen, viktorianischen Kleid und den großen, finster umschatteten Augen, die voller Schmerz und Trauer ins Leere blickten und im Grunde für alles um sie herum blind zu sein schienen. Sie waren mehr tot als lebendig. In Tinas Augen loderte stattdessen der Zorn. Sie fixierte ihn aufmerksam mit ihrem Blick und Andy hatte das unangenehme Gefühl, als würden sich unzählige, winzige Häkchen in seine nackte Haut bohren, dort wo ihr Blick gerade verweilte. Nun, wo er sie ansah, umrahmte dieses schmerzlich pieksende Gebilde sein Gesicht.
Er überwand seinen anfänglichen Schrecken und insbesondere das Bedürfnis, sich Arinas Anwesenheit erneut zu versichern. Ein einziger Blick in ihre Richtung, egal wie kurz, hätte sie verraten. Stattdessen blieb seine Aufmerksamkeit gänzlich beim Spiegel und er tat einen vorsichtigen Schritt nach vorne.
Plötzlich begann das auf dem Schreibtisch stehende Telefon zu klingeln. Das Geräusch zerfetzte schrillend die Stille der Nacht. Vorsichtig näherte Andy sich dem Gerät und hob ab. Er hoffte, dass keiner der Nachbarn davon wach geworden war. Das Mädchen fixierte ihn immer noch, streckte aber einen Arm in einer ruckartigen, schnappenden Bewegung in die Richtung des spiegelbildlichen Telefons aus. Andy führte den Hörer an seinen Kopf. Das Mädchen spiegelte diese Bewegung, wobei bei Andy der Eindruck entstand, dass sie ihm das Einschlagen des Kopfes andeutete.
Noch schwieg sie. Dennoch hörte Andy irgendwelche Geräusche aus dem Hörer: Eine Mischung aus statischem Rauschen, dem Klang einer auf der zu Ende gespielten Schallplatte hüpfenden und kratzenden Nadel, das Rascheln von Blättern und Papier im Wind, das Rieseln von Sand und mit etwas Phantasie war sogar ein Wirrwarr aus flüsternden Stimmen herauszuhören, die Andy jedoch nicht im geringsten verstand. Dann begann sie ihre Lippen zu bewegen, und mit einer Verzögerung von ein oder zwei Sekunden hörte Andy dann auch ihre Stimme, die aus großer Entfernung zu kommen schien. Sie war von einem eigenartigen Hallen begleitet, als würde sie sich nicht in einem kleinen Appartement, sondern in einem riesigen Gewölbe aufhalten, und hatte eine seltsam ätherisch anmutende Qualität an sich. Sie erinnerte ihn beinahe an die Stimme der Tiefe, aber im Gegensatz zu dieser nicht Schmerz und Unwohlsein verursachte, sonder einfach nur kühl und neutral war. Als hätte man es mit einem künstlichen Konstrukt zu tun.
„Sie hören wirklich nie darauf, was man Ihnen sagt! Ich will nicht gerettet werden! Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!“
„Ich denke, du bist dir nicht im Klaren darüber, was mit dir passiert, Tina. Dein Name ist nicht Alice.“ Andy hoffte, dass die Konfrontation mit den beiden Namen irgend etwas in ihr auslösen würde. Das geschah auch, allerdings nicht ganz so wie er es erwartet hatte.
Sie zischte ihn an, darin mischte sich ein Surren in der Leitung, das ihn an das Geräusch von Hochspannungsleitungen erinnerte: „Alle relevanten Determinanten der Konstellationen stimmen, das Psychogramm entspricht den nötigen Parametern und sogar die Ähnlichkeiten in der Optik sind akzeptabel. Es fehlt nur noch der letzte Schliff und die Verbindung ist makellos.“ Dann nahm ihre Stimme einen hysterischen Unterton an: „Was wissen Sie schon?!“
Andy wunderte sich darüber, dass manche der Worte so klangen, als ob sie gleichzeitig von zwei Personen gesprochen wurden, wobei eine der Stimmen eine Tonlage höher klang als die andere. Das Wort „Verbindung“ schließlich ließ ihn knirschend die Zähne zusammenbeißen. Hier hatte er es eindeutig mit der Stimme der Tiefe zu tun. Aber er gab nicht auf.
„Alice ist tot. Ich habe sie sterben sehen. Was erhoffst du dir von all dem hier?“
Ein unvorstellbar tiefes Knurren erfüllte die Leitung und überlagerte mit seiner durch Mark und Bein gehenden Vibration alle Störgeräusche der Leitung. „Wir sind unvergänglich! Reden Sie sich nur ein, dass von Ihnen nichts als Asche und Staub übrig bleiben wird! Das ist Ihr Problem! Sie existiert! Ich will es so!“
Es war der trotzige Aufschrei eines Kindes, die leidenschaftliche Entgegnung eines Märtyrers kurz vor seinem Ende, eine unbedingte Wahrheit, de nichts neben sich duldete. Und dann wurde die Stimme ätzend und gehässig: „Gehen Sie, bevor man Sie findet! Laufen Sie weit, weit weg! Man sucht Sie schon! Alle glauben, Sie haben unser Blut an Ihren Händen!“
Das Mädchen begann zu lachen. Es war ein entsetzlich dissonantes Geräusch mehrerer Stimmen, die ihre einzelnen Lachstöße arhythmisch zueinander ausstießen. Andy legte benommen den Hörer auf. Das Mädchen lachte weiterhin, spiegelte seine Geste, kombinierte diese aber mit der Andeutung vom Durchschneiden der Kehle. Dann winkte sie ihn achtlos von sich.
