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Kapitel 3
ОглавлениеDann, ein paar Wochen später, also die Sache mit dem Litauer...
»Ist das wahr, dass du heute einen Toten gefunden hast, Adam?« Jochen Kornreder war der erste, der ihn das fragte, als sie sich zur Mittagspause in der Personalmesse trafen. So hieß die Betriebskantine in der Sprache der Nautik, wo offenbar alles anders bezeichnet wurde als an Land.
Die Messe bot Platz für ungefähr zweihundert Mann, was sich nicht nach besonders viel anhört in Anbetracht einer Besatzungsgröße von nahezu neunhundert Leuten, in der Praxis aber vollkommen ausreichte. Zum einen waren die Essenszeiten in feste Schichten eingeteilt, weil es ein Ding der Unmöglichkeit war, die gesamte Schiffsbesatzung auf einen Sitz vom Service oder gar von der Bordtechnik abzuziehen. Und zum anderen war diese Messe offenbar nur für die Servicekräfte bis hinauf zum Kapitän und seinen Offizieren. Für die Mechaniker, Ingenieure, Maschinisten, Bootsleute und so weiter, die tief im Bauch des Schiffes arbeiteten, war wohl irgendwo da unten eine separate Futterstelle eingerichtet. Jedenfalls hatte Adam bisher noch keinen Kerl im Blaumann hier heroben auf Deck drei gesichtet. Der Grund für die Trennung lag auf der Hand: Man wollte vermeiden, dass schneeweiße Stewardhosen oder Zimmermädchenuniformen sich in Ölflecken setzten, die die Blaumänner auf den Stühlen hinterlassen hatten. Die weißen Uniformen wurden praktisch täglich in die Wäscherei gegeben, jeder Weißträger besaß vier Garnituren. Aber nach jeder Mahlzeit Ölflecken auf der Hose - das würde selbst die Kapazitäten der Bordwäscherei gewiss überfordern.
Die war übrigens - wie das ganze Schiff - stark auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Kreuzfahrtschiffe hatten ja in dieser Hinsicht einen etwas schillernden Ruf, aber zumindest bei Joster und Colani bemühte man sich, etwas für den Umweltschutz zu tun. Kam bei den Aktionären wahrscheinlich besser an. Laut der Broschüre, die in jeder Kabine auslag und die Adam selbstverständlich längst aus einem Papierkorb gefischt hatte, um sich gründlichst über seine neue Wirkungsstätte und deren Philosophie zu informieren, wurden die riesigen Waschmaschinen mit heißem Wasser aus dem Maschinenraum versorgt, das wiederum über eine Art Wärmetauscher aus der Kühlflüssigkeit der hausgroßen Motoren erhitzt wurde. Abwärme produzierte darüber hinaus auch die Müllverbrennungsanlage, aus der wiederum speiste sich die Heizung für die Kabinen und öffentlichen Räume. Rund um Feuerland, bei der Passage der Magellanstraße, hatte man eine Zeit lang ordentlich heizen müssen, auch wenn das Wetter an sich schön war und auf der Südhalbkugel gerade Sommer herrschte. Außerdem galt es, den bei kalter Witterung überdachbaren Poolbereich angenehm zu temperieren.
»Stimmt, ja«, beantwortete Adam die Frage seines Zimmergenossen und neuen Freundes bezüglich der Leiche. »Das heißt, eigentlich nicht ich, sondern ein Kabinensteward - wie heißt er noch? Bayani?« Ein Filipino wie die meisten Zimmerreiniger. Die Bewohner der Philippinen waren ein Volk von Seefahrern. »Er hat mich dann geholt, weil ich auf dem Rundgang am nächsten dran war. Und ich hab den Doc geholt wegen der Todesursache. Wahrscheinlich ein Dosierfehler mit Marcumar, sagt er. Aber etwas war schon komisch...«
Täuschte er sich, oder riss Jochen in diesem Moment ruckartig den Kopf hoch? War da ein sensationslüsternes Funkeln in seinen braunen Augen? Glaubte er im Ernst, der Klabauter hätte den Mann abgemurkst?
