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Tod am Bismarckturm

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Bald wird die Sitzecke im Flur des Damenstifts nach dem Abendessen regelmäßig zum Griechisch Hausaufgabentreff umfunktioniert, bei dem Hubert seinem Spitznamen alle Ehre macht. Rainer und Jutta gesellen sich meist als erste zu dir und ihm. Ihr vier bildet den eisernen Kern dieser illustren Runde, die der Professor, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, geschickt dominiert, indem er seinen Wissensvorsprung als Zweitsemester unter Beweis stellt. Matthias hat wohl geahnt, dass ihm die Rolle des Pädagogen liegt, als er ihn anfänglich gebeten hat, dir einmal bei den Aufgaben zu helfen, damit du schneller fertig würdest, um mit den anderen Jungs noch in die Kneipe gehen zu können. Daraus ist binnen kurzem eine feste Gewohnheit geworden. Huberts angeborene Schüchternheit oder Höflichkeit gegen jedermann schützt ihn vor autoritärem Gehabe. Jutta platziert ihre Bücher und Unterlagen meist schon vor dem Abendessen auf ihren Sessel und hat oft knifflige Grammatikprobleme nachgeschlagen und gelöst, bevor die anderen vom Abendessen oder einem kurzen Verdauungsspaziergang bis zum Bismarckturm und zurück eintrudeln. Hans, der notorische Zuspätkommer, hat zur Belustigung aller immer eine gereimte Entschuldigung parat, wenn er überhaupt kommt.

„Zum Telefon gehetzt, mir den Fuß verletzt, hab bald genug, nur ihr werdet klug. Nein, ich will kein dummer Esel sein!“ Schon schmeißt er sich neben dir auf den einzig freien Sessel, dass die Sprungfedern quietschen, schreibt eilends die schon fertig übersetzten Sätze von dir ab und weiß selten Konstruktives außer Klugscheißerei zu eurer Übersetzungsarbeit beizutragen. Merkwürdigerweise wirkt er aber in der morgendlichen Griechischvorlesung bestens präpariert, schreibt auch passable Tests. Wahrscheinlich ist er das, was man einen Überflieger nennt, denkst du.

Einige Tage fehlst du in der Runde, schützt eine schwere Erkältung vor, lässt dir von Matthias abends einen Teller mit Butterbroten vor die Tür stellen, weil du angeblich früh schlafen willst. Tagsüber nimmst du an deinen Vorlesungen teil, den Hals mit einem Wollschal umwickelt, sprichst wenig, schreibst aber regelmäßig die Griechisch Hausaufgaben von Jutta ab, damit du nicht ins Hintertreffen gerätst. Die Sexbücher, die du aus dem Koffer mitgenommen hast, haben dich so sehr in ihren Bann geschlagen, dass du darin oft die halbe Nacht lesend verbringst. Morgens platzt du unausgeschlafen und ungefrühstückt verspätet in die Griechischvorlesung. Was Dr. Kaiser mit nur leichtem Stirnrunzeln zur Kenntnis nimmt. Er ist wahrscheinlich von den Schülern seines Gymnasiums in Elberfeld, wo er hauptamtlich unterrichtet, Schlimmeres als Zuspätkommen gewohnt.

Der fehlende Nachtschlaf tut sein Übriges, deine angebliche Erkältung glaubwürdig erscheinen zu lassen. Du hast Mühe, die fürsorglichen Bemühungen von Matthias abzuwehren, der dich zu einem Arzt schleifen will.

