Читать книгу Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause - Inge Stender - Страница 5

Der Koffer

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Er sieht aus, wie einer, der den Krieg überlebt hat, ähnelt in seiner schäbigen Leichtigkeit und seiner bräunlichen Farbe dem Pappkoffer, den du als sechsjähriges Kind unter dem elterlichen Bett entdecktest, als du noch nicht verstandest, wozu die handbreiten Stoffstreifen mit Knopflöchern an beiden Enden taugten oder die runden Holzformen in Menschenkopfgröße. Letztere dienten zum Hütemachen, das sahst du später mit eigenen Augen, als die Mutter darauf Filz dämpfte und einen Hut entstehen ließ. Sie war Putzmacherin, was nicht hieß, dass sie putzen ging, sie fertigte Hüte und putzte sie mit verschiedenen Schnörkeln und Federn aus, manchmal mit asymmetrischer Krempe, ähnlich dem Hut mit langer Feder von Robin Hood aus deinem Bilderbuch.

Dass es sich bei den sonderbaren Stoffstreifen um selbstgenähte Damenbinden handelte, die die Mutter in den Nachkriegsjahren noch immer benutzte, die nach Gebrauch in einem Zinkeimer mit kaltem Wasser in der Waschküche lagen, abgedeckt mit einem grauen Aufnehmer, erfuhrst du durch deine Schwester, die das blutige Geheimnis früh entdeckte. „Wusstest du, dass Frauen einmal im Monat bluten? Sonst können sie nämlich keine Kinder kriegen.“

„Du spinnst“, hast du lakonisch geantwortet und dich im Hochgefühl deiner geistigen Überlegenheit gesonnt. Du warst immerhin schon zwölf, sie elf.

„Doch, das stimmt, die Mama hat es gesagt.“

Die Bemerkung war dir nicht einmal einen Streit wert, denn die Klügere gibt nach, wie deine Mutter immer wieder betonte. Und das warst du, nicht nur die Ältere, sondern auch die Klügere. Dass du den Spruch sonst nur doof und ungerecht gefunden und dich bisher nie daran gehalten hattest, war dir in dem Moment entfallen. Deine Schwester hatte Schulschwierigkeiten, das war eine Tatsache, hatte schon den ersten blauen Brief bekommen, war schwer von Begriff. Es war sogar von Nachhilfe die Rede gewesen. Beim Abendessen hatte die Mutter nach einem Elterngespräch mit der Klassenlehrerin zum Besten gegeben, was sie über deine Schwester gesagt hatte: „Komm`ste heut nicht, komm`ste morgen, übermorgen komm`ste ganz bestimmt.“

Wie recht die Frau doch hatte! Deine Schwester war eine Schnecke, saß die meiste Zeit auf ihrem dicken Hintern, spielte am liebsten Mutter und Kind mit Nachbarskindern und war sonst zu nichts zu gebrauchen. Wenn ihr beide wegen Regenwetter nicht raus konntet, war Streit vorprogrammiert. „Die Klügere gibt nach!“ Wie oft hattest du den Satz gehört, wenn deine Schwester heulend zur Mutter gelaufen war.

