Читать книгу "In der Klapse" - Inge Müller-Keck - Страница 9

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Jella

Zu den Einzeltherapiestunden kamen noch massenhaft Gruppentherapiestunden dazu. Diese GT- Stunden sind in etwa einem Rodeo-Ritt gleichzusetzen. Sie fielen mir besonders schwer. Gleichzeitig jedoch waren sie hochinteressant. Zu Beginn werden jedem Newcomer die Gruppenregeln erklärt, an die sich jeder Teilnehmer zu halten hatte. In meiner GT-Gruppe wurde die Regelung „alle Probleme sind gleichwertig“, mit in den Regelkatalog aufgenommen. Die Teilnehmer hatten sich das so gewünscht.

Ich als Frischling erlebte die einzelnen Mitglieder im Umgang mit den Problemen der anderen Patienten aber überhaupt nicht so. Es verwirrte und verunsicherte mich, die Regelung wurde in keinster Weise umgesetzt. Sehr schnell bekam ich mit, dass die Gruppe sich überhaupt nicht grün war. Jeder hatte an Jedem etwas auszusetzen, es ging einige Male hoch her. Nach den Stunden war es leicht mitzubekommen, wie über einen Patienten gelästert wurde. Man musste nur den gleichen Weg gehen. Ich fühlte mich völlig deplatziert und überhaupt nicht wohl. Ein Männchen in meinem Kopf riet mir den Mund zu halten und acht zu geben, dass ich aus der Nummer unbeschadet rauskomme. Noch mehr Theater um mich herum konnte ich nicht ertragen. Also versuchte ich mich als Neutrum so unsichtbar wie möglich in den GT-Stunden zurechtzufinden. Leider hatten die Therapeuten eine andere Auffassung und so wurde ich direkt angesprochen oder nach meiner Meinung gefragt. Die studierten Grillmeister liebten das provozierende Nachfragen und ein paar Mal hätte ich lieber eine Handvoll Dreck gegessen als mich dem Druck auszusetzen.

Ein Gruppenmitglied, Jella, jammerte in den ersten zwei Tagen sechs Mal in meine Richtung, wie schade es doch sei, dass die Gruppe sich jetzt ändere, sie käme damit gar nicht klar. Sie sei jetzt so traurig, dass neue Patienten dazu kämen. Dabei unterstrich sie ihre Aussage pathetisch, sie drückte ihren Handrücken an die Stirn. Nun gut, meine pathetische Geste wäre in gesunden Zeiten vermutlich mit einem Fingerzeichen erledigt gewesen, aber ich war ja in der Knallerbergklinik und selbst waidwund, gesunde Reaktionen waren von mir nicht zu erwarten. Beklommen und unsicher entschuldigte ich mich für mein „Hier sein“ bei Jella.

Recht schnell begriff ich aber, dass es bei ihr immer was zum Stöhnen, Jammern und Klagen oder eine Krise gab. Egal, was ihr an diesem Tag begegnete, irgendetwas gab es immer, was sie beklagenswert fand und besprechen musste. Hauptsache, die Erde drehte sich um ihre Befindlichkeiten. Ich erlebte sie als ein Sensibelchen der allersensibelsten Art, die mimosigste Mimose überhaupt, allerdings bissig wie ein Terrier bei der kleinsten Hinterfragung zu ihrer Person. Da war aber der Teufel los, da schossen aber Hassblicke durch die Gegend. Aber auch diese Dinge brachte sie mit in die Gruppentherapiestunden ein. Für Jella war ich zum Glück uninteressant und so geriet ich nicht in ihren Fokus, wenn ihr wieder jemand von der Gruppe vermeintlich Unrecht getan hatte. Zwei Mal sezierte und filetierte sie Mitpatienten in der Runde, Auslöser war jedes Mal eine Nichtigkeit. Ich bin mir sicher, der Teufel saß in einer Ecke und lernte bewundernd dazu. Die ganzen Wasserglasstürme gingen an mir vorüber und ich war nicht involviert. Halleluja! Für mich war klar: Wenn Jella nach rechts ging, ging ich nach links, wenn sie in den Leseraum kam ging ich raus, nein, die Frau roch nach Ärger und das war das letzte was ich wollte.

Während der Gruppentherapiestunden erzählte sie einmal von ihren starken Gleichgewichtsproblemen und wie sie sich zum Schuhe anziehen stets an die Wand lehnen müsse. Sie könne kaum einen Schritt ohne Festhalten tun. Zwei Stunden später sah ich sie, herausgeputzt und sicher auf hohen Hacken stehend, zum Feierabendbier in die nahegelegene Kneipe stolzieren. Ich hörte, sie hätte einen gesunden Zug beim Trinken und die ersten zwei Bierchen fänden recht schnell ihren Weg. Medizinisch betrachtet verbesserten diese den Stand sicher nochmals um ein Vielfaches. Auch die ewigen Schmerzen, begleitet von Gestöhne und Jammern, waren am Abend wie weggeblasen.

Magie lag in der Luft. Jella fand jeden Abend pünktlich nach dem Abendessen auf wundersame Weise ihr Gleichgewicht wieder, ein Wunder!



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