Читать книгу Tote schweigen für immer - Ingo Gach - Страница 4
Kapitel 3
ОглавлениеIch hielt mich aus dem sozialen Leben des Dorfes heraus, auch wenn ich mich deshalb manchmal selbst als feige empfand. Früher hatte ich menschliche Gesellschaft sogar ausgesprochen genossen. Ich hatte eine Menge Leute in Köln gekannt und mich gerne und oft mit ihnen getroffen. Doch dann hatte ich schmerzlich erfahren müssen, wie schnell man von Menschen, die man für Freunde gehalten hatte, fallen gelassen werden konnte. Seitdem mied ich neue Bekanntschaften. Ich gestehe, dass ich Angst hatte, erneut bitter enttäuscht zu werden und suchte deshalb die Einsamkeit. Misstrauen ist eine furchtbare Saat.
Als ich mit dem Ausbau von Hannes Dachboden anfing, bestand er am Abend darauf, mich im ‚Dorfkrug’ auf ein Bier einzuladen. Wir hatten den ganzen Nachmittag zusammen unter dem brütend heißen Dach verbracht, und Hannes hatte es immer wieder geschafft, mich, trotz der anstrengenden Arbeit, zum Lachen zu bringen. Ich hatte gute Laune, und deshalb kam mir in dem Moment die Vorstellung, mich wieder unter Leute zu begeben, gar nicht so schrecklich vor und willigte ein.
Erst als wir uns der Wirtschaft näherten, wurde mir auf einmal mulmig, und ich war mir nicht mehr sicher, ob dieser Schritt richtig war. Ich atmete tief durch und zwang mich, mir nichts anmerken zu lassen.
Der ‚Dorfkrug’ lag im Erdgeschoss eines alten Hauses, das wahrscheinlich schon beide Weltkriege überstanden hatte. Die Fassade war zwar irgendwann einmal neu verputzt worden, aber inzwischen bröckelte sie wieder unübersehbar ab. Die Fenster bestanden aus getönten, undurchsichtigen Butzenscheiben, wie es typisch für Gaststätten war.
Zwei Stufen führten zu einer schweren, dunkelbraunen Holztür, die dem Öffnen einen erheblichen Widerstand entgegensetzte. Es roch nach Bier, Essensdünsten und kaltem Zigarettenrauch. Das Gesetz zum Rauchverbot in Gaststätten war hier noch nicht angekommen. Im Schankraum reichte eine lang gezogene Theke aus Esche fast über die gesamte linke Seite. Sie war blank gewienert und drei verchromte Zapfhähne versprachen den durstigen Kehlen rasche Linderung. Im Regal dahinter standen fein säuberlich aufgereiht Dutzende Flaschen mit hochprozentigem Alkohol. Da keine Staubschicht auf ihnen zu erkennen war, vermutete ich, dass sie nie lange dort unberührt blieben, sondern rasch aufgebraucht wurden. Mein Verdacht bestätigte sich bald, als die Gäste neben Bier auch fleißig Schnaps orderten.
Gegenüber der Theke standen zehn Tische im Raum verteilt, vier davon länglich, der Rest maß nur einen Meter im Quadrat. Natürlich durfte in einer ordentlichen deutschen Wirtschaft eines nicht fehlen: Auf dem größten Tisch stand ein merkwürdiges Holzgestell, in das der Schriftzug ‚Stammtisch’ eingeritzt war. Mir kam es vor wie das Symbol für Spießigkeit schlechthin.
Als Hannes und ich eintraten, geschah, was ich befürchtet hatte: Die Gespräche verstummten schlagartig und alle gafften mich an. Wenn Hannes nicht dabei gewesen wäre, hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht. Doch er legte mir jovial die Hand auf die Schulter und drückte mich mit sanfter Gewalt zur Theke. Dort bestellte er zwei Bier in einer Lautstärke, die man wahrscheinlich im gesamten Dorf hatte hören können: Für seinen Freund und sich. Als wäre es das Stichwort gewesen, wandten sich alle wieder ihren Tischgenossen zu und redeten weiter. Mir war bewusst, dass sich die nun deutlich leiseren Gespräche um mich drehten, aber wenigstens wurde ich danach von den bereits Anwesenden kaum noch angestarrt, höchstens flüchtig gemustert.