Aber, dass diese Heulsuse einmal in ihrem Leben mehr gewusst hatte als du, wäre dir nicht im Traum eingefallen. So bist du bis zu deinem 13. Lebensjahr unschuldig geblieben in Bezug auf das geheimnisvolle Phänomen der Frauwerdung. Um so härter traf dich dann deine erste eigene Blutung. Du erinnerst dich heute noch genau. Du bist vom langen Schulweg deines Mädchen-Lyzeums nach Hause gekommen und fandest eine schmierige, schwärzliche Schicht in deiner Unterhose vor. Obwohl du erschrakst und zuerst an Krankheit dachtest, fiel dir sonderbarerweise unmittelbar darauf ein, was deine jüngere Schwester einmal behauptet hatte, was du aber mit vollster Autorität der älteren damals als spinnerte Idee verworfen hattest. „Frauen bluten einmal im Monat, sonst können sie nämlich keine Kinder kriegen.“ Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Deine erste Menstruationsblutung war ein Schock. Das aufgestörte Verhalten der Mutter war dir keine Hilfe. Sie legte dir eine Art Gürtel um, woran besagte Stoffbinde geknöpft wurde, murmelte etwas von du würdest jetzt zur Frau werden. Wen interessiert das? Da deine Blutungen sehr bald schon heftig wurden, lang anhaltend in einem regelmäßigen 28-Tage-Zyklus, wurden dir dicke Zellstoffbinden gekauft. Wenn du bei Schulausflügen deine Tage hattest, zogst du noch eine Gummihose über; eine Qual an heißen Sommertagen. Du kamst dir vor wie ein Säugling in Windel. Aber, was solltest du machen? Bei längeren Wanderungen, wenn stundenlang keine Toilette in Sicht war, konntest du die vollgesogene Binde nicht wechseln. Wo hättest du sie auch lassen sollen? Einfach in den Busch oder hinter den Baum schmeißen? Das kam überhaupt nicht in Frage. Du stelltest dir immer vor, was andere Spaziergänger oder Kinder wohl dächten, wenn sie das blutige Corpus delicti fänden?

Du hast dich nie mit dieser überfallartig eingetretenen Bluterei, jeden Monat aufs Neue, ausgesöhnt. Du fandest sie widernatürlich und du fühltest dich ausgetrickst, wusstest aber nicht von wem. Auch als Erwachsene hast du der Mensis nichts Positives abgewinnen können. Das Kinderkriegen fandest du schon als Dreizehnjährige als für dich unpassend. Der sonderbare Hinterhalt, das irgendwie betrogene Gefühl bei deiner ersten Blutung, hinterließ eine seelische Narbe, die solange schmerzte, solange du dich mit deiner starken Menstruationsblutung abplagen musstest. Es sollten 37 Jahre werden.

Auch körperliche Narben erlittest du in deiner Kindheit, wie die an der linken Wade, nachdem du beim Rennen gegen die Kante eines verrosteten Blechs, das eine Kalkgrube abdeckte, geraten warst: der gemusterte Kniestrumpf rot vor Blut, bis kein Muster mehr zu erkennen war. Seltsamerweise schreckte dich dieses Blut nicht, denn du machtest noch den Einkauf für die Nachbarin, weil du keinesfalls auf die 30 Pfennige verzichten wolltest, die dir versprochen worden waren. Die waren nämlich drei Brausewürfel oder –tütchen, sowie drei Tütchen Salmiakpastillen, oder – was für ein Schatz! – fünfzehn Kirschlutscher wert. Danach erst nach Hause, wo die Mutter fast in Ohnmacht fiel, weil sie kein Blut sehen konnte. Sie schickte den Opa mit dem Fahrrad, den Arzt holen, während sie weiter lamentierend nicht wusste, was sie machen sollte. Dann kam der Arzt, stellte seinen schwarzen Arztkoffer auf den Küchentisch, legte sich dein verwundetes Bein in den Schoß, zog den blutgetränkten Strumpf herunter, desinfizierte die Wunde, du musstest die Zähne zusammenbeißen, und klammerte den klaffenden Spalt mit vier Metallklammern. Du hast genau hingeschaut. Erinnerst du dich, dass dir dann doch genau viermal ein Klagelaut über die Lippen kam? Wie alt warst du damals? Vielleicht sieben oder acht.