Andy taumelte mehr aus der Wohnung als er hinausging. Auch wenn er nun weder das Lachen noch die übrigen merkwürdigen Geräusche in der Leitung hörte, so verfolgte ihn die Kakophonie in seinem Kopf. Inzwischen war er der festen Überzeugung, dass diese Geräuschmischung seinen gegenwärtigen Zustand der Unsicherheit und Schwäche verursacht hatten. Er hielt sich nicht für jemanden, dem man mit seltsamen Tricks in Spiegeln und Telefonhörern Angst einjagen konnte, und dennoch schafften sowohl die Hauptstadt als auch diese Erscheinung dies mühelos.
„Was war das eben?“, fragte Arina flüsternd, nachdem sie leise die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Andy wusste zuerst gar nicht, was er ihr sagen sollte. Er fand nicht die richtigen Worte, um die Szene zu beschreiben. Dann fasste er sich und setzte zu einer knappen Zusammenfassung in einem ähnlich leisen Tonfall an. Am wichtigsten erschien es ihm, Tinas Worte möglichst genau wiederzugeben, nachdem er sich keinen rechten Reim auf sie machen konnte und eine Interpretationshilfe von Seiten seiner Begleiterin erhoffte. Schließlich seufzte er, selbst darüber überrascht, wie müde er klang: „Das alles macht so gar keinen Sinn. Was haben die mit ihr gemacht?“
Arina wirkte nachdenklich: „Hat sie wirklich von Konstellationen gesprochen?“ Andy nickte. Sie seufzte nun auch: „Dann könnte es bereits zu spät sein. Ich meine, ich bin keine Expertin für astrale, arkane oder sonst welche Verbindungen, aber es gibt mehr als genug Fälle von freiwilliger Besessenheit, insbesondere dann, wenn eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Besetzer und Besetztem besteht und eine Portion Hingabe gegeben ist. So handeln oft Priester als Verkörperungen ihrer Götter, wenn deren Glaube stimmt. Wenn die Schatten ihre Hausaufgaben gemacht haben, dann könnte dieses Mädchen schon jetzt zu Alice geworden sein.“
Als sie Andys Enttäuschung bemerkte, fügte sie hastig hinzu: „Wenn die Dissonanz zwischen ihr und Alice allerdings groß genug ist, dann wäre der Prozess sicherlich umkehrbar, insbesondere dann, wenn sie sich nur deswegen in dieses Spiel fügt, weil sie gezwungen wird. Dann könnten wir noch eine Chance haben, solange noch irgend etwas von ihr übrig ist.“
Nach einer kurzen Pause stellte sie eine Frage an ihn: „Weißt du, ich bin ein wenig herumgekommen und bin mir daher gar nicht sicher, was für dich normal ist und was nicht. Sind solche Spiegeltricks bei euch üblich?“
Andy blinzelte verwirrt: „Nein, überhaupt nicht. Ich habe etwas Vergleichbares zum ersten Mal in der Hauptstadt gesehen. Worauf willst du hinaus?“
Sie zuckte mit den Schultern: „Dann solltest du vielleicht Kontakt zu den Leuten da aufnehmen und sie fragen, was das soll.“
Andy sah sie fragend an: „Was geht dir durch den Kopf?“
Er hatte das Gefühl, dass ihre Gedankengänge ihn langsam aber sicher hinter sich ließen, was vermutlich mit der fortgeschrittenen, nächtlichen Zeit zu tun hatte. Andererseits war er sich aber auch nicht sicher, ob er ihr in diesem Fall im wachen, ausgeschlafenen Zustand hätte folgen können.
Sie zuckte erneut mit den Schultern: „Mir gehen viele Ideen durch den Kopf und ich kann derzeit keiner von ihnen den Vorzug geben. Vielleicht hat etwas deine Welt infiziert. Vielleicht betrifft es nur Dinge um dich herum. Vielleicht ist es auch was ganz anderes. Vielleicht ist das alles nur ein verrückter und extrem realistischer Traum.“
Andy seufzte: „Dann fällt mir nichts anderes ein, als jetzt zu einer U-Bahn-Station zu gehen und versuchen, da trotz der Uhrzeit irgendwie reinzukommen. Mit etwas Glück holt uns dann dieser Tornado ab.“ Sie nickte, und sie gingen wieder los.