Es war so etwas wie eine Aufnahmezeremonie gewesen und Hannes war mein Gewährsmann. Selbstverständlich gehörte ich dadurch noch längst nicht der Dorfgemeinschaft an, darüber machte ich mir keine Illusionen. Wer nicht hier geboren war, würde immer einer von außerhalb bleiben. Die Frage war nur, wieweit man sich einem Zugezogenen gegenüber öffnen würde.
Die Gäste trafen meistens einzeln ein. Weit hatte es hier niemand bis zum ‚Dorfkrug’, und viele kamen direkt von der Arbeit. Jeder, der eintrat, musterte mich mit kritischem Blick, doch Hannes grüßte alle mit Vornamen und seine unbekümmerte Art nahm der beklemmenden Situation ihre Härte.
Einer der ersten Gäste, der kurz nach uns mit klobigen Wanderschuhen in die Wirtschaft gestapft kam, war ein Mann mit auffallend roter Gesichtsfarbe und stoppeligem Bart. Ich hatte ihn schon einige Male auf einem Traktor gesehen, aber erst jetzt erfuhr ich von Hannes, dass er Josef Schuster hieß.
„Jupp ist der Einzige, der sich bereit erklärt hat, für uns den Bürgermeister zu spielen und seitdem quälen wir ihn mit unseren Anliegen“, erklärte er grinsend.
Ein Lächeln schiefer, gelber Zähne blitzte auf, als Schuster mich ansah. „Dabei mache ich den Mist sogar ehrenamtlich. Eine so kleine Gemeinde kann sich kein Gehalt für den Bürgermeister leisten.“
„Und selbst damit ist er noch überbezahlt“, lachte Hannes lauthals.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte ich. „So ein Amt dürfte eher Bürde als reine Freude sein.“
Schuster sah mich erstaunt an. Dann reichte er mir die Hand. Sie fühlte sich schwielig an. „Freut mich, Sie persönlich kennen zu lernen, Herr Junker!“
Ich war überrascht, dass er meinen Namen kannte, da Hannes ihn nicht erwähnt hatte. Wir sahen uns in die Augen und für einen Moment schien so etwas wie Vertrautheit zwischen uns zu bestehen. Dann setzte Schuster sich rasch an den Stammtisch und widmete sich seinem ersten Glas Bier.
Es war eine der vielen Lektionen, die ich an dem Abend im ‚Dorfkrug’ lernen musste. Über mich, den Zugezogenen, wurden eifrig Information zusammengetragen und ausgetauscht. Ich hingegen wusste so gut wie nichts über sie. Wenn nicht Hannes einen Narren an mir gefressen hätte, wäre dies vermutlich auch so geblieben.
Andererseits war es mir bis zu einem gewissen Grad auch ganz recht, denn so blieben mir allzu neugierige Fragen nach meiner Vergangenheit erspart – und das war schließlich der Grund gewesen, warum ich in ein kleines, einsames Dorf gezogen war.
Erneut orderte Hannes zwei Bier bei der resoluten Wirtin, die mir als Doris Barweiler vorgestellt worden war. Sie mochte Mitte vierzig sein und verfügte über kräftige Schulter, wie sie durch die harte Arbeit in der Gastronomie entstanden. Ihre strähnigen, dunkelblonden Haare strich sie regelmäßig aus dem Gesicht. Als junge Frau war sie bestimmt einmal recht hübsch gewesen, doch die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Doris Barweiler hatte eine direkte, manchmal sogar etwas ruppige Art, mit den Gästen umzugehen. Sie verstellte sich nicht, sondern sagte offen, was sie dachte – ein Wesenszug, den ich sympathisch an ihr fand.
„Wollt ihr auch etwas essen?“, fragte sie, kaum dass sie die beiden Bier vor uns abgestellt hatte.
„Wir sind eigentlich nur wegen deiner berühmten Schnitzel mit Bratkartoffeln hier“, erklärte Hannes. „Bring mal zwei ordentliche Portionen! Marcus hier“, er deutete mit dem Daumen auf mich, „muss doch endlich deine Spezialität kennen lernen.“
Sie blickte mich an und ein Lächeln erschien auf dem Gesicht. „Dann will ich euch mal nicht enttäuschen.“
Die Wirtin ging zu einer Tür auf der ‚Privat’ stand und öffnete sie. Dahinter erschien eine steile Treppe, die sie nun hinauf blickte und lautstark nach ihrem Mann rief.