Oder die Narbe mitten auf deiner Stirn, die man heute noch sieht. Du warst noch nicht in der Schule, deine Oma zog dich an der Hand mit, irgendwo hin, dein Blick aber wurde von etwas seitlich oder hinter dir gefesselt, also liefst du mit nach hinten gedrehtem Kopf weiter. Dann der Knall. Deine Stirn klebte an einem Laternenpfahl. Ob du da geschrieen hast? Du weißt es nicht mehr. Möglicherweise nicht, da der Schock dich betäubt hat. Oder die rasante Schlittenfahrt auf der Todesbahn, die sonst nur Jungen befuhren. Du dachtest, das kann ich auch; es wäre auch gut gegangen, hättest du nicht die Bauchlage zum erstenmal probiert, so wie die Jungen es machten. Es passierten gleich zwei Unglücke. Der Schlitten nahm ordentlich Fahrt auf, tolles Gefühl, dann bei einem Buckel flogst du kurz in die Luft, landetest wieder unsanft auf dem Schlitten, aber beim Festhalten geriet dein linker Daumen unter die Kufe und schon warst du drüber gefahren. Noch merktest du keinen Schmerz wegen der klirrenden Kälte. Plötzlich ein Schreck, du nähertest dich in hoher Geschwindigkeit dem Stacheldrahtzaun, der einen Bach unten im Tal eingrenzte, das hattest du von oben nicht sehen können. Wegen der ungewohnten Bauchhaltung auf dem Schlitten wusstest du nicht wie bremsen und fuhrst unter dem Stacheldraht in den Bach hinein. Du warst dabei vom Schlitten gerutscht, deine ganze Vorderseite klatschnass. Du stolpertest über glitschige Steine, deinen Schlitten zu fassen kriegen, trabtest traurig nach Hause. Der Weg war lang, das Wasser gefror am Mantel zu Eis und deine Laune sank auf Grundeis, da du wieder Ärger kriegen würdest. Vom verletzten Daumen sagtest du nichts. Immerhin bereitete die Mutter dir ein heißes Bad, da sie Angst wegen einer Lungenentzündung hatte. Für den Rest der Woche gab es Schlittenverbot. In einem unbeobachteten Moment holtest du dir die rosa Salbe aus England, die für alles gut war, und Verbandszeug, machtest dir vor dem Schlafengehen einen veritablen Verband, den du beim Aufstehen wieder abwickeltest, in deine Schultasche stecktest, zusammen mit einem dicken Klumpen rosa Salbe in Butterbrotpapier gewickelt. In der Straßenbahn auf dem Weg zum Lyzeum machtest du dir wieder den Verband, den du beim Heimkommen wieder entferntest. So hast du deine Schmerzen erfolgreich bekämpft, nur der Daumen ist bis heute im unteren Gelenk seltsam biegsam nach beiden Seiten hin geblieben. Da warst du 12 und besuchtest die Sexta.

Etliche weitere Narben zieren deinen Körper, besonders die Knie wurden oft in Mitleidenschaft gezogen, weil du über deine eigenen Füße stolpertest. Du hast immer geglaubt, dass das häufige Fallen daran lag, dass du so schnell hoch geschossen warst, deine Füße schon mit 13 Größe 43 erreichten und dir Herrenschuhe gekauft werden mussten. Aufrecht gehen und Füße heben fiel dir schwer. So latschtest du umher, als hättest du den Kummer der ganzen Welt zu tragen und der sei zu schwer für dich dünnen, langen Lulatsch, zu dem du in der Pubertät wurdest. Und dann fielst du wieder hin, weil du in die Gegend schautest und die Hindernisse vor deinen Füßen nicht wahrnahmst. An Schmerzen kannst du dich nicht erinnern, wohl aber an das Lustgefühl, den juckenden Schorf abzupulen.

Seltsam, was für Erinnerungen ein schäbiger Koffer heraufbeschwören kann! Erinnerungen, die du schnell wieder vergessen willst. Auch die an das Mädchen-Lyzeum Unter den Buchen willst du lieber verdrängen, obwohl du eine gute Schülerin warst. In der Oberstufe nanntet ihr die Anstalt KZ unter den Buchen. Die Sitten waren streng damals Ende der Fünfziger. Lehrer, unter ihnen wenige weibliche Lehrkräfte, pflegten mehrheitlich einen autoritären Erziehungsstil. Vielleicht war sogar der eine oder andere Nazi darunter. Aber das konntest du mit 12 und 13 noch nicht erkennen, doch der Stil war dir vertraut, von deinem Vater, der Hitler glorifizierte, weil er die Autobahnen hatte bauen lassen und die Arbeitslosigkeit bekämpft hatte. Später dann hast du gegen deinen Nazi-Vater opponiert, auch wenn er nur einer der vielen Mitläufer gewesen sein mochte. Von der Rassenideologie und der millionenfachen Judenvergasung erfuhrst du erst im Religionsunterricht am Lyzeum. Im Geschichtsunterricht seid ihr später nur bis Bismarck gekommen. Deine Eltern wollten davon wie die Mehrheit der Deutschen nichts gewusst haben.