Die nächste Station lag einige Blocks entfernt. Sie erreichten sie ohne irgendwelche Zwischenfälle. Falls wer auch immer nach ihnen suchte, dann suchte er sie wohl gerade woanders. Andy legte trotzdem ein recht flottes Tempo vor, schon allein deshalb, weil er immer noch die schwache Hoffnung hatte, in dieser Nacht noch etwas Schlaf zu finden. Arina hielt mühelos mit ihm Schritt. Sie lief so beschwingt auf ihren High Heels, als wäre sie mit ihnen auf die Welt gekommen.
Auf dem Weg fragte er sie leise: „Glaubst du, dass man mich in der Hauptstadt vielleicht belogen hat? Wollen die Schatten Alice am Ende gar für die Leute dort drüben zurückbringen?“
Arina seufzte: „Um ganz ehrlich zu sein kann ich das nicht ausschließen. Verluste müssen kompensiert werden und manchmal wählen die Leute dabei eben extreme Möglichkeiten, wenn sie es können. Aber so wie ich sie nach meinem bescheidenen Informationsstand einschätze, kann ich das nicht glauben. Zugegeben, manchmal sind sogar die besten von uns zu schrecklichen Taten fähig, wenn die Verzweiflung groß genug ist... es ist echt nicht einfach. So oder so, wir kommen wohl nicht drum herum, sie zu fragen.“
Andy nickte: „Sieht so aus. Ich will nur hoffen, dass die Station jetzt irgendwie zugänglich ist.“
Die Treppe führte sie in einen beleuchteten unterirdischen Gang, der jedoch abrupt zu einer Sackgasse wurde, indem man ihn mit einem heruntergelassenen Metallgitter versperrt hatte. Andy fluchte leise und rüttelte an diesem Metallvorhang, wie erwartet bis auf ein Scheppern vollkommen ergebnislos. Allerdings hörten sie bald Schritte hinter dem Gitter, die sich ihnen in einem schnellen, aber nicht zu hastigen Tempo näherten.
Andy und Arina wechselten die Blicke. Wenig später erschien um die Ecke ein Mann in einer typischen Nachtwächteruniform. „Die Station ist geschlossen, gehen Sie nach Hause!“, ermahnte er die beiden.
Arina lächelte charmant, aber zugleich auch sehr verlegen: „Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, ich habe da irgendwo einen Ohrring verloren, und da dachte ich, ich könnte vielleicht schnell nachsehen, bevor das Reinigungspersonal kommt.“
Der Mann mit dem breiten Mund sah sie missmutig an: „Die sind erst in zwei Stunden da. Sie können ja dann noch Mal wiederkommen und nachfragen. Oder Sie gehen einfach schlafen und fragen morgen im Fundbüro an.“
Andy seufzte und beschloss, da mitzuspielen: „Das habe ich ihr auch schon gesagt, aber es bedeutet ihr sehr viel. Sehen Sie, die Ohrringe sind ein Geschenk von ihrer inzwischen verstorbenen Mutter. Lassen Sie uns kurz nachsehen, und wir sind gleich wieder weg. Sie können uns ja auf die Finger schauen, wenn es Sie beruhigt.“
Der Mann schüttelte den Kopf: „Das ist ausgeschlossen, die Vorschriften, verstehen Sie?“
Andy suchte verzweifelt nach einem Strohhalm, um den Mann doch noch zu überreden. Er war schon sehr nahe dran, seine Brieftasche zu zücken und zu versuchen, den Wächter zu bestechen, als sein Blick auf das Namensschild auf dessen Brust fiel. „Boca“ stand darauf geschrieben. Irgendwoher kannte er den Namen. Er musterte den Mann erneut, diesmal aufmerksamer. Dessen Haut war nicht nur des künstlichen Lichts wegen so blass, sie war in der Tat sehr bleich. Der extrem breite Mund fügte sich sehr gut ins Bild, ebenso die merkwürdige Körperhaltung, die zwar müde und schlaff zu sein vorgab, aber in Wirklichkeit einer angespannten Feder glich. Und schließlich waren die Haare, die unter der Mütze herauslugten, eindeutig nicht echt.
„Agent Boca?“, fragte er leise.
Der Mann grinste – eines dieser Grinsen, bei denen der Mund sich von einem Ohr zum anderen zog – und nickte: „Ich hab’ mich schon gefragt, warum Sie so lange brauchen.“
„Ich habe nicht erwartet, einen von euch hier zu sehen. Haben Sie an jeder Station Agenten platziert oder hatte ich nur Glück?“
Boca lachte kurz: „Nachdem was bei uns gerade los ist können Sie froh sein, dass man Ihren Fall als hoch genug priorisiert hat, um wenigstens einen von uns hier abzustellen. Ich bin für eine Observierung der Stationen zuständig, obwohl inzwischen keiner mehr damit gerechnet hat, dass sie sich noch Mal melden würden.“
„Dann ist es wohl ein ziemlich großer Zufall“, stellte Andy fest.