Über der Wirtschaft lag die Wohnung der Barweilers, in der sie mit ihrer erwachsenen Tochter Sonja lebten. Ein ungehaltenes Brummen kam von oben zur Antwort. Doris Barweiler erklärte ihrem Gatten gebieterisch, dass er unverzüglich hinter der Theke zu erscheinen hätte, da sie in die Küche müsste.
Wenig später schlurfte Oliver Barweiler mit einem blau-weiß-gestreiften Hemd und ausgeleierter Jeans herein. Er begrüßte die meisten Gäste kurz, was mit einem Nicken oder einem gemurmelten Wort erwidert wurde. Als Barweilers Blick auf mich fiel, stutzte er und sah dann fragend Hannes an. Der tat so, als würde er es gar nicht merken. Barweiler zögerte noch einen Moment, dann nickte er auch mir knapp zu und trollte sich hinter die Theke.
„So sind sie, die Halsterbacher“, sagte Hannes beinahe verlegen. „Sie haben ein großes Herz, aber gegenüber Leuten, die sie nicht kennen, sind sie vorsichtig.“
„Warum?“
Hannes musste über die Frage erst nachdenken. „Es kommen nur selten Menschen hierher, und wenn, dann wollen sie meistens etwas von uns haben – nämlich Geld. Früher waren es Steuereintreiber, heute eher Vertreter, die uns Sachen andrehen wollen, die wir nicht brauchen.“
„Von mir sollten die Halsterbacher eigentlich wissen, dass ich ihnen nichts wegnehmen will, ich lebe schließlich auch hier.“
Er kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. „Sicher“, brummte er schließlich. „Aber sie brauchen halt Zeit, das zu begreifen und, um dich kennen zu lernen.“
Ich blickte in die Runde. Niemand schenkte mir mehr Beachtung. „Eilig haben sie es offensichtlich damit nicht.“
Hannes wechselte das Thema und deutete mit dem Kinn auf einen etwa vierzigjährigen Mann, der soeben die Wirtschaft betreten hatte, weder links noch rechts grüßte, sondern direkt auf den Stammtisch zusteuerte. Er trug einen Schnurrbart und mir fiel ein goldenes Kreuz an einer Halskette auf, das nicht zu seinem Erscheinungsbild passte. Den grünen Pullover hatte er in seine Jeans gestopft, die von einer Gürtelschnalle in Form eines Adlers mit ausgebreiteten Schwingen gehalten wurde. Seine Haare waren über der Stirn kurz geschnitten, im Nacken dafür deutlich länger, als es geschmacklich akzeptabel gewesen wäre. Das Gesicht mit den heruntergezogenen Mundwinkeln wirkte bullig, humorlos und abweisend. Er setzte sich dem Bürgermeister gegenüber, nickte ihm kurz zu und schwieg.
„Das ist Eddie Broich“, erklärte mir Hannes mit gedämpfter Stimme. „Er hat eine kleine Autowerkstatt. Schmeißt den Laden alleine, einen Lehrling kann er sich nicht leisten. Es geht hier halt allen nicht so toll.“
„Scheint eine echte Stimmungskanone zu sein.“
„Sehr gesprächig war Eddie noch nie, aber das muss er ja auch nicht sein.“
Wenig später kam Doris Barweiler mit dem Essen aus der Küche, und wir verlagerten unseren Standort an einen der kleinen Tische. Hannes hatte nicht zuviel versprochen, die Schnitzel waren fast größer als die Teller und schmeckten hervorragend.
Langsam wurde es voll. Für die meisten Dorfbewohner schien der Besuch der Wirtschaft zum allabendlichen Ritual zu gehören. Auch jetzt noch bemerkte ich bei jedem, der eintrat, den gleichen kritischen Blick in meine Richtung. Es stand die unausgesprochene Frage im Raum: Was will der hier?
Ich könnte nicht behaupten, dass ich mich daran gewöhnte, aber schließlich wich mein Ärger der trotzigen Einstellung, jetzt erst recht hier zu bleiben.