Nein, dieser Koffer zu deinen Füßen, steht nicht im elterlichen Zimmer des teilweise ausgebombten Hauses im Ruhrgebiet, er steht auf dem Dachboden eines Studentenwohnheimes in Wuppertal und beschwört nur auf Grund seiner äußeren Beschaffenheit unangenehme Erinnerungen herauf. Schon lange hast du einen solchen Pappkoffer mit den verrosteten Schnappschlössern nicht mehr gesehen. Heute besitzt man Lederkoffer oder einen aus Kunstleder. Deiner ist blau, wahrscheinlich Kunstleder. Du glaubst nicht, dass deine Eltern dir einen teureren Koffer aus echtem Leder gekauft haben. War auch egal. Du bist nur froh gewesen, dass du deine wenigen Habseligkeiten in ihm unterbringen konntest, um nach Wuppertal zu deinem Theologiestudium aufbrechen zu können. Du hättest auch den alten Pappkoffer genommen, den die Mutter immer noch besaß, wenn das Geld für einen neuen nicht gereicht hätte. Du wolltest nur weg von einem Zuhause, in dem du dich nie zu Hause gefühlt hast.

Die unerwartete Reminiszenz an die Nachkriegsjahre in einer ausgebombten Stadt ist tatsächlich nur einem Koffer geschuldet. Aber, was macht der hier auf dem Dachboden eines studentischen Wohnheims, genauer der durch eine Sperrholzwand abgetrennten Etage für die fünf Theologiestudentinnen – euphemistisch Damenstift genannt - gegenüber ungefähr hundert männlichen Studenten, die jenseits der Sperrholzwand und in zwei weiteren Gebäuden auf der Hardthöhe, dem sogenannten Heiligen Berg als Interne wohnen? Alle Studenten müssen doch ihre Zimmer am Ende jedes Semesters räumen, weil in den Räumen der Kirchlichen Hochschule regelmäßig Tagungen stattfinden und die Zimmer für die Teilnehmer gebraucht werden. Welche frühere Studentin hat ihren Koffer hier gelassen und warum? Und welche Schätze mag er bergen?

Du stellst die Emailleschüssel mit deinen auf einer Elektroplatte ausgekochten Unterhosen auf dem Bretterboden ab, um sie über die Leine zu hängen. Aber vorher willst du den Deckel des Koffers öffnen.

Die Schlösser sind eingerostet, offenbar länger nicht geöffnet worden. Eine der früheren im Vergleich zu heute noch selteneren Studentinnen, eine der Pionierinnen der evangelischen Theologie hat ihren Koffer hier gelassen, aber warum? Du beginnst mit aller Kraft unter Zuhilfenahme deiner Fingernägel die Schlösser zu bearbeiten. Dass er abgeschlossen sein könnte, kommt dir nicht in den Sinn. Je mehr Widerstand du verspürst, umso mehr steigt deine Neugierde, zu erfahren, was eine frühere Kommilitonin an Kleidung oder vielleicht sogar Mitschriften von Vorlesungen hinterlassen haben mag. Wahrscheinlich eine Examenskandidatin, denn wer unter den Erstsemestern besitzt heute noch so einen Kriegskoffer?

Nein, zu dumm, so klappt das nicht. Schon ein Fingernagel abgebrochen.

Du erhebst dich, klopfst den Staub aus deinen Jeans und tust erst einmal, was du ursprünglich hast tun wollen, als du hier heraufgestiegen bist. Hängst also deine Unterhosen auf die Leine. In Gedanken nur mit dem vertrackten Problem des Kofferöffnens beschäftigt, lässt du in der Eile gleich zwei Wäschestücke in den Staub fallen. Egal, du hängst sie wieder auf. Vielleicht lässt sich der Staub nach dem Trocknen einfach ausklopfen.

Du steigst in die Kaffee-Küche hinunter und findest tatsächlich den Torso eines Messers mit abgeplatztem Bakelitgriff in der Schublade der kleinen Spüle.