Boca schüttelte den Kopf und wirkte gekränkt: „Daran ist überhaupt nichts zufällig. Ich bin doch kein Anfänger! Für so einen lächerlichen Job braucht man nicht mehr als einen Agenten. Aber bevor ich sie mit Details langweile, sollten wir gehen, sonst verpassen Sie ihren Zug.“ Agent Boca fuhr das Gitter hoch, damit die beiden passieren konnten, und ging voran. Andy nickte und folgte ihm, Arina ebenso.
Sie kamen am Gleis just in dem Moment an als der Tornado einfuhr. Arina nutzte die laute Geräuschkulisse und flüsterte Andy ins Ohr – gerade laut genug, damit nur er die Worte hören konnte: „Diese Typen sind sogar in normalen Outfits gruselig.“ Andy nickte ihr zustimmend zu, hatte aber innerlich die Vermutung, dass sie nur deshalb dieser Meinung war, weil der Agent offensichtlich gegen ihre Reize immun zu sein schien.
Der Zug kam zum Stehen, die Türen öffneten sich und sie stiegen ein. Agent Boca verschwand hinter dem Tornado in der Finsternis des Tunnels. Überrascht bemerkte Andy, dass sie nicht allein im Zug waren. Auf zwei nebeneinander angeordnete Vierergruppen verteilt saßen sechs Leute herum, die in ihrer Erscheinung nur bedingt zueinander passten. Da waren drei Partygänger, ein abgerissener Punk, und zwei Geschäftsleute. Der Punk sah zu Andy und Arina und winkte sie zu sich. Andy war überrascht, dass Arina sich sogleich mit einem Lächeln auf den Lippen in Bewegung setzte, und folgte ihr dann schulterzuckend. Sie nahmen auf den beiden freien Sitzen gegenüber dem Punk und der neben ihm sitzenden Geschäftsfrau Platz. Dann schlossen sich die Türen und der Zug raste los, hinein in die Dunkelheit.
Sehr bald begann das Licht im Wagen zu flackern, und gleichzeitig spürte Andy unter sich eine Bewegung, die nicht mit der Fahrtrichtung des Zuges übereinstimmte. Er kam sich plötzlich vor wie in einer Achterbahn, in der die Sitze frei beweglich waren. Nur war diese Bewegung nicht rotierend-mechanisch, sondern irgendwie lebendig und organisch, als würde eine Katze ihren Rücken durchstrecken. Dann sah er auch, dass die Sitze sich bewegten. Aus den durch den Gang getrennten Vierergruppen wurde eine einzige Runde. Aber als es soweit war, wunderte Andy sich überhaupt nicht darüber, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit wesentlich stärker beanspruchte.
Im Flackern der Lampen veränderte sich Stück für Stück die äußere Erscheinung der anderen Passagiere. Es wirkte beinahe so, als würde mit jedem Lichtblitz ein Stück von einer Eierschale entfernt werden, unter der etwas anderes zum Vorschein kam. Der Punk, der nun links von Andy saß, entpuppte sich als Jack, links von ihm saß seine Schwester Avera, links von ihr wiederum saß Agent Mens, der seiner Tarnung noch am ähnlichsten sah. Rechts von Arina saßen die Prinzessin des Spiegelbilds Astasia, dann der Engel aus dem Spiegelbild der Hauptstadt und der inzwischen vom Zerbrochen Prinzen zum Zerbrochenen König gewordene Dannel.
Während die meisten von ihnen so wie Agent Mens noch genauso aussahen wie in dem Moment, in dem Andy sie zuletzt gesehen hatte, wirkten Jack und Avera, die beiden Zwillinge der ursprünglichen Hauptstadt, nun gut um ein Jahrzehnt gealtert. Besonders dramatisch wirkte diese Veränderung jedoch nur bei Jack, der nun dem Schergen beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten war und auch beinahe dessen muskulöse, kraftstrotzende Statur erreicht hatte. Der Blick in Jacks Augen strafte jedoch diese Ähnlichkeit Lügen. Es war nicht die geringste Spur der Grausamkeit darin. Umso schmerzvoller musste die Begegnung für Astasia sein. Der innere Kampf zwischen Sympathie und Verlangen auf der einen Seite mit Abscheu und Schmerz auf der anderen Seite war offensichtlich. Ihre Blick suchte immer wieder den seinen, nur um sogleich wieder zu flüchten.