Mit glühenden Öhrchen tun sich dir bisher unbekannte Dimensionen menschlicher Sexualität auf, über Bisexualität beider Geschlechter, über Masturbation, die bei Männern weit verbreitet sei und bei Frauen, die, wenn sie vor der Ehe regelmäßig masturbierten, zu einer zufriedeneren Sexualität in der Ehe führe. Du schmökerst in Margaret Meads Sexualstudien südpazifischer Kulturen, erfährst, dass dort ein Kind viele Mütter hat und menstruierende Frauen in einer entfernt gelegenen Menstruationshütte leben. Dir wird ein paradiesisches Leben freier Naturkinder auf Samoa vor Augen gemalt, frei vom Druck puritanischer Erziehungsideale des Westens, statt dessen sei es auch den jungen Mädchen gestattet, ihre Sexualität frei zu erproben. Das klingt in deinen Ohren revolutionär. Die Naturvölker haben mit ihrer freieren Sexualität für beide Geschlechter demnach keine Probleme. Meads anthropologische Forschungen belegen, dass Geschlechterrollen nicht genetisch determiniert, wie bisher angenommen, sondern kulturell bedingt sind. Eine interessante These. Du hast dich schon öfter gewundert, wieso es für Jungen normal sein soll, weil es ihrer Natur entspräche, sich die Hörner abzustoßen, was schließlich heißt, sich beliebig Mädchen zum Sexualverkehr zu gestatten, dass Mädchen aber unberührt in die Ehe zu gehen haben. Wo sollten denn da plötzlich all die Jungfrauen herkommen? Der Widerspruch lässt sich nun wirklich nicht logisch und schon gar nicht genetisch auflösen. Seit der Oberstufe hast du speziell der Humangenetik misstraut, als du von der verheerenden Rassenideologie der Nazis zum ersten Mal hörtest. Deine Religionslehrerin war die einzige, die euch Fotos von Leichenbergen im KZ Bergen Belsen gezeigt und von sechs Millionen unter Hitler vergasten Juden gesprochen hat. Dein Vater dagegen hat Hitler wegen der Abschaffung der Arbeitslosigkeit und dem Bau der Autobahnen immer gelobt. Von Konzentrationslagern wollte er angeblich nichts gewusst haben.

Die wissenschaftliche Erkenntnis Margaret Meads, dass es überhaupt keinen sexuellen oder wie auch immer sozialen Determinismus gäbe, ist nun Wasser auf deine Mühlen.

Das sind derart staunenswerte Neuigkeiten, dass sich ein paar Tage simulierter Krankheit jederzeit rechtfertigten lassen, findest du. Du nimmst dir vor, Jaime auszuhorchen, ob er vielleicht schon wüsste, wo er seine missionarische Tätigkeit später ausüben will. Vielleicht hat er ja auch Südseeinseln mit ihren Naturvölkern im Sinn wie ehedem Gauguin auf Tahiti, obwohl die inzwischen bestimmt längst christianisiert waren. Aber darum geht es dir eigentlich gar nicht. Deine Neugier bezieht sich eindeutig auf die Frage oder Möglichkeit einer freien Sexualität. Außer mit Jaime, wüsstest du nicht, mit wem du darüber reden könntest, ohne dich gleich dem Verdacht eines zweideutigen oder besser gesagt eindeutigen Angebots auszusetzen. Jaime hat schon öfter überraschend unkonventionelle Meinungen geäußert, die dir imponierten. Außerdem, das musst du dir eingestehen, fühlst du dich von ihm seltsam angezogen, seit er dir in seinem Zimmer mit seiner wohltuenden Altstimme eines seiner Gedichte vorgetragen und ins Deutsche übersetzt hat. Es ging dabei um das Entstehen der Erde oder einer Vulkaninsel, du hast es nicht genau verstanden, weil seine deutsche Aussprache manchmal etwas abenteuerlich ist.

Er hat es dir erst in seiner Muttersprache frei vorgetragen, dich dabei mit seinen dunklen Samtaugen schier hypnotisiert. Du bekamst sofort Gänsehaut. Dann las er die deutsche Übertragung:

Mit Feuers Gewalt

ward Erde erhoben

sie kam zur Gestalt

zwischen Meereswogen

und stemmte sich stur

gen des Winters Kräfte

aus diesem Grund nur

da zog sie die Säfte

die das Leben braucht

zwar kämpfend und ringend

oft hitzig geraucht

doch gute Frucht bringend.