Einmal gehebelt, das Schloss springt mit einem metallischen Klicken auf, jetzt das zweite, mit dem Messer gar kein Problem. Deckel aufgeklappt! Hoffentlich kommt niemand in die Küche und hört dich hier oben rumoren. Du willst dich auf keinen Fall beim Vergreifen an fremdem Eigentum erwischen lassen.

Oooha...! Keine Kleidung, nein, Bücher, ein Koffer voller Bücher! Sofort denkst du an dein bescheidenes Stipendium; Fachliteratur käme dir gerade recht. Da stockt dir der Atem und du fühlst Röte in dein Gesicht steigen.

Masters und Johnson, Die sexuelle Reaktion. Dann ein dicker Band mit dem vielversprechenden Titel Studentensexualität. Ein Tropfen fällt auf das Buch. Du wischst mit dem Arm über deine schweißnasse Stirn. Gott, ist das heiß hier oben! Du beginnst hektisch zu wühlen. Alfred Charles Kinsey, Das sexuelle Verhalten der Frau und des Mannes in einem weiteren Band. Margaret Mead, Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften. Und von der gleichen Verfasserin ein zweites in Englisch, Male and female. Du stapelst Türme neben dem Koffer und alles wieder zurück. Achtest auf die richtige Reihenfolge. Erschrickst vor deiner eigenen hechelnden Atmung, unterdrückst krampfhaft mit zweimaligem Schlucken den aufkommenden Husten. Aus den Büchern ist eine Staubwolke entwichen. Wahnsinn! Unglaublich! Lauter Sexbücher, Aufklärungsschriften, sexuelle Ratgeber. Du kennst außer Margaret Mead keinen der Autoren, greifst dir die beiden oberen Bücher, legst sie in die nun leere Plastikschüssel, verschließt den Koffer und beeilst dich, ungesehen in dein Zimmer zu gelangen.

Wie peinlich wäre es, wenn Christiane, die Pietistin aus dem Siegerland dich mit den beiden Büchern erwischen würde. Sie ist immer so übertrieben freundlich mit ihrem eigenartig mildtätigen, christlichen Lächeln auf den Lippen, als müsse sie ihrem Namen alle Ehre machen. Sie würde sich bestimmt erkundigen, was du da lesen willst, sich bekreuzigen und schnell abwenden. Jutta, weniger altbacken, die Bürgerliche mit dem schicken Karmann Ghia, die Tochter aus gutem Hause, die einzige unter allen Studenten mit eigenem Auto, das gehörigen Neid erregt, wäre vielleicht nicht so pikiert, würde sie dich mit der aufregenden Lektüre erwischen. Ihr traust du durchaus zu, dass sie sich interessiert an deinem delikaten Bücherschatz zeigen könnte. Aber, wer kann hinter die Fassade eines Menschen schauen? Jutta wirkt fröhlich, offen, aber nach erst vierzehn Tagen kennt man sich noch nicht wirklich gut. Ihr Vater sei Journalist und hielte sich oft im Ausland auf. Sie scheint ein sehr enges Verhältnis zu ihm zu haben und vermisst ihn oft. Schreibt ihm auch jede Woche mindestens einen Brief. Das hat sie schon preisgegeben. Man stelle sich vor, sie schriebe ihm von den Sexbüchern, und der machte daraus eine Schlagzeile: Theologiestudentin klaut Sexbücher! Skandal an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal.

Aber zum Glück kommst du unbemerkt in dein Zimmer und legst die heißen Bücher mit dem Deckblatt nach unten auf deinen schmalen Schreibtisch. Ein Blick auf deine Armbanduhr – herrje! Das Abendessen in der Mensa hat längst begonnen. Deshalb ist dir niemand begegnet. Jetzt aber schnell! Hoffentlich haben deine Männer dir etwas übrig gelassen.