Avera war die erste, die das Wort ergriff: „Guten Abend, Andy. Wir haben gar nicht mehr geglaubt, dass Sie sich wieder melden werden. Sie haben vermutlich keine Ahnung, was die Episode im Spiegelsaal für Folgen für uns hatte.“
Andy sah sie fragend an: „Da haben Sie absolut recht. Ist das die Ursache dafür, dass schon wieder ein Mädchen verschwunden ist?“
Avera riss weit die Augen auf: „Was? Wie?“ Ihre Augenlider begannen zu flattern, ihre Augäpfel rollten sich so weit nach oben, dass beinahe nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war, und dann sah sie wieder zu Andy: „Der Tornado hat niemanden mitgenommen. Keiner der Agenten hat irgend eine solche Handlung durchgeführt. Es ist nichts dergleichen autorisiert worden. Sind Sie sich sicher, dass wir tatsächlich etwas damit zu tun haben?“
Andy hielt ihren Blick fest: „Die vier Schatten, die zu Alice gehörten, fallen aber in Ihre Zuständigkeit, oder etwa nicht?“
Avera wurde blass: „Sie... sie sind nicht tot?“
Andy schüttelte langsam den Kopf: „Nein sind sie nicht. Sie sind quicklebendig und sie haben ein Mädchen in ihrer Gewalt, um Alice wieder zurück zu holen. Was halten Sie davon?“
Avera biss sich auf die Unterlippe: „Es... tut mir unendlich leid... ich... wir alle sind davon ausgegangen, dass die Schatten zusammen mit Alice gestorben sind. Seit Ihrer Rückkehr in Ihre Welt haben wir kein Lebenszeichen von ihnen erhalten – und wenn ich ehrlich sein soll, wir hatten nicht die Zeit und auch nicht die Ressourcen, um uns um sie zu kümmern. Wir hatten uns auf Ihre Beobachtungen verlassen. Um noch einmal darauf zurückzukommen, was passiert ist – Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wir werden niemanden mehr „holen“. Wir können das nicht mehr. Wir müssen jetzt nämlich zu euch.“ Avera beendete den Satz und wartete ruhig auf Andys Reaktion.
Andys Mund klappte auf. Dann schloss er sich wieder. „Was bedeutet das?“
Astasia ergänzte leise: „Man sollte eben vorsichtig sein, was man sich wünscht. Sie haben diesen Wunsch gehabt seitdem sie in der Hauptstadt angekommen sind, spätestens aber seitdem Ihnen bewusst geworden ist, was mit Lady Ellie passiert ist. Sie haben ihn in einem schicksalhaften Augenblick ausgesprochen. Leider... ist dies das einzige gewesen, was ausgesprochen wurde. Sie haben die Handbremse eines Wagens gelockert, und er ist einfach so losgerollt. Jetzt stellen Sie sich vor, der Wagen wäre ein riesiger Laster und sie haben einige kleine Kinder in der Kabine, die ihr Bestes geben, damit dieses Ungetüm nicht irgendwo hineinrast und womöglich einen ganzen Spielplatz voller Kinder dem Erdboden gleichmacht. Wir haben uns alle Mühe gegeben, den Schaden zu minimieren und einen neuen Status Quo zu finden, bei dem unsere Welt überleben kann.“
Andy verstand immer noch nichts. Der Zerbrochene König seufzte theatralisch: „Ach, wie klug und umsichtig war die Mutter gewesen! Wie vorausschauend! Sie hat gewusst, dass ein Träumer eine Anleitung braucht, eine stützende Hand, sonst nimmt alles ein böses Ende. Durch sie hat Elaine uns retten können. Aber hinterher ist man immer klüger. Wir hätten Sie nicht so schnell gehen lassen dürfen.“ Jack warf ihm einen strafenden Blick zu.
Avera seufzte: „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist keine Invasion. Um genau zu sein ändert sich weder für diese Welt noch für die Hauptstadt etwas. Es ist nur so, dass wir jetzt anders vorgehen müssen, wenn wir Hilfe von einem Träumer brauchen. Und diese simple Tatsache hat auf ein paar andere Dinge einen Einfluss. Aber es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen alles erklären müsste. Ich glaube aber, dass wir gelernt haben, damit umzugehen.“
Andy nickte langsam. Er war sich nicht sicher, ob er sie verstanden hatte: „Brauchen Sie also noch meine Hilfe oder nun doch nicht mehr?“
Jack zuckte mit den Schultern: „Ich glaube, wir werden zurechtkommen. Aber Sie sind wegen diesem Mädchen hier, also brauchen Sie wohl unsere Hilfe.“
Andy nickte: „Ja. Wie gesagt, die Schatten haben dieses Mädchen in ihrer Gewalt, und wenn wir nicht schon bald etwas unternehmen, dann werden sie Alice aus ihr machen. Ich habe so das ungute Gefühl, dass es zumindest den Tod ihrer Persönlichkeit bedeuten würde. Ich kann nur immer noch nicht verstehen, wie ihnen allen entgehen konnte, dass die Schatten noch da und aktiv sind.“
Wäre Agent Mens’ Blick ein Degen gewesen, dann wäre Andy nun ein toter Mann. So aber spürte er nur eine unangenehme Gänsehaut bei dem eisigen Blick seiner hellblauen Augen: „Mir ist kein Beispiel des menschlichen Organisationsgenies bekannt, das in einem Chaos der Ausmaße eines Weltuntergangs in der Lage wäre, eine Handvoll Personen im Blick zu behalten, bei denen man davon ausgeht, dass sie tot sind, und die sich offensichtlich bedeckt halten. Was auch immer sie bei Ihnen getrieben haben, auf unserem Radar hat es keine Aktivitäten gegeben, die auf ihr Überleben hätten hinweisen können. Und verzeihen Sie bitte, dass wir uns nicht um irgendwelche Kollateralschäden auf Ihrer Seite Gedanken machen konnten, wenn wir ums nackte Überleben kämpften.“
„Kollateralschäden?!“, Andy war augenblicklich außer sich.