»Nein, du - nichts Weltbewegendes. Nur ein totes Mäuschen in seiner Kabine.«
»Was, so weit oben? Da kommen sie normalerweise nicht rauf.«
»Das hat der Doc auch gesagt, dass ab Deck drei Schluss ist mit Mäusen. Und dass es insgesamt ein ziemliches Mäuseproblem gibt auf dem Schiff.« Jochen nickte. »Sag, wo kommen die überhaupt her? Ich meine, wie gelangt eine Maus auf ein Schiff, das glatte Bordwände hat und auch noch im Salzwasser schwimmt?«
»Über die Taue, schätze ich mal. Für eine Maus ist ein armdickes Schiffstau ja wie für uns eine Autobahn.«
»Und da klettern sie rauf...«
»Da klettern sie wohl rauf«, sagte Jochen zur Bestätigung und zog den Zopfgummi um seinen ellenlangen Pferdeschwanz straffer. Adam beneidete ihn heimlich um diese Haarpracht. Hätte er früher gewusst, dass solche Rockermähnen beim Bordpersonal erlaubt waren, hätte er die seine nicht diesem Friseur in Hamburg geopfert, sondern sich erst einmal mit einem straffen Dutt durchgeschummelt. Halbmeterlange Locken, eine kringeliger als die andere, das reinste Engelshaar...
Der Friseur hatte beim Abschneiden schon ein gewisses Leuchten in den Augen gehabt! »He, was machen Sie da?«, hatte er Adam am Ende der durchaus schmerzlichen Prozedur gefragt. Tausche Rockermähne gegen zahmen Stufenschnitt... Oh Gott, was tat man nicht alles fürs nackte Überleben!
»Ich nehm sie mit und schenk sie meiner Braut.« In Wahrheit hatte er keine und auch kein Verlangen nach einer. »Was dagegen?« Damit hatte er entschlossen nach dem Lockenpuschel gegriffen, den der Friseur säuberlich auf dem Wagen abgelegt hatte, auf dem er normalerweise seine Lockenwickler verwahrte. Hätte er sie nicht so sorgfältig auf diesem Wagen deponiert, Adam wäre nie und nimmer auf die Idee gekommen, die ihm gerade durch den Kopf ging.
»Aber - aber, guter Mann...«
»Asbeck heiß ich, mein Herr.«
»Also, Herr Asbeck - würden Sie mir diese Haare unter Umständen überlassen?«
»Pffhhh... wieso sollte ich? Vielleicht machen Sie dann eine Voodoo-Puppe draus und ich werde aus heiterem Himmel krank, oder mich trifft ein Hexenschuss. Nein, die nehm ich lieber mit.«
»Halt, warten Sie: Ich geb Ihnen fünfzig Euro dafür.«
»Ja, wow! Soviel gleich?« Das war klar ironisch gemeint. Adam wusste ziemlich genau, worauf das hinauslaufen würde. »Und für was, bitteschön, wollen Sie die haben?«
»Das ist europäisches Echthaar. Für Perücken eben oder Extensions. Sonst kriegt man auf dem Markt praktisch nur Ware aus Asien, Indien hauptsächlich. Aber solche Korkenzieherlocken - das ist schon sagenhaft!«
»Fünfhundert«, sagte Adam.
»Wie bitte?«
»Für fünfhundert überlasse ich sie Ihnen. Dauerwellen müssen Sie die ja auch nicht mehr, da sparen Sie sich schon einen Haufen Arbeit. Aber auch nur, weil keine Haarwurzeln dran sind. Wegen Voodoo, Sie wissen schon.«
Da waren sie dann aber doch nicht handelseins geworden, weswegen Adam das Friseurgeschäft nach zähen Verhandlungen eine Viertelstunde später mit einer Plastiktüte verlassen hatte, in welcher seine verlorene Mähne steckte. Fantastillionen laufende Meter goldblondes Lockenhaar...
Tempi passati! »Wieso, Jochen, haben sie dir diese Frisur durchgehen lassen? Bei mir hat es bei der Bewerbung geheißen, das passe nicht zum Stil der ›Symphony‹.«
»Tja, vielleicht, weil ich als Animateur angefangen habe ursprünglich. Da ist es von Vorteil, wenn man ein wenig hengstmäßig ausschaut, gerade bei den älteren Damen ist der Look recht beliebt.«
»Klar: Die sind alle noch mit den Stones und den Doors groß geworden. Aber wieso fängst du als Animateur stattdessen Bordgangster?«
»Weil das einfach stinkfad war, und weil ich mich weiterentwickeln wollte... Schau, Alice ist auch so ein Fall.« Seine Freundin. Eine hübsche Blondine, nicht allzu groß. Jochen hätte sie sich direkt unter die Achsel klemmen und sie mittragen können. Und außerdem konnte er von Glück sagen, dass Adam in seinem früheren Leben schon den Weibsbildern komplett abgeschworen hatte. Größenmäßig hätte sie nämlich perfekt zu ihm gepasst, die Alice. Eine schöne Handbreit kleiner als er, wenn sie keine allzu hohen Absätze trug.