Als wir gerade mit dem Essen fertig waren, kam eine stattliche Erscheinung durch die Tür. Der Mann maß etwas über einen Meter achtzig und wog sicher hundertzwanzig Kilo. Über seinen fleischigen Wangen saßen zwei kleine Augen, die hinter einer blau getönten Brille mit Goldrand wachsam die Umgebung peilten. Seine Haare hatte er mit viel Gel auf den Schädel gekleistert. Ein mächtiger Bauch spannte sein himmelblaues Hemd, auf dem dunkle Schweißflecken unter den Achseln zu sehen waren. Am Finger trug er einen protzigen Ring und am Handgelenk eine Rolex. Ob die Uhr echt war, konnte ich auf die Entfernung zwar nicht beurteilen, aber der Mann versuchte mehr als deutlich zu demonstrieren, dass er Geld besaß.
„Da kommt gerade unsere Ausnahme: Boris Thielmeyer“, erklärte Hannes.
„Ausnahme?“
„Er hat es als einziger hier im Dorf zu Reichtum gebracht. Schon sein Vater handelte mit Landmaschinen, und er hat den Laden dann vor zehn Jahren übernommen. Mittlerweile verkauft er seine Traktoren in der gesamten Eifel und sogar bis drüben nach Belgien.“
Ich kannte das große, umzäunte Gelände mit den nagelneuen Traktoren und Mähdreschern etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes vom Vorbeifahren. Die landwirtschaftlichen Fahrzeuge standen dort zu Dutzenden fein säuberlich aufgereiht. Tatsächlich war es das Einzige, was an Fortschritt in der Gemeinde Halsterbach zu erkennen war.
„Das Blöde ist nur, dass Boris seinen Erfolg ständig raushängen lässt. Er muss das größte Haus haben, das dickste Auto, die teuerste Uhr, die beste Flinte. Nur was sein Gemächt angeht ...“, Hannes grinste breit und zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine winzige Spanne an, „So klein.“ Dann schüttete er sich aus vor Lachen. Die Männer am Nachbartisch sahen irritiert zu uns herüber.
„Was ist so lustig, Hannes?“, erkundigte sich Thielmeyer, der sich auf einen Stuhl am Kopfende des Stammtischs hatte fallen lassen. Er lispelte leicht und hatte für seine Körperfülle eine erstaunlich hohe Stimme.
„Nichts, Boris, schon gut!“, winkte er ab und bestellte im gleichen Atemzug bei Barweiler noch zwei Bier.
In der Wirtschaft waren inzwischen gut fünfzig Leute versammelt, was etwa einem Viertel der Einwohnerzahl Halsterbachs entsprach. Einige der Leute hatte ich in den fast zwei Monaten, die ich bereits im Dorf wohnte, noch nie gesehen. Hannes klärte mich eifrig über jeden einzelnen flüsternd auf. Mit zunehmendem Bierkonsum wurde er zwar lauter, aber der ebenfalls anschwellende Geräuschpegel im Raum glich das wieder aus.
An einem der Nebentische hatten sich Henning Dittscheid und seine Frau Dorothe niedergelassen. Sie waren die Einzigen, die mich ohne zu zögern höflich, wenn auch nicht gerade überschwänglich grüßten, schließlich kaufte ich einmal in der Woche in ihrem winzigen Supermarkt ein.
Es war schwer, ihr Alter einzuschätzen, da beide ungesund mager wirkten, ich vermutete aber, dass sie Mitte Fünfzig waren. Wenig später gesellte sich auch ihre erwachsene Tochter dazu, die das gleiche hagere Erscheinungsbild bot. Ich kannte ihren Namen nicht, wusste aber, dass sie im elterlichen Laden arbeitete. Hannes beeilte sich, mir zu verraten, dass sie Ines hieß und der blasse Kerl in ihrem Schlepptau ihr Mann Martin war. An seiner Hand hing ihre gemeinsame fünfjährige Tochter Laura. Das kleine blonde Mädchen packte Buntstifte aus einem kleinen Köfferchen und begann auf einem Zeichenblock zu malen. Es sah aus, wie bei einem Familienausflug. Ihre Eltern und Großeltern unterhielten sich ausdauernd über den Supermarkt. Offensichtlich kannten sie kein anderes Thema als ihren Betrieb.
An der Theke standen die Leute dicht gedrängt, die wenigen Barhocker waren längst besetzt. Auch um die Tische drängelten sich die Gäste. Nur an unserem wollte sich keiner niederlassen, obwohl noch ein Stuhl frei war.
Schließlich tauchte Sonja auf, die Tochter des Wirtsehepaars. Ich hatte sie schon öfters in der Bäckerei Kesseling gesehen, wo sie als Verkäuferin arbeitete. Es gab in einem Dorf wie Halsterbach für Jugendliche nicht viele Möglichkeiten, einen Job zu bekommen.