Doch bevor auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, hauchte Astasia ein kühles Flüstern in die Runde, das seinem Zorn sofort jegliche Grundlage entzog: „Sie haben gezögert, sich auf unsere Bitten einzulassen, weil Sie Ihre Prioritäten gehabt haben, obwohl es bei uns um weitaus mehr ging als ein Leben. Nun hatten wir unsere Prioritäten. Und jetzt beruhigen Sie sich, bevor ich Ihnen vorrechne, dass sie eine einzige entführte Person aus Ihrer Welt höher bewerten als all die vielen Toten auf unserer Seite.“
Andy atmete tief durch: „Die Schatten gehören dennoch zu Ihnen, und ich denke nicht, dass sie das Recht zu dem haben, was auch immer sie tun.“
Dannel rollte mit den Augen: „Haben Sie das Mädchen schon gefragt? Vielleicht gefällt es ihr ja. Vielleicht haben die Schatten sie sogar vorher gefragt. Steve hat bei uns auch eine Menge Spaß gehabt, bevor jemand brutal seine Freunde abgeschlachtet hat.“
Andy fixierte ihn mit seinem Blick: „Ich denke, dass sie nicht sie selbst ist und darum keine Entscheidungen treffen kann. Ich denke auch, dass man sie nicht gefragt hat und dass sie keine andere Wahl hatte. Glauben Sie allen Ernstes, dass die Schatten jemanden um Erlaubnis fragen würden? Das ist kein Spaß, also helfen Sie mir bitte, sie da rauszuholen. Vielleicht kann ich dann noch etwas für Sie tun.“
Die anderen wechselten die Blicke. Dann wandte sich erneut Agent Mens an ihn: „Also gut. Sobald Sie einen guten Plan haben, wie Sie das durchziehen können ohne in die Spiegel zu gehen, bekommen Sie von mir alle Unterstützung, die ich entbehren kann.“
Andy sah ihn fragend an: „Sollte es nicht reichen, wenn man da mit einem Dutzend Agenten rein geht? Es sind doch nur vier.“
Mens schüttelte den Kopf: „Nein. Die Spiegel sind Kraft des Willens von Lady Ellie ihre Domäne geworden. Dort haben wir kaum Chancen, erst recht nicht, wenn das Mädchen sich sträuben sollte. Dann sind wir sowieso erledigt, da ich annehme, dass sie sich eine Träumerin ausgesucht haben.“
Andy überlegte kurz und sah fragend zu Arina: „Steve ist doch noch irgendwo da draußen. Würde er sich nicht an den Mördern seiner Freunde rächen wollen?“
Sie seufzte: „Natürlich würde er das, so wie ich ihn kenne. Aber... ich habe nicht den leisesten Schimmer, wie und wo ich ihn finden kann. Selbst der Herr der Spinnen mit all seinen Netzen könnte Schwierigkeiten haben, nachdem Steve für gewöhnlich seine Vorkehrungen trifft, um nicht von den Anhängern der Gnadenlosen aufgespürt zu werden. Ich könnte natürlich versuchen, ihn auf meine Weise zu erreichen, aber ich habe keine Garantie, dass es klappt. Wir können uns nicht darauf verlassen.“
Jack zuckte mit den Schultern: „Ich könnte mich auf die Suche nach ihm machen. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich ihn rechtzeitig auftreiben kann, womit wir wieder bei Arinas Schlussfolgerung ankommen. Und außerdem habe ich den Schatten seinerzeit versprochen, dass wir sie nicht an ihn ausliefern werden, wenn sie uns gegen den Schergen helfen, was sie auch getan haben. Ich würde es lieber sehen, wenn er sie weiterhin für tot hält. Er hat außerdem sicherlich genug damit zu tun, die Gnadenlose zu verfolgen.“
Andy seufzte und sah zu Agent Mens: „Dann würde ich zu meinem ersten Vorschlag mit dem Dutzend Agenten zurückkommen. Wenn ich das Mädchen in Schach halten und sie vielleicht sogar vom Einfluss der Schatten lösen kann, dann müsste es doch erst recht möglich sein.“
Agent Mens setzte eine nachdenkliche Miene auf und schüttelte dann den Kopf: „Ausgeschlossen. Selbst das Szenario mit dem bestmöglichen Verlauf endet fatal. Ich werde keine Selbstmordmissionen gutheißen.“
Andy verschränkte die Arme vor der Brust: „Ich kann das einfach nicht glauben.“
Mens sah ihn ernst an: „Ich würde es Ihnen ja zeigen, aber Sie haben leider eine Abneigung gegenüber unserer Art von Informationsübertragung.“
Arina schmunzelte: „Ich habe kein Problem damit, zeigen Sie es mir.“ Nach einer kurzen Pause, in der er sie äußerst skeptisch und misstrauisch beäugte fügte sie schelmisch hinzu: „Ich werde auch nicht versuchen, Sie zu verzaubern. Ehrenwort.“
Der Agent grinste schief: „Das will ich Ihnen auch geraten haben in Anbetracht dessen wozu ich fähig wäre, wenn Sie es versuchen.“
Sie murmelte: „Nur keine Sorge, auf Schmerzen stehe ich so gar nicht.“
Er nickte, beugte sich vor zu ihr und zog ihren Kopf an seinen. Seine Lippen legten sich auf ihre. Wenige Sekunden später spannte sich ihr Körper an, ein leidvolles Aufstöhnen entstand in ihrer Kehle. Weitere Augenblicke später riss sie sich los von ihm, die Augen weit aufgerissen und von Tränen glänzend, auf den Wangen fiebrige rote Flecken.