Wie er gleichzeitig sprechen und sich eine Zigarette an der nächsten anzünden konnte, ohne sich beim Inhalieren am Rauch zu verschlucken, blieb dir ein Rätsel. Dass er Kettenraucher ist, belegte die von Kippen überquellende große, rotgeäderte steinerne Schale, mit der man ohne Probleme jemanden hätte erschlagen können.

Weil du die rauchgesättigte Luft in seinem nicht sehr großen Zimmer – aber immerhin etwas größer als dein eigenes Kabuff – nicht mehr länger ertragen konntest, dich jedoch nicht trautest, ihn zu bitten, das Fenster zu öffnen, da ihn der Qualm anscheinend nicht störte, verließest du ihn früher als dir eigentlich lieb gewesen wäre. Dass er Gedichte schrieb, dass er sie dir vorlas, gab dir das Gefühl, erwählt zu sein. Du hast später Matthias gegenüber mal beiläufig erwähnt, dass Jaime ein Dichter sei, um zu erfahren, ob die anderen von seiner heimlichen Leidenschaft wussten. Hast aber nur ein „ach was?“ geerntet. Offenbar bist du die einzige, die er teilhaben lässt an seiner dichterischen Ader, denn wenn Matthias davon nichts gewusst hat, dann die anderen erst recht nicht.

Der tägliche Wollschal wird dir bald zu warm und du gibst deine Simulation auf. Die inzwischen verschlungenen Sexbücher hast du wieder in den Koffer zurückgelegt. Dein sexueller Aufklärungsbedarf ist fürs erste gedeckt. Jetzt müsste dein neues, theoretisches Wissen um geschlechtliches Verhalten im Allgemeinen und im Besonderen nur noch in Praxis umgesetzt werden können. Holde Theorie benötigt doch immer die Praxis als Korrektiv und umgekehrt. Das hatte schon Aristoteles gelehrt. Aber bist du überhaupt zu einer befreiten Sexualität fähig bei der restriktiven Sexualmoral deiner Generation? Wie könnte es dir gelingen, die Fesseln deiner verklemmten Erziehung abzulegen? Wäre eine sexuelle Revolution an der Kirchlichen Hochschule überhaupt denkbar? Du brauchst nur an diese christliche Lieder klampfenden Jünglinge aus dem Siegerland denken, die sich allabendlich im ESG-Zentrum versammeln, von denen du immer wieder angequatscht wirst, doch mal vorbeizuschauen oder nur an Christiane, die dir im Damenstift täglich vor Augen kommt und die immer so aussieht, als hätte sie ein Gebetbuch verschluckt und könne nicht anders als fromme Sentenzen ausspucken. In Anbetracht all dessen erscheint dir eine sexuelle Revolution an der KiHo wie ein Witz, über den niemand lachen kann.

Leicht verschämt gestehst du dir ein, dass Jaime dich erotisch anzieht. Nur darum interessiert dich das Thema so. Mit seiner olivefarbenen Haut, der schwarzen Haarpracht und dem gepflegten Kinnbart sieht er aus wie ein orientalischer Märchenprinz, hast du gedacht, als du dich gleich am ersten Tag ohne zu zögern auf den freien Platz zu seiner Rechten gesetzt hast, noch ehe du die anderen vier Männer überhaupt wahrnahmst. Dass er mindestens einen Kopf kleiner ist als du, bemerktest du erst beim Verlassen der Mensa. Das hat dich eigenartig wehmütig gestimmt. Der Märchenprinz und du, ihr könntet niemals ein Paar werden. Allein schon diese anerzogene Vorstellung, dass der Mann größer zu sein hat als die Frau, beweist ja ..., was eigentlich? Patriarchales Denken natürlich. Als ob sexuelle Anziehung der Geschlechter von der Körpergröße abhinge. Es ging und geht bei derartigen Regeln einzig und allein darum, die Frau zu ihrem Mann aufschauen zu lassen, damit der, als ihr Herr und Meister auf sie herab schauen kann. Die Frau hat dem Manne immer untergeordnet zu sein, äußerlich wie geistig. Hatte das nicht schon Paulus konstatiert? Du müsstest Jaime mal fragen, ob er weiß, aus welchem Paulusbrief diese überholte Forderung stammt. Dass Hubert dich bei den Griechischabenden oft länger mit verklärtem Blick anschaut, hat dir erst gestern Jutta eröffnet. „Ines, unser Professor ist verliebt in dich!“

