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Kapitel 1

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Der Himmel war an diesem Morgen tiefblau und wolkenlos, als das Grauen ohne Vorwarnung über das Dorf hereinbrach.

Eine Fliege setze sich auf mein Gesicht und weckte mich. Ich verscheuchte das lästige Insekt und wühlte mich schweißgebadet aus dem Bett. Vor meinem offenen Schlafzimmerfenster hing ein verrostetes Thermometer. Es zeigte mit 27 Grad um acht Uhr morgens einen neuen Rekord für diesen Sommer an.

Ich trat an das Fenster und blinzelte nach draußen. Ein Schwall trockenheißer Luft traf meine Haut wie ein Fön. Das Gras in meinem immer noch verwilderten Garten hatte sich gelb verfärbt. Ich nahm mir erneut vor, endlich das Unkraut zu jäten und die Pflanzen rund um mein Haus zu wässern und hoffte, diesmal wirklich daran zu denken.

Ein stabiles Hochdruckgebiet lag seit einer Woche über der Eifel, was selten vorkam. Zuerst hatten sich alle im Dorf darüber gefreut, aber nun jammerten bereits die Ersten über die Hitze und vor allem über die anhaltende Trockenheit. Das Getreide würde bald verdorren, wenn kein Regen käme. Selbst die Halster, die dem kleinen Ort seinen Namen gegeben hatte, führte nur noch die Hälfte des sonst üblichen Wassers.

Das Schreckgespenst der Missernte schwebte drohend über dem Tal. Fast alle hier waren von der Landwirtschaft abhängig. Wenn die Einwohner des Dorfs jedoch gewusst hätten, was in den nächsten Tagen noch auf sie zukommen würde, hätten sie eine Dürre mit Freuden vorgezogen.

Ich schleppte mich zum Kühlschrank, um eine halbe Flasche Wasser leer zu trinken. Es half nichts, ich hatte den Eindruck, als würde mein Körper die Flüssigkeit sofort wieder aus allen Poren herausdrücken. Selbst eine kalte Dusche wollte kaum Linderung bringen. Als ich danach in den Badezimmerspiegel sah, starrte mich ein Gesicht an, das bereits von den ersten Falten durchzogen war und dessen braune Augen leicht gerötet waren. Ich streckte mir die Zunge heraus.

Den Versuch, meine dunklen Haare in so etwas wie eine Frisur zu bringen, gab ich bald auf. Es war mir egal, da ich annahm, dass mich heute ohnehin niemand sehen würde. Ich sollte mich gewaltig täuschen.

Mein Frühstück bestand wie immer aus einer Tasse starken Kaffee, bevor ich mich meiner täglichen Arbeit zuwandte. Ich restaurierte alte Motorräder. Dieser Tätigkeit ging ich nun seit fast einem Jahr nach. Im Dorf dachten alle, dass ich schon immer Mechaniker gewesen sei. Ich ließ sie in dem Glauben. Was ich in meinem früheren Leben gemacht hatte, ging niemanden etwas an. Ich wollte nicht, dass es jemand erfährt.

Zu meiner Arbeitsstätte hatte ich es nicht weit: Es war ein Holzschuppen in meinem Garten, der irgendwann einmal als Garage gedient hatte. Er war geräumig, so dass zwei Wagen bequem nebeneinander hätten stehen können. Doch ich hatte keine Autos in den Schuppen gestellt. Ich öffnete die quietschende Holztür und begab mich an die Reparatur eines vierzig Jahre alten Motorrads der Marke Triumph, das ich vor einigen Tagen in desolatem Zustand günstig gekauft hatte.

An einer Wand hing ein billiger Kalender, der sich als Beilage in einer Motorradzeitschrift befunden hatte. Im Vorbeigehen registrierte ich, dass wir den dreizehnten August hatten. Ein Tag wie jeder andere, dachte ich flüchtig.

Das musste ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, als Helmut Rodder verstört ins Dorf gestolpert kam. Ich erfuhr erst später im ‚Dorfkrug’, dass Rodder mit hochrotem Gesicht an einigen Leuten vorbei gerannt war, das Gewehr über der Schulter, und sein imposanter Bierbauch dabei wie wild tanzte. Die wenigen Dorfbewohner, die er traf, hatten ihm verwirrt nachgesehen, doch der Landwirt schien sie nicht einmal wahrgenommen zu haben. Schwitzend und keuchend hatte Rodder schließlich seine Haustür aufgestoßen.

Sein Anblick hatte ausgereicht, um seine Ehefrau Helga sofort begreifen zu lassen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wie sie wenige Stunden darauf aufgeregt in der einzigen Gastwirtschaft des kleinen Orts erzählte. Der Großteil der Dorfbewohner war bei ihrem schluchzend vorgetragenen Bericht anwesend, einschließlich meiner Wenigkeit.