Einige tiefe Atemzüge später lächelte sie aber wieder – offensichtlich mehr ein Versuch, sich selbst zu beruhigen als jemand anderen – und sah dann mit einem Seufzen zu Andy: „Also, ich glaube ihm. Das wird ein Himmelfahrtskommando, wenn wir da mit Gewalt vorgehen wollen.“ Und dann fügte sie ganz leise hinzu: „Kein Wunder, dass niemand mit einem Agenten knutschen will.“
Agent Mens rollte mit den Augen und lehnte sich in seinen Sitz zurück, die Arme vor den Körper verschränkt. Er wirkte so, als ob er sich einen bissigen Kommentar verkniffen hatte.
Der Engel fügte leise hinzu: „Ich würde mich ja als Köder anbieten, um sie aus der Reserve zu locken, aber ich befürchte, dass das keinen Nutzen hätte. Ich habe nichts, was die Schatten wollen würden. Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann sagen Sie es mir.“
Andy nickte. Seine Gedanken wirbelten herum, zusammenhangslos und sprangen mal hierhin, mal dahin. Er konnte nicht sagen, wieso sie schließlich wieder bei Elaines Geschichte landeten – vermutlich weil Alice zu ihr gehört hatte – und da kam ihm eine neue Idee: „Wissen die Schatten eigentlich, was sie tun? Ich meine, gibt es irgendwo ein Regel, die besagt, dass sie in der Lage sind, Alice zurück zu bringen? Sind... geistige Übernahmen deren Spezialgebiet? Könnte man ihnen vielleicht einreden, dass ihnen noch etwas Wichtiges fehlt, damit das Mädchen zu Alice werden kann?“
Astasia sah ihn nachdenklich an und nickte dann: „In unserer Geschichte hat es keine Alice gegeben, weil unsere Lady Ellie... alle ihre Möglichkeiten genutzt hatte. Mein Bruder und ich könnten sicherlich eine Situation arrangieren, in der das Mädchen zu Alice werden – oder sich von ihrem Einfluss ein für alle Mal loslösen könnte. Aber ich muss Sie warnen: Wenn alles erst einmal ins Rollen kommt, dann kann keiner von uns vorhersagen, was am Ende rauskommen wird. Es wird alles von diesem Mädchen abhängen.“
Andy hielt dem schweren Blick ihrer finsteren Augen stand und nickte nachdenklich: „Sie wird also eine Chance haben zu begreifen, was sie wirklich will?“
Astasia nickte: „Glauben Sie wirklich, dass ich nach all dem, was mir widerfahren ist, zulassen würde, dass auch nur eine einzige Seele einer vergleichbaren Tortur unterzogen wird? Wenn sie gegen ihren Willen zu Alice verformt werden soll, dann wird sie eine Möglichkeit finden, sich zu befreien. Wenn sie jedoch Alice werden will – dann wird es so sein. Wir werden diejenige willkommen heißen, die für meine Freiheit ihr Leben geopfert hat.“
Jack sah in die Runde, als ob er noch etwas sagen wollte, aber dann blieb er weiterhin stumm. Sein Blick wanderte weiter zu Astasia, traf sich erneut mit ihrem, bohrte sich eindringlich hinein, das Gesicht eine einzige Frage. Ihre Augen weiteten sich voller Schrecken, dann nickte sie, noch blasser als sie es ohnehin schon war, sogar ihre Lippen kreidebleich. Jack lächelte schwach. Verwundert bemerkte Andy, wie Arina, die den Platz neben Astasia hatte, ein wenig unruhig wurde. Dann zog sie einen Taschenspiegel heraus und wirkte ganz und gar so, als würde sie den Sitz ihrer Haare korrigieren und sich die Nase pudern. Astasia nieste leise.
