Читать книгу Tote schweigen für immer - Ingo Gach - Страница 5
Kapitel 4
ОглавлениеWenn Leichen nicht vergraben sind, lassen sie sich kaum verbergen. Der Verwesungsprozess setzt unmittelbar ein, sobald das Herz aufhört zu schlagen und das Gehirn keinerlei Aktivität mehr aufweist. Die Zellen des Körpers beginnen zu verfallen, weil ihnen die Energiezufuhr genommen wird.
Die Zerfallsprodukte organischer Substanzen entwickeln starke Gerüche, die schon bald in der Umgebung unangenehm in der Luft liegen, wie ich nur zu gut wusste. Insekten werden angezogen. Als erstes kommen immer die Fliegen. Mit ihren empfindlichen Geruchsorganen riechen sie Aas auf große Distanzen. Ihre Überlebensstrategie ist es, Eier auf verwesendes Fleisch zu legen, damit sich die Larven davon ernähren können. Bei warmer Witterung können ganze schwarze Wolken von Fliegen über einer Leiche hängen, und ihr Brummen ist dann beinah Ohren betäubend. So wie an dem Tag, als Melanie tot aufgefunden wurde.
Doch auch andere Tiere, vor allem Käfer, begrüßen die Leiche als gefundenes Festmahl. Sie krabbeln in alle Körperöffnungen. Manchmal, wenn die Leiche ungeschützt liegt, machen sich auch Fleisch fressende Säugetiere und Vögel über den Kadaver her. Für sie macht es keinen Unterschied, was das tote Fleisch zu Lebzeiten gewesen war. Es interessiert sie auch nicht, warum es gestorben war, denn für sie bedeutet der Tod anderer, selbst zu überleben.
Melanies Leiche war nur halb eingegraben, als wäre ein Totengräber bei seiner Arbeit gestört worden. Sie lag ein wenig seitlich, so dass ihre rechte Körperseite verdeckt war. Der Täter hatte die Erde kaum zwei Handbreit ausgehoben und die Tote dann dort hinein gelegt.
Melanies schwarze Haare hingen über ihrem Gesicht. Der Wind spielte leicht mit einigen Strähnen und bewegte sie über ihren offenen Augen hin und her. Quer über ihren Hals verlief eine Wunde. Blut war aus dem tiefen Schnitt gelaufen und bildete mit der blassen Haut einen morbiden Kontrast. Ihr T-Shirt und die Jeans waren zwar dreckig, aber nicht zerrissen. Mir fiel auf, dass auf dem Boden unter ihr kaum Blut zu sehen war. In Anbetracht der Wunde ließ dies nur eine Schlussfolgerung zu: Sie war woanders getötet und erst nachdem sie ausgeblutet war hierher gebracht worden.
Hannes wolle sie sofort umdrehen, doch ich hielt ihn am Arm fest.
„Nicht anfassen!“, ermahnte ich ihn.
Ich kniete mich vorsichtig neben Melanie und scheuchte damit einen Schwarm unwillig brummender Fliegen auf.
Melanies Pupillen waren starr und reagierten nicht auf Lichtreflexe. Auch ihr Oberkörper hob und senkte sich nicht. Ich hielt meinen Handrücken dicht vor ihrem Mund, während ein kleiner, schwarzer Käfer von ihrer Lippe davon stob. Kein Atemhauch war zu spüren. Um ganz sicher zu gehen, tastete ich nach ihrem Puls am Handgelenk. Ihn an ihrem Hals zu suchen, schloss sich in Anbetracht der tiefen, blutverkrusteten Wunde von vorneherein aus. Ich bemerkte, dass ihr Arm steif war. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Ihre Haut war ausgekühlt.
Ich sah zu Hannes hoch und schüttelte den Kopf. „Sie ist tot.“
Er war ein Kerl wie ein Bär, aber jetzt wurde er käsig bleich und im nächsten Moment stürzte Hannes zum Waldrand und erbrach sich.
Mein Blick fiel erneut auf ihre Handgelenke. Sie waren beide aufgescheuert. Ich war mir sicher, dass die Wundmale von Fesseln herrührten.
Ich versuchte, nicht zu atmen, und beugte mich erneut tief über Melanies Gesicht. Aufmerksam betrachtete ich ihren Mund, die Nase und die Ohren. Tatsächlich entdeckte ich in ihrem rechten Nasenloch, was ich suchte: eine winzige Made. Sie stammte von einer Fliege, vermutlich einer gewöhnlichen Schmeißfliege, und befand sich im ersten Entwicklungsstadium. Melanies Tod musste demnach vor mindestens acht bis vierzehn Stunden eingetreten sein, sonst wäre die Made noch nicht geschlüpft. Nach weiteren acht bis vierzehn Stunden hätte die Larve bereits ihre Haut abgestreift, was jedoch hier nicht der Fall war. Wahrscheinlich würde man bei genauerer Untersuchung noch weitere Maden finden, aber ich hatte genug gesehen und wollte vor allem keine möglichen Spuren verwischen.
Ich erhob mich und ging zu Hannes, der immer noch grün im Gesicht an einem Baumstamm lehnte. Er atmete schwer und in seinen Augen schwammen Tränen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Wieso Melanie?“, stammelte er. „Wer tut so etwas?“
Ich zuckte die Achseln. Eine Frage, die ich mir schon sehr oft gestellt hatte: Wieso sind Menschen zu so etwas in der Lage? Auch wenn ich die häufigsten Gründen dafür kannte – Hass, Eifersucht, sexueller Trieb, Geldgier – hatte ich nie wirklich begreifen können, wie man die Grenze von der bloßen Vorstellung zur Tat überschreiten konnte.
„Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, dass sie höchstens einen halben Tag hier liegt und ihr mit einem Messer oder einem ähnlich scharfen Gegenstand die Halsschlagader und die Luftröhre durchschnitten wurden. Das Opfer erleidet dadurch einen Schock, so dass es keine Schmerzen verspürt. Der Tod tritt dann rasch durch Ersticken ein.“ Letzteres sagte ich, um ihm wenigstens den geringen Trost zu spenden, dass Melanie nicht lange gelitten haben konnte.
Hannes sah mich erstaunt an, und schien für einen Augenblick seine Übelkeit zu vergessen. „Du guckst zu viele von diesen CSI-Serien im Fernsehen “, meinte er schließlich.
Ich zuckte zusammen, als hätte mich etwas gestochen. Unbedacht hatte ich zuviel von meinem Wissen ausgeplaudert.
„Wahrscheinlich“, sagte ich leise und wandte mich ab.
Ich hatte schon zu oft Leichen in meinem Leben gesehen. Und ich hatte nie wieder welche sehen wollen. Was tust du hier eigentlich, fragte ich mich vorwurfsvoll, dies ist nicht deine Aufgabe.
Motorengeräusche näherten sich und wenig später tauchten gleich drei Autos aus dem Wald auf. Als erster stieg Josef Schuster aus dem Wagen. Der Bürgermeister hatte wie immer eine ungesund rote Gesichtsfarbe. Oliver Barweiler und dessen Frau Doris hatte er in seinem alten Diesel mitgenommen. Aus dem Auto dahinter schälten sich Henning und Dorothe Dittscheid, die Besitzer des kleinen Supermarkts. Dem dritten Fahrzeug entstieg Eduard Broich.
Sie gehörten