„Vom Sporttreiben hat Helmut ja noch nie etwas gehalten, und dennoch ist er den ganzen Weg aus dem Wald bis zum Hof gerannt“, sagte sie aufgelöst.

Rodders Passion galt der Jagd, und er war bereits in der Morgendämmerung auf die Pirsch gegangen. Sein gepachtetes Revier grenzte unmittelbar an das Dorf, und bis zum Hochsitz waren es von seinem Bauernhof zwanzig Minuten Fußmarsch.

Dass Rodder zunächst mit seiner Frau kein Wort gewechselt hatte, sondern an ihr vorbei in das Wohnzimmer gestürzt war, um sich einen Schnaps zu genehmigen, wunderte mich nicht. Es war auch kaum der Erwähnung wert gewesen, denn jeder im Ort wusste, dass Rodder in einer alten Destille hinter seiner Scheune Wacholderschnaps brannte. Schwarz natürlich, aber das störte niemand, schließlich verkaufte er den Schnaps günstig an das halbe Dorf. Er selbst war jedoch sein größter Abnehmer.

„Helmuts Finger haben beim Einschenken gezittert wie Espenlaub“, erzählte Helga und demonstrierte das Zittern mit ihren eigenen Händen.

Ich saß nur zwei Tische weiter und beobachtete, wie sich ihre Augen langsam wieder mit Tränen füllten. Ihr Taschentuch war bereits völlig zerknüllt und durchnässt, dennoch betupfte sie sich erneut die Augenwinkel.

„Er hatte die Hälfte des Schnapses auf dem Boden verschüttet, und hat deshalb noch ein zweites Glas hinuntergekippt hat. Erst dann war er in der Lage mir zu sagen, was passiert ist.“

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wage sie es kaum auszusprechen. „Eine Leiche liegt beim Hochsitz, hat Helmut schließlich geflüstert. Es war fürchterlich!“

Helga Rodder wurde für einige Sekunden von ihren Gefühlen übermannt und schluchzte haltlos. Roswitha Schuster, die neben ihre saß, drückte ihr mitfühlend die Hand.

„Ich habe ihn gefragt, wer es sei, aber er hat erst ein drittes Glas gebraucht, ehe er mir sagen konnte, dass es Melanie ist.“

Alle Anwesenden hielten entsetzt den Atem an, obwohl sie es längst wussten. Aber die Schilderung von Helga Rodder machte ihnen erneut klar, dass das Böse Einzug in Halsterbach gehalten hatte.

„Du musst zum Jupp, habe ich ihm natürlich sofort gesagt!“, fügte Helga Rodder im inbrünstigen Ton noch hinzu, als hätte sie damit die einzig richtige Entscheidung getroffen.

Weshalb Rodder zuerst Josef Schuster, den Bürgermeister des Dorfes, benachrichtigte, konnte er einige Stunden später der Polizei nicht plausibel erklären. Ich hingegen wusste es: Man misstraute jedem, der nicht von hier stammte. Wenn es ein Problem gab, hatten die Halsterbacher die Angewohnheit, sich immer erst an „Jupp“ Schuster zu wenden. Auch wenn der Bürgermeister keine sonderlich große Leuchte war, so war er doch ungeheuer Pflicht bewusst. Tatsächlich war er der Einzige, der sich für das Amt, das er neben seinem Beruf als Landwirt ausübte, überhaupt zur Verfügung gestellt hatte. Er nahm es jedoch sehr ernst und gab sich stets Mühe, eine Lösung für ein ihm vorgetragenes Problem zu finden. Allerdings war seine Suche nicht immer von Erfolg gekrönt.

Innerhalb des Dorfs verlief der Informationsfluss wie eh und je hervorragend. Es verblüffte mich regelmäßig, wie schnell sich Vorfälle, aber auch Gerüchte in Halsterbach verbreiteten. Als ob jemand mit einem Megaphon durch den Ort laufen würde.

Helga Rodder hatte ihrem Mann das Telefon aus der Hand genommen, kaum dass er Jupp Schuster über die schreckliche Entdeckung in Kenntnis gesetzt hatte, und sie hatte Renate Kesseling angerufen. Diese führte zusammen mit ihrem Mann Klaus die einzige Bäckerei im Dorf, wo fast jeder Einwohner mindestens einmal am Tag auftauchte. Helga hatte ihrer Freundin Renate mit Entsetzen von der Neuigkeit erzählt. Innerhalb von einer Stunde wusste jeder im Ort, selbst die Bauern und Arbeiter, die auf den Äckern beschäftigt waren, dass Melanie Köhler tot im Wald lag.

Ich war gerade dabei gewesen, die Vergaser der alten Triumph Bonneville auseinander zu nehmen, als jemand gegen das Tor klopfte, und ehe ich antworten konnte, stand auch schon Hannes im Raum.