Andy nickte mit einem Seufzer. Offensichtlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf diesen Plan einzulassen. Arina räusperte sich: „Nun, da das alles geklärt ist – hier gibt es noch eine Kleinigkeit, die mit der ganzen Geschichte zu tun hat. Die gnadenlose Kanzlerin sinnt immer noch auf Rache, und über kurz oder lang wird sie euch alle gern tot sehen. Aber da Andy ihr am schwächsten erscheint, fängt sie mit ihm an. Steve hat mich gebeten, ihr ein paar Steine in den Weg zu legen, aber ich tauge nicht besonders gut als Leibwache und will auch nicht den Kugelfänger spielen. Ach ja, und ein Zuhause hat er momentan auch nicht.“
Ein Seufzer ging durch die Runde – mal mit der Tönung der Müdigkeit, mal der Langeweile, mal der Traurigkeit und auch der Gleichgültigkeit –, dann lächelte Agent Mens höflich: „Das wiederum ist ein leicht lösbares Problem. Das Hotel hat für solche Notfälle immer einige Zimmer reserviert und ich denke, mit Agent Lewson werden Sie auch gut zurechtkommen. Er wird Sie gleich an der Station abholen und ins Hotel bringen. Welche Reservierung brauchen Sie?“
„Zwei Einzelzimmer“, antwortete Andy ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken.
Agent Mens nickte: „Gut. Man wird alles vorbereiten bis sie dort ankommen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wird Agent Lewson alles weiterleiten.“ Dann sah er Arina prüfend an: „Sie hatten auch schon mit ihr zu tun?“
Sie blinzelte verwirrt: „Mit wem? Ach, mit der Gnadenlosen? Ja und nein, also zum Glück nicht direkt. Das ist etwas umständlich zu erklären und auch nicht wirklich wichtig.“
Agent Mens nickte, aber wiederum war ihm anzusehen, dass er sich mit dieser Aussage nur fürs Erste begnügen würde.
Der Tornado fuhr unterdessen in eine andere Station ein. Sie lag in einem vollkommen anderen Teil der Stadt und war für gewöhnlich nicht ohne mindestens ein einmaliges Umsteigen zwischen den verschiedenen Linien zu erreichen. Während der Einfahrt nahmen die Sitze wieder ihre gewohnte Aufstellung in zwei Vierergruppen ein.
Andy erhob sich: „Also gut... ich werde morgen erneut in die Wohnung gehen und versuchen, den Schatten den Sachverhalt zu erklären. Danach seid ihr dran.“
Andy und Arina verabschiedeten sich knapp von den anderen, die ihr Äußeres wieder mit der bereits bekannten Tarnung versehen hatten, und stiegen aus. Wie angekündigt wartete Rick bereits auf sie. Und ähnlich wie Jack und Avera hatte auch er sich verändert. Wie die beiden Zwillinge wirkte er nun gute zehn Jahre älter und war nun markant stärker und männlicher geworden, wenn auch immer noch etwas schlanker als sein Vater Leo es zum Zeitpunkt seiner ersten Bekanntschaft mit Elaine gewesen war. Die Haare trug er nun schulterlang, sie waren durch ein Band am Hinterkopf zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Kleidung erinnerte Andy an die von Agent Boca, das Namensschild war entsprechend auf „Lewson“ ausgestellt. Am Ärmel der Uniform entdeckte Andy das Logo des Hotels, an das er sich nach kurzer Überlegung erinnerte. Es war sicherlich das unauffälligste Hotel der Stadt, auch eines der ältesten. Allerdings war es weder glamourös noch verrufen, weder luxuriös noch erbärmlich.
„Guten Morgen“, sagte Rick nach einem kurzen Blick auf eine einfache, analoge Armbanduhr, die alles andere als kostspielig war. Seine Stimme hatte den Stimmbruch offensichtlich hinter sich und kam nun als ein angenehmer Bariton daher.
„Guten Morgen“, lächelte Arina ihn an. „Ich hoffe, ich kann meinen Schönheitsschlaf gleich nachholen.“
Rick lächelte höflich: „Das versichere ich Ihnen, auch wenn Sie das sicher nicht brauchen.“
Arina schmunzelte, Andy rollte mit den Augen. Rick führte sie dann ohne weitere Umschweife zum Hotel, wo sie ohne Zwischenfälle einchecken konnten. Andy hatte beinahe erwartet, denselben Mann an der Rezeption vorzufinden, den er schon in der Hauptstadt gesehen hatte. Aber dem war nicht so. Stattdessen nahm eine junge Frau ihre Personalien auf und überreichte ihnen die Schlüsselkarten. Da entdeckte Andy, dass Arina einen osteuropäisch anmutenden Nachnamen hatte, den er jedoch nicht genau verstand. Sie verabschiedete sich mit einem hastigen Gute-Nacht-Wunsch von ihm und verschwand auf ihrem Zimmer, so dass er nicht dazu kam, sie nach ihrem Nachnamen zu fragen.
Im Halbschlaf nahm Andy noch eine kurze, heiße Dusche und fiel dann wie ein Stein ins Bett. Er glaubte, aus Arinas Zimmer nebenan noch Geräusche gehört zu haben, aber da war er schon zu müde um auch nur einen Anflug der Neugier zu verspüren und genauer hinzuhören. Der Schlaf traf ihn wie ein Hammerschlag.