Sonja wirkte meist kühl und unnahbar, was ich jedoch auf ihre Unsicherheit zurückführte. Eine Verhaltensweise, die sicher auf viele junge Frauen zutraf.
Wenn es im ‚Dorfkrug’ abends voll wurde, half Sonja oft, Essen und Getränke an die Tische zu tragen, während ihr Vater im Akkord Bier zapfte und ihre Mutter in der Küche arbeitete. An manchen Wochenenden kam aber auch Sonja kaum noch mit den Bestellungen hinterher. Deshalb hatte sie sich an jenem Abend eine Freundin zur Verstärkung mitgebracht.
Es war das erste Mal, dass ich Melanie Köhler sah. Sie war, wie Sonja, ebenfalls zwanzig Jahre alt und mit ihr seit frühester Kindheit befreundet, wie ich später erfuhr. Sowohl Sonja als auch Melanie waren sehr hübsch, wenn auch von ihrem Äußeren völlig unterschiedlich.
Jemand wie Melanie konnte sich in einem Provinzkaff wie Halsterbach nicht wohl fühlen. Sie hatte sich die Haare schwarz gefärbt, wild frisiert und dunklen Lidschatten aufgelegt, in ihren beiden Ohren steckten insgesamt sieben Ringe, der Größe nach aufgereiht. In ihrer linken Augenbraue funkelte ein Piercing, das T-Shirt und die weite Hose mit aufgesetzten Taschen und Nietengürtel waren farblich angepasst: alles schwarz.
Ihr Aussehen musste bei den meisten Einwohnern Halsterbachs auf Befremden stoßen. Es war eine klare Auflehnung gegen die Werte des Spießbürgertums. Dennoch strahlte Melanie eine ansteckende Fröhlichkeit aus. Sie lachte viel und scherzte mit den Gästen, während sie das Tablett mit den Gläsern schleppte.
Sonja war einen Kopf größer als ihre Freundin, Gerten schlank und mit einem ebenmäßigen Gesicht gesegnet, wie man es sonst nur in Hochglanz-Magazinen zu sehen bekam. Sie entsprach mit einem gelben Top und engen Bluejeans der gängigen Modevorstellung des Mainstreams. Ihre schulterlangen, blonden Haare wurden von einem Haarreifen zurückgehalten, ihr Make-up war dezent, lediglich der Lipgloss fiel auf. Sie gab sich auch an diesem Abend wie üblich ernst und fast schon distanziert den Gästen gegenüber.
Es erstaunte mich, dass die beiden jungen Frauen, obwohl sie so verschieden erschienen, eine enge Freundschaft verband. Wenn die zwei kurzzeitig an der Theke zusammen standen und auf die nächste Ladung Bier warteten, tuschelten sie kichernd miteinander und bildeten dabei für den Betrachter einen merkwürdigen Kontrast.
Als Melanie an unseren Tisch kam und die leeren Biergläser auf ihr Tablett stellte, musterte sie mich neugierig. „Sie wohnen jetzt im Haus von der alten Martha?“
„Ja, ich glaube so hat die Vorbesitzerin geheißen.“
„Dann haben sie ganz schön viel zu tun, um die Ruine wieder in Schuss zu bekommen. Sie steht doch schon seit Jahren leer. Ich weiß noch, dass unsere Eltern uns schon als Kinder verboten hatten, dort zu spielen, wegen der Einsturzgefahr.“
„Ich gebe mir Mühe, das Haus wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Sonst muss ich wohl weiter als Höhlenmensch vor mich hin vegetieren.“
Sie lachte über den Witz. „Wo kommen Sie her?“
„Aus Köln.“
„Da studiere ich seit dem Sommer“, strahlte sie. „Ich habe eine kleine Bude in Köln-Sülz, nahe bei der Uni. Wo haben Sie gewohnt?“
„In der Südstadt“, antwortete ich vage und lenkte das Gespräch rasch auf ein anderes Thema. „Was studierst du?“
„Deutsch und Englisch. Ich möchte Lehrerin werden.“
„Melanie, sei so gut und hol uns noch zwei Bier!“, unterbrach Hannes sie. „Deine Lebensgeschichte kannst du Marcus später erzählen.“
Dazu war es an dem Abend jedoch nicht mehr gekommen, da Melanie zu viel zu tun hatte. Ich traf sie in den folgenden Monaten noch zwei- oder dreimal in der Wirtschaft, weil sie nur in den Semesterferien oder an Wochenenden gelegentlich nach Halsterbach kam. Außer ein paar belanglosen Sätzen hatte ich mich nie näher mit ihr unterhalten. Etwas, das ich später sehr bedauerte.