Deine Holzsandalen klappern auf den Treppenstufen. Du nimmst eine Abkürzung über den Rasen, fliegst an Haus II vorbei und betrittst außer Atem die Mensa. Du streichst dir über die linke Wange; ja, wieder heiß geworden und natürlich rot angelaufen. Kein Wunder bei dem aufregenden Fund und deinem Sprint. Du hasst es, dieses Rotwerden, aber bei so hellhäutigen Typen wie bei dir liegen feinste Blutgefäße dicht unter der Haut, erweitern sich beim geringsten Anlass und schon glüht man. Deine alte Biolehrerin hat dir das erklärt, als du mal wieder bei einer Falschantwort rot angelaufen bist. Aber die wissenschaftliche Erklärung hat dich nicht beruhigt. Zumal unklar bleibt, warum sich immer nur deine linke Gesichtshälfte oder auch nur dein linkes Ohr dermaßen verfärbt. Lieber wäre dir eine dunkle, sonnengebräunte Haut, die nicht sofort jede Emotion verrät, so wie die von Jaime, dem Portugiesen an deinem Tisch, der dir jetzt entgegenblickt und einladend den Stuhl zu seiner Rechten vorzieht.

„Danke! Habt ihr mir noch was übrig gelassen?“ Dein schneller Blick über den Tisch erfasst den leeren Brotkorb, aber noch ausreichend Salami und Käse.

„Ich hol Nachschub“, bietet da schon Matthias an, alias Rübezahl, wegen seines roten Vollbarts.

„Hier nimm die Kanne, der Tee ist auch alle.“ Der schüchterne Hubert ist aufmerksam wie immer. Er beteiligt sich selten von sich aus an euren lebhaften Tischgesprächen, hört aber immer sehr gut zu, was sich beweist, wenn er dezidiert um seine Meinung gefragt wird. Dann vermag er die bisher geäußerten Gedanken kurz zusammenzufassen und fügt entweder einen eigenen hinzu oder schließt sich einer schon geäußerten Meinung an. Wegen dieser Fähigkeit hat er den Spitznamen der Professor erhalten.

Ehe Matthias mit dem Brot zurück ist, hast du dir schon eine Käsescheibe gerollt und in den Mund gesteckt. Plötzlich bist du hungrig wie ein Wolf. Auch eine Salamischeibe verschwindet blitzschnell in deinem Mund.

„Na, na, in der allergrößten Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot“, sagt Hans, der neben dir sitzt und so tut, als müsse er der Kleinen Manieren beibringen. Dabei bist du größer als er, nennt dich aber gerne unsere Kleine, weil du ihn an seine kleine Schwester erinnerst, hat er mal behauptet, als du dich beschwert hast. Er ist ein unermüdlicher Sprücheklopfer, bringt damit alle zum Lachen. Nur zu dem Schlüssel, den er immer um den Hals trägt, ist ihm noch kein dummer Spruch eingefallen, dazu schweigt er. Nachdem Matthias gesagt hat, dass jeder Mensch ein Geheimnis brauche, ist der Schlüssel kein Thema mehr unter euch.

Matthias kommt zurück, balanciert den Brotkorb wie ein Kellner auf einer Handfläche, stellt ihn vor dir auf den Tisch und schenkt dir Tee ein.

„Haben Majestät noch einen Wunsch?“

„Danke, nein. Lass mich nur essen.“

Du hörst Stühle rücken, sich entfernendes Gemurmel, die Mensa beginnt sich zu leeren; du bist glücklich, dass deine Männer dir noch weiter Gesellschaft leisten, obwohl sie fertig sind mit essen. Wie hat sich doch die Hausmutter nach den ersten Tagen gewundert, dass du nicht mit den vier anderen Damen an einem Tisch sitzt, sondern dich an diesen Männertisch gesetzt hast, wo du sofort willkommen geheißen worden bist. Ob die Hausmutter das mitgekriegt hat, weißt du nicht, wohl aber, dass sie deine Sitzplatzwahl nicht billigt.

„Fräulein Gerber, fürchten Sie sich denn nicht mit lauter bärtigen Männern am Tisch?“

Da erst hast du es bemerkt, an keinem der anderen Tische sitzen bärtige Studenten, allesamt gut rasierte und ordentlich gekleidete Bürgersöhne.