Aber er hatte den Frauen ja adieu gesagt. Und Gott sei Dank wusste sein Hirn das immer noch.
»Sie hat als Hostess angefangen, und dann hat sie sich bald bei unserer Truppe beworben. Weil sie eben eine gewisse Abenteuerlust im Blut hat. Und du?«
»Ich hab auch eine Abenteuerlust im Blut, drum hab ich mich gleich von Anfang an bei dieser Truppe beworben. Und dafür sage und schreibe fünfzig Zentimeter Lockenmähne geopfert.«
»Was hast du eigentlich vorher gemacht?«
»Ordnungsamt, aber das hat hinten und vorne nicht gepasst«, erwiderte Adam. »Betrunkene, vollgekotzte Teenager von den Parkbänken sammeln... Irgendwann war's genug.« Das hatte er als Polizist auch öfter gehabt, deswegen war der Ausdruck von Abscheu in seinem hübschen Gesicht überhaupt nicht gespielt. Sonst aber kribbelte es ihm unter den Zehennägeln. Der Pampf, der sich hier Bayerisch Creme schimpfte, wollte ihm nicht mehr recht die Gurgel runter. Jochen ins Gesicht zu lügen, kam ihn richtig hart an. »Und ich mag auch nicht drüber reden. Lass uns nochmal auf die Mäuse zurückkommen. Wie können die so weit nach oben gelangen?«
»Treppen - oder sie fahren im Lift mit.«
»Witzbold! Im Lift - das würde vielleicht ein Gekreische geben! Siebzig Prozent der Passagiere sind weiblich und in einem Alter, wo man noch mit der Angst vor Mäusen aufgewachsen ist, wegen Pest oder sowas.«
»Ach geh, wegen Pest doch auch wieder nicht mehr. Oder...?«
»Aber apropos Lift - wieso haben wir überhaupt diese beiden seitlichen Treppenhäuser? Die sind doch irgendwie unelegant. Bei den meisten Schiffen sind die Treppen mehr mittig und offener, oder? Richtig schöne haben wir nur zusätzlich im Foyer, über gerade mal vier Decks.«
Auch hier wusste Jochen Bescheid. »Da waren ursprünglich Panorama-Treppen geplant, voll verglast bis runter auf Deck drei. Das sollte nachträglich nach der Jungfernfahrt eingebaut werden, weil die Werft sonst nicht rechtzeitig fertig geworden wäre. Und dann hat jemand vom Vorstand Zweifel angemeldet, ob die Statik das hergibt. Genau weiß ich das auch nicht, wird halt so gemunkelt. Und dass das niemand mehr richtig berechnen hat können, weil nämlich nach ebendieser Jungfernfahrt der Schiffsbaumeister nicht mehr auffindbar war. Der Konstrukteur der ›Symphony‹.«
»Ach, sag bloß!« Es gehörte von jeher zu Adams hervorragenden Eigenschaften, gut zuhören zu können. Und dann zur rechten Zeit die richtigen Fragen zu stellen.
»Ja, das ist noch ein Argument mehr für den Bordklabautermann - wenn nicht das erste überhaupt«, meinte Jochen. »Dass selbst der Schiffsarchitekt spurlos verschwunden ist, nachdem sie fertig war, unsere schöne Lady. Seit viereinhalb Jahren schon. Nach dem Stapellauf war er weg, samt den Konstruktionsplänen. Untergetaucht nach einem Nervenzusammenbruch, heißt es. An dem Schiff ist wirklich so manches seltsam. Es passieren komische Sachen. Und das hat sich eben auch in Hamburg schon rumgesprochen. Du bist zum Beispiel für zwei Mann nachgerückt.«
»Na, bravo! Aber wenn man eh schon Doppelschicht hat, wie soll man da für zwei arbeiten? Das passt doch in vierundzwanzig Stunden überhaupt nicht mehr rein. - Hey, was willst du mir damit sagen, Kumpel? Was genau ist mit den beiden Männern passiert?«
»Pffhhh... einer ist einfach in Vorruhestand gegangen, weil seine Pumpe den Stress nicht mehr recht mitgemacht hat. Und der andere... Colin hieß er... der hat seine Panikattacken nicht wieder in den Griff gekriegt.«
»Panikattacken -?«
»Ja, nachdem ein durchgeknallter Amokläufer ihn über Bord geworfen hatte, als Colin ihn festnehmen wollte.«
»Großer Gott!«