Das Einzige, woran ich mich in Zusammenhang mit Melanie noch erinnerte, war, dass an jenem ersten Abend im ‚Dorfkrug’ ein junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren auftauchte, dessen Ähnlichkeit mit Melanie keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um ihren Bruder handeln musste. Er hatte schulterlange Haare, die ihm vorne fast über die Augen fielen. Seine Jeans war an den Knien zerlöchert, und er trug ein schwarzes „AC/DC“-T-Shirt.
Der Junge sprach kurz mit Melanie, verschwendete keinen Blick an die übrigen Gäste und ging dann rasch wieder. Ihm schien die Umgebung nicht zu gefallen. Erst einige Tage später sollte ich Chris näher kennen lernen.
Zu vorgerückter Stunde betrat ein Mann den ‚Dorfkrug’, der sich schon allein durch seinen eleganten, dunklen Anzug mit Seidenkrawatte von den übrigen Gästen unterschied. Er war groß, hager und sein angegrautes Haar trug er ordentlich gescheitelt, aber einen Tick länger als nötig. Er mochte etwa Ende vierzig sein und machte einen selbstsicheren, ausgeglichenen Eindruck. Wie jemand, der sich seiner Stärke bewusst war. Er war eine attraktive Erscheinung, wie ich neidlos anerkennen musste. Der Mann passte so gar nicht unter die eher leger gekleidete Landbevölkerung.
Doch den freundlichen Grüßen von allen Seiten entnahm ich, dass er hier wohl bekannt sein musste. An der Theke bestellte er ein Bier und wechselte ein paar Worte mit Barweiler, dann sah er sich im Raum um. Schließlich blieb sein Blick an Hannes und mir hängen. Er nahm einen Schluck und kam dann auf uns zu.
„Darf ich mich zu Ihnen gesellen?“, fragte er höflich und es schien, als hätte er die Bitte eher an mich, denn an Hannes gerichtet.
„Ah, unser Anwalt!“, erklärte Hannes mir ohne Umschweife. „Tja, da staunst du, was? Wir haben hier in Halsterbach unseren eigenen Rechtsvertreter. Darf ich vorstellen: Ralph Stahlke.“
Ich reichte ihm die Hand. „Angenehm, Junker.“
„Ihr Name ist mir bereits bekannt“, lächelte er vielsagend. „In einem so kleinen Dorf gibt es keine Geheimnisse.“
Stahlke setzte sich und zog dabei seine Hosenbeine leicht nach oben, damit sie nicht knitterten. Seine grauen Augen musterten mich offen und freundlich. „Was verschlägt sie in so ein gottverlassenes Kaff wie Halsterbach?“
Ich fühlte mich von der direkten Frage ein wenig überrumpelt. „Ich hatte die Großstadt einfach satt und war auf der Suche nach Ruhe.“
„In der Tat, viel ruhiger als hier geht es eigentlich nur noch auf einem Friedhof zu.“
Ich stutzte kurz, Stahlke schien einen leichten Hang zum Zynismus zu pflegen.
„Stimmt doch gar nicht!“, protestierte Hannes. „Wir haben jeden Sonntag nach der Messe Frühschoppen und immerhin einmal im Jahr unser Schützenfest und ...“ Er legte die Stirn in Falten, während er angestrengt nachdachte. „Und den Tanz in den Mai nicht zu vergessen!“, fiel ihm schließlich ein.
„Also gut: Wir haben hier einen Friedhof mit gelegentlichem Unterhaltungsprogramm. Hannes, sei ehrlich, wir leben hier in der hintersten Provinz!“ Stahlke wandte sich mir lächelnd zu. „Das hat aber auch sein Gutes: Es gibt hier keinen Stress oder böse Überraschungen. Beides Umstände, die einem Anwalt natürlich nicht gerade entgegen kommen.“
Ich musste gestehen, dass er meine Neugier geweckt hatte. „Warum haben Sie sich dann hier niedergelassen?“, erkundigte ich mich.