„Red keinen Quatsch, der schaut immer wie ein Mondkalb.“ Nein, Hubertus ist lieb, hätte sogar die richtige Größe, kommt aber als Liebhaber nicht in Frage. Er ist dir zu wenig männlich. Du verscheuchst den Gedanken schnell wieder, hast schließlich dein Studium nicht begonnen, um dir hier einen Mann zu angeln, trotz der überwältigenden Auswahl. Aber, von einem Mann begehrt zu werden, gefällt dir ohne Zweifel. Welche Frau wünschte sich das nicht?

Ehe du dich in weitere erotische Fantasien verstricken kannst, geschieht etwas, das den Alltag an der Kirchlichen Hochschule plötzlich unterbricht. Und euer aller Verhalten beeinflussen wird.

Die Leiche einer PH-Studentin wird neben dem Bismarckturm gefunden. Ermordet!

Die PH liegt in Sichtweite der Kirchlichen Hochschule. Dort gibt es naturgemäß jede Menge mehr weibliche Studenten als bei euch. Möglicherweise sogar 100%. Jeden Tag seht ihr nun Polizeipatrouillen das Gelände abschreiten. Matthias verfügt mit Donnerstimme: „Du gehst nicht mehr alleine spazieren!“

„Aber, ich kann doch nicht immer warten, bis einer von euch Zeit hat, mich zu begleiten. Außerdem ist der Mörder durch die Polizeipräsenz bestimmt abgeschreckt und über alle Berge“, versuchst du Rübezahl abzuwehren, denn du hasst eine derartige Beschneidung deiner bisherigen Freiheit. Aber er lässt deine Argumentation nicht gelten, begleitet dich tagelang bei jedem Schritt, den du tust. Auf der einen Seite wirklich rührend, auf der anderen aber auch lästig. Wenn du ihn in einem Seminar weißt, das du nicht besuchst, machst du dich trotz seines Verbotes alleine auf. Er ist nicht mein Vater, er kann mir nichts verbieten. Ich gehe nur auf dem Hauptweg bis zum Bismarckturm, nicht über die Rasenflächen, die von Bäumen und Büschen, unter anderem einem Kirschbaum gesäumt sind. Da kann mir nichts passieren, jedenfalls nicht am helllichten Tag. Du musst dich einfach nach langem Sitzen in den Vorlesungen und Seminaren bewegen, brauchst auch beim Lernen die Bewegung, ganz wie die Stoiker, denkst du gerne, die in Athen zum Philosophieren extra eine Wandelhalle besaßen. Bald schon lässt du alle Vorsicht fallen, stiefelst wieder wie gehabt über die weichen Rasenflächen und wirbelst genussvoll mit den Füßen Herbstlaub auf. Aber als du bei deinem lautlosen Gehen plötzlich ein merkwürdiges Rascheln hinter dir hörst, bleibst nicht nur du stehen, sondern fast auch dein Herz. Nein, da war nichts, wahrscheinlich nur ein im Gebüsch pickender Vogel. Erleichtert gehst du weiter und schiltst dich schon Angsthase, als das Rascheln wieder anhebt. Kam es nicht auch näher als beim ersten Mal? Du beschleunigst deine Schritte, spürst Herzklopfen, schaust dich verstohlen um. Du überquerst den Rasen, so schnell du kannst und trittst reumütig den Rückweg auf dem gepflasterten Weg an, wo es deutlich heller ist.

Memoiren einer Tochter aus schlechtem Hause

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