»Wir haben das Schiff sofort gestoppt und ihn auch relativ schnell gefunden, weil es zum Glück am Tag passiert ist. Aber danach hatte er seinen Schaden weg. War schon die eine oder andere Haifischflosse über den Wellen zu sehen, das hat ihn halt irgendwie geschafft. Haifische haben es ja so an sich, dass sie den Passagierschiffen folgen. Sie mögen die vergammelten Lebensmittel, die regelmäßig über Bord gehen.«
»Jochen?«
»Mhm?«
»Du verarschst mich aber momentan kolossal, oder?«
Jochen zuckte die breiten Schultern, ohne auch nur im Geringsten beleidigt zu sein. »Alle sagen das an der Stelle, das weiß ich von den anderen Jungs. Aber frag einfach den Käpten.«
»Ja, klar, den Käpten! Mit dem wollt ich schon lange mal eine ausgiebige Männerrunde quatschen. Mann - ! Meinst du, ich möchte freiwillig auf der Osterinsel an Land gesetzt werden und dort warten, bis die ›Symphony‹ nächstes Jahr wieder vorbeikommt?«
»Och, ich weiß gar nicht, ob wir diesmal die Osterinsel anlaufen. Und so streng ist er auch wieder nicht. Ich glaube, fragen könntest du ihn schon. Obwohl, das dürfte ein sensibles Thema bei ihm sein. Also glaubst du lieber doch einfach deinem grundehrlichen Kollegen.«
»War das wirklich ernst gemeint, dass du auf unseren Toten so reagiert hast?«
»Wie - reagiert?« Jochen war heute zum Spielen aufgelegt. Womöglich auch nicht ganz ausgelastet nach der ersten Hälfte der Schicht, die er wie Adam gerade hinter sich gebracht hatte.
»Ja - als würde da halt was nicht stimmen mit diesem Todesfall, das eben.«
»Jeder Todesfall auf diesem Schiff ist potenziell verdächtig. Aber wenn der Doc meint, das war nur ein Dosierfehler...«
»Kann er ihn eigentlich aufschneiden, hier an Bord? Also, eine Obduktion vornehmen?«
»Gott bewahre! Den geheiligten Operationsraum mit Leichen zu verunreinigen... Und ich glaube auch nicht, dass er dazu ausgebildet ist.«
»Wieso? Die müssen im Vorphysikum doch auch an Toten herumschnippeln. Also sollte er das können.«
»Hey, was du alles weißt!«
Aufpassen, Adam! »Hab' ich von einem ehemaligen Schulkameraden gehört, und der hat dann auch das Handtuch geschmissen und das Medizinstudium obendrein, weil's ihm arg vor den eingelegten Leichen gegraust hat. Danach hat er, glaub ich, bei einem Paketdienst angefangen.
Oder als Pizzafahrer bei einer Fastfood-Kette. Weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr genau. Aber nochmal: Kann der Doc nicht obduzieren, darf er nicht - oder mag er nicht?«
»Vielleicht mag er nicht, weil er auch ohne das schon alle Hände voll zu tun hat. Das ist übrigens ein ganz netter, also stress ihn nicht zu sehr.«
»Weiß ich, und werd ich nicht. Ich war ja schon mit ihm da oben bei dem Leichenfund.«
»Und er ist seit dem Stapellauf dabei. Ellen übrigens auch, obwohl das nur die wenigsten so lange aushalten.«
»Wer?«
»Na, die Krankenschwester.«
»Ach so, ja. Die mit der wilden Frisur.«
»Hey, Adam, ich glaub glatt, die ist noch solo. Die würde doch prima zu dir passen, oder?«
»Nein, du. Mit den Frauen bin ich durch, ein für allemal. Ist mal was gewaltig schiefgelaufen, frag erst gar nicht.«
»Schiefgelaufen?« Jochen erstarrte regelrecht. Bis auf seine Augen: Die nämlich folgten schreckgeweitet einer imaginären Linie geradewegs unter die Tischplatte.
»Nein, du Scherzkeks! So schiefgelaufen auch wieder nicht. Einfach mehr seelisch, verstehst.« Jetzt wurde er lauter, damit der Dödel vor ihm es endlich kapierte: »Enttäuschte Liebe halt, Menschenskind! Die Braut hat mich abgezockt und dann fallen gelassen.«
»Ach so! Sag das doch gleich, hab mich direkt erschrocken. Aber...« Übern Tisch hinüber klopfte er Adam auf die Schulter. Seine Arme waren verhältnismäßig so lang wie der Rest seines Gestells und der Tisch verhältnismäßig so knapp bemessen wie alles im Personalbereich des Schiffes. »...auf Regen folgt Sonne, oder?«
»Ich hab Sonnenallergie,« maulte Adam.