„Morgen, Marcus, alter Schrauber! Ich muss rüber in den Baumarkt, eine Ladung Holzlatten holen und könnte eine helfende Hand beim Einladen gebrauchen.“

Eigentlich hatte ich noch an diesem Vormittag mit den Vergasern fertig werden wollen, aber bei Hannes fiel es mir schwer abzulehnen. Er war es gewesen, der mir mein Leben in Halsterbach wesentlich erleichtert hatte. Am Anfang war ich gegenüber den Einwohnern noch sehr zurückhaltend gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. Als ich vor zwölf Monaten hierher gezogen war, erschienen mir alle Kontakte suspekt, und ich versuchte sie weitestgehend zu vermeiden. Die Erfahrungen, die ich in den beiden Jahren zuvor gemacht hatte, waren einfach zu schmerzhaft gewesen. Doch inzwischen mochte ich Hannes mit seinem dröhnenden Lachen. Der riesige Kerl war ein herzlicher Mensch, dem Freundschaft noch etwas bedeutete. Er hatte mich sozusagen unter seine Fittiche genommen und im Dorf eingeführt.

Ich legte den Schraubenschlüssel auf die Werkbank und versuchte vergeblich, mir die öligen Finger an einem ebenso verschmierten Tuch abzuwischen.

„In Ordnung“, nickte ich, „aber ich möchte mittags wieder hier sein, um die Triumph zusammenzubauen.“

„Wenn der Schrotthaufen seit zehn Jahren nicht mehr gelaufen ist, wird er es auch noch einen halben Tag länger aushalten“, erklärte Hannes bestimmt und schob mich aus dem Schuppen.

Es gab nur eine Durchgangsstraße in Halsterbach. Um zu dem zwanzig Kilometer entfernten Baumarkt zu gelangen, mussten wir zunächst das Dorf durchqueren. Ich saß auf dem Beifahrersitz des alten Mitsubishi Pajeros von Hannes. Er erklärte mir gerade, wie er seinen Dachstuhl weiter ausbauen wollte, als Oliver Barweiler, der Wirt des ‚Dorfkrug’, wild winkend auf uns zu gerannt kam. Hannes musste hart bremsen, um ihn nicht anzufahren. Er ließ das Seitenfenster runtersurren. Keuchend und mit geweiteten Augen stützte sich Barweiler am Dach des Geländewagens ab.

„Was ist los, Olli?“, fragte Hannes grinsend. „Habe ich meinen Deckel gestern Abend nicht bezahlt?“

Barweiler ignorierte die Frage. „Hast du es schon gehört? Die Melanie liegt tot im Wald.“

Wir sahen den immer noch schnaufenden Wirt fassungslos an.

„Sind Sie sicher?“, fragte ich.

„Ja, nein. Also, ich habe sie noch nicht gesehen.“

„Von wem wissen Sie es?“

„Helmut hat sie gefunden, sie liegt direkt neben seinem Hochsitz.“

„Scheiße!“, fluchte Hannes und drückte das Gaspedal durch, so dass der Wirt einen Satz rückwärts machte. Mich schmiss es gegen die Rückenlehne.

„Was hast du vor?“, fragte ich.

„Wir müssen sofort hin, vielleicht lebt sie noch! Helmut genehmigt sich auf seinem Hochsitz gerne mal ein paar Schnäpse, da würde ich mich nicht auf sein Urteilsvermögen verlassen, ob jemand wirklich tot ist.“

Ich brachte keinen Ton heraus. Es war genau das, wovor ich geflohen war. Ich fühlte, wie eine eisige Kälte mein Rückgrat entlang kroch. Doch ich hatte keine Wahl, wir fuhren zum Fundort einer Leiche.

Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit jagte Hannes den Geländewagen aus dem Dorf hinaus und bog nach hundert Metern in einen schmalen Waldweg ein, der eigentlich für Fahrzeuge gesperrt war. Es schüttelte uns heftig durch, da der Untergrund von Löchern übersät war, aber Hannes ging nicht einen Millimeter von Gas. Ich befürchtete schon, dass die bereits von reichlich Rost gezierte Karosserie einfach auseinander brechen würde.

Viermal bog er ab, ehe sich nach wenigen Minuten eine Lichtung von etwa dreißig Metern Durchmesser vor uns öffnete. Sie war umgeben von dichtem Laubwald und wuchernden Brombeerbüschen. Am Waldrand stand ein verwitterter Hochstand. Wenige Schritte davon entfernt lag eine leblose Gestalt im Gras. Die Halme standen gut zwanzig Zentimeter hoch und es war aus der Distanz nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder Frau handelte.

Hannes machte eine Vollbremsung. Wir sprangen gleichzeitig aus dem Wagen und rannten zu dem regloser Körper. Melanie lag auf der Seite, so dass nur ihre linke Gesichtshälfte zu sehen war. Ihr glasiges Auge starrte in unendliche Ferne.

Tote schweigen für immer

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