„Nein, ich werde hier gut behütet, kein Problem.“ Und das ist die Wahrheit gewesen. In der Liga der bärtigen Außenseiter fühlst du dich von Anfang an wohl und seltsamerweise selber nicht mehr als solcher wie all die Jahre am Mädchen-Lyzeum als einziges Arbeiterkind unter Töchtern von Rechtsanwälten und Ärzten. Als schwarzes Schaf unter lauter schwarzen Schafen fühlst du dich zum ersten Mal nicht mehr fehl am Platz.

„Gehst du gleich mit zur Andacht?“ Das ist Jaimes Stimme. Du blickst auf und siehst, dass Jaime Hubert meint.

„Nein, ich muss noch Griechisch für morgen machen.“

Das musst du tatsächlich auch noch. Eine prima Ausrede, sollte dir gleich Christiane über den Weg laufen, die dich schon mehrmals aufgefordert hat, sie zur Andacht zu begleiten oder zum Bibelkreis. Du hast bisher immer abgelehnt. Dir gefällt der missionarische Eifer nicht, den Christiane versprüht. Hätte Jaime dich gefragt, du wärst mitgegangen.

Zum Glück besucht Christiane als Zweitsemester den Griechisch II-Kurs und nicht den Anfänger-Kurs, sonst wäre es unvermeidbar, sie jeden Morgen um acht Uhr zum Unterricht in den Hörsaal zu begleiten, denn bestimmt würde sie solange auf dem Flur verweilen, bis du aus deinem Zimmer kämest. Kaum sagbar wie sehr du diese fürsorgliche Ader der Älteren hasst. Jutta ist auch bei Dr. Kaiser im Kurs, geht aber immer mindestens zehn Minuten früher in den Hörsaal hinunter, der genau unter dem Damenstift liegt. Du dagegen neigst zum Zuspätkommen, eine Unart, die du mit Hans teilst, den du oft genug morgens von Haus II über den Rasen angerannt kommen siehst. Rainer verschläft oft ganz und lässt sich die Hausaufgaben später von dir oder einem der anderen geben. Hubert und Jaime besuchen als Zweitsemester den Folgekurs und Matthias ist als Drittsemester als einziger mit Griechisch durch und quält sich mit Hebräisch ab.

„Mit dem griechischen Alphabet hatte ich keine Probleme, aber die hebräischen Buchstaben beherrsche ich noch immer nicht“, stöhnt er, wenn ihr euch beim Mittagessen trefft. „Außerdem begreife ich dieses merkwürdige Punktierungssystem nicht. Es soll uns angeblich helfen, Wörter überhaupt lesen zu können, denn Vokale gibt es nicht. Im Hebraikum kriegen wir sogar unpunktierte Texte. Das ist doch wirklich eine Schande“, schimpft er, wobei er seinen Rübezahlbart traktiert, als wolle er ihn abreißen. Manchmal schimpft er auch in rüder Gossensprache. Was nicht nur Jaime dazu bringt, die Augen erschreckt aufzureißen.

Da alle anderen noch keine Bekanntschaft mit der Sprache des Alten Testaments gemacht haben, auch nicht die AT-Vorlesung von Professor Niebusch besuchen, der auch Hebräisch unterrichtet, kann keiner mitreden, wenn Rübezahl am Tisch lautstark seinen Frust äußert. Daher erntet er zwar den einen oder anderen mitfühlenden Blick, aber euer Sprücheklopfer Hans lässt es sich nicht nehmen, einen passenden Spruch herauszuhauen: „Rübezahl, Rübezahl, vielleicht trafst du die falsche Berufswahl.“

Alle müssen lachen. Ihr findet, dass er wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Keiner sieht den künftigen Pastor in Matthias, der sein drittes und letztes Semester an der Kirchlichen Hochschule verbringt, hauptsächlich, um die alten Sprachen zu lernen, wie er behauptet, um danach nach Tübingen zu wechseln.