„Der Liebe wegen!“ Er prostete mir theatralisch zu und nahm einen großen Schluck Bier. Ich tat es ihm gleich.
„Ich hatte mich unsterblich in eine wunderschöne Frau verliebt“, fuhr er fort. „Damals lebte ich noch in Frankfurt und war für eine große Kanzlei tätig. Ein viel versprechender junger Anwalt, der ein teures Appartement hatte und eine Edelkarosse fuhr. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass meine Angebetete aus einem mir völlig unbekannten Dorf namens Halsterbach stammte. Sie hieß Beate und wollte damals etwas von der großen weiten Welt sehen. Also ging sie nach Frankfurt und machte eine Lehre zur Anwaltsgehilfin. So lernten wir uns kennen. Leider verspürte sie nach vier Jahren eine fürchterliche Sehnsucht nach Halsterbach. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits meine Frau. Ich sträubte mich zunächst, hierhin zu ziehen und auf meine Karriere zu verzichten. Aber welcher Mann kommt schon gegen seine Ehefrau an?“ Stahlke griff wieder zu seinem Bier.
„Und schon gar nicht gegen Beate!“, lachte Hannes. „Sie hatte einen Dickschädel, wie man ihn nur in der Eifel findet. Wenn die sich was in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie nichts und niemand davon abbringen. Ihre Eltern, Theo und Gabriele, waren damals entsetzt, dass ihre einzige Tochter nach Frankfurt ziehen wollte. Für die beiden war es ein Sündenbabel. Aber Beate ließ sich nicht beirren. Genauso wenig, wie sie später wieder zurück nach Halsterbach wollte.“
Stahlke nickte und stieß einen resignierenden Seufzer aus. „Ja, so war sie. Und jetzt lebe ich schon seit dreizehn Jahren hier und bin doch immer noch der Zugezogene.“
„Sie reden von ihr in der Vergangenheitsform“, hakte ich vorsichtig nach.
„Beate starb vor fünf Jahren an Krebs.“
„Es war fürchterlich“, ergänzte Hannes. „Beate war ein sehr lebensfroher Mensch gewesen und bildhübsch. Mein Gott, ich habe selten eine schönere Frau gesehen: groß und schlank mit langen, blonden Haaren. Und dann bekam sie die Diagnose, dass sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hätte.“ Er schluckte, als hätte er einen Kloß im Hals.
„Das tut mir leid. Warum sind Sie hier geblieben?“, fragte ich Stahlke, um zu verhindern, dass die Unterhaltung ins Melancholische abdriftete.
Er zuckte die Achseln. „Wo hätte ich denn hingehen sollen? Wieder nach Frankfurt? In meinem Alter hätte mich keiner mehr genommen, und dort eine eigene Kanzlei aufzumachen, hätte ich mir nicht leisten können. Außerdem fehlt mir das Renomee, das man als Anwalt in einer Großstadt braucht, um auf Dauer überleben zu können. Jahrelang in der Provinz die Landwirte bei Kaufverträgen oder Erbschaften beraten zu haben, ist nichts, womit man Eindruck schinden könnte.“
„Ist schon praktisch, jemanden im Dorf zu haben, der sich mit Gesetzen auskennt“, erklärte Hannes begeistert, als hätte er Stahlke gar nicht gehört. „Mich hat er letztes Jahr in Trier vor Gericht vertreten, als mir ein großes Unternehmen nicht den vereinbarten Preis für mein Schlachtvieh zahlen wollte. Ohne Ralph hätte ich mich gar nicht getraut, mich mit denen gerichtlich anzulegen. Aber wir haben gewonnen!“
„Ja, meine letzte Heldentat“, sagte Stahlke ironisch. „Ich bin der einzige Anwalt im Umkreis von fünfzehn Kilometern. Da kann man es glatt zur Berühmtheit bringen.“
Irgendwie gefiel mir seine sarkastische Art. Vielleicht sah ich in ihm auch einen Leidensgenossen. Er zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie mir. „Kommen Sie mich doch mal in meinem bescheidenen Domizil besuchen! Sie können es nicht verwechseln, außer mir ist sonst kein Anwaltsbüro in dem Haus.“
Um ein Uhr morgens verließ ich die Wirtschaft. Ich spürte, dass ich einen leichten Rausch hatte. Es war der erste seit fast einem halben Jahr. Ich fühlte mich dennoch gut.