Merkwürdigerweise ist unter euch die Frage der Motivation für ein evangelisches Theologiestudium bisher einhellig nicht gestellt worden. Sie grenzt zu sehr an die Gretchenfrage und die wiederum zu nah an Gesinnungsschnüffelei. So denkst du. Und die anderen offensichtlich auch. Tatsächlich bist du froh darüber, dass deine Motive für dieses von Frauen in diesen Jahren noch höchst selten gewählte Studienfach nicht in Frage gestellt werden, denn du könntest bei dir keinen festen Glauben als Grund für dieses Studium verorten; nicht, wie Christiane, die ihre Glaubensüberzeugung wie eine Fackel vor sich herträgt, damit auch jeder sie leuchten sieht. Nur Jaime hat mal gesagt, dass er wie sein Vater später als Missionar, vielleicht nach Afrika gehen wolle. Diese Bemerkung haben alle kommentarlos hingenommen. Vielleicht, weil sonst niemand von euch diesen missionarischen Eifer besitzt, hast du gedacht.

„Wer kommt mit, einen Verdauungsspaziergang machen?“ Matthias schaut in die Runde, bis sein Blick an dir hängen bleibt.

„Ich muss auch noch Griechisch für morgen machen.“ Du bist ein bisschen traurig, denn wie viel lieber würdest du mit Rübezahl über die Hardthöhe spazieren.

„Professor, warum tut ihr beide euch nicht zusammen, du hilfst ihr heute mal, dann könnten wir anschließend alle noch einen drauf machen. Die Andacht ist dann auch zu Ende.“

Eine gute Idee von Matthias, denkst du und schaust zum Professor hinüber, der bisher noch keinmal in die Wicküler-Kneipe mit gegangen ist, die über einen schmalen Pfad, der sich durch etliches Gebüsch den Hügel bis auf halbe Höhe hinunter schlängelt und in kaum zehn Minuten zu erreichen ist. Dort hat bei deinem ersten Besuch einer der anderen Studenten auf dem leicht verstimmten Klavier Blues- und Boogiestücke gespielt. Er heißt Hannes, wohnt in Haus III und steht im Begriff eine Combo zu gründen. So viel hast du von Rainer erfahren, der Banjo spielt. Fehlt nur noch ein Schlagzeuger.

„Ja, wenn ich Hilfe hätte, könnte ich nachher mitkommen, das wäre spitze!“

Du schaust wieder zum Professor, der nun den Kopf hebt und dich anblickt. Wann reagiert er endlich? Betteln würdest du nicht. Du könntest auch Jutta fragen, das hast du schon ein-, zweimal getan.

„Himmel, hast du deine Sprache verloren?“ Matthias klopft dem Professor auf den Rücken, seine Stimme dröhnt durch die bis auf den Professorentisch geleerte Mensa, wo die Hausmutter sich leicht indigniert zu euch umdreht. Sie hält euch ihrer Miene nach zu schließen für junge Wilde, die entweder nicht in die Kirchliche Hochschule gehören oder noch gezähmt werden müssten.

„Nun sag was, oder hast du heute Abend schon was anderes vor? Wieder hinter die Bücher? Jungchen, du musst mal raus aus deinem Bau, ein bisschen Lebenserfahrung sammeln“, donnert Matthias` Stimme, „wie willst du denn sonst in der Welt später deinen Mann stehen?“

Matthias hat auch schon dir gegenüber diesen pädagogischen Ton angeschlagen, der so gar nicht zu ihm passen will. Er ist mindestens einen Kopf größer als Hubert, der zwar bestimmt 1,80 m misst, aber immer so gebeugt geht, dass seine Größe nicht auffällt. Aber mit seinem großen Kopf, dem immer verwegen strubbeligen roten Haar und dem langen Bart, sowie der Obelix-Figur wirkt Matthias weder wie ein Gelehrter noch wie ein künftiger Pfarrer. Du könntest ihn dir gut als Künstler vorstellen, Bildhauer vielleicht.

„Warum eigentlich nicht?“, äußert sich Hubert endlich. Diesmal hat er länger nachgedacht als sonst.

„Gut, abgemacht, dann sehen wir uns alle später in der Kneipe.“ Matthias grinst zufrieden und steht auf. Keiner widerspricht. Rübezahl hat als einziger Drittsemester uneingeschränkt das Sagen.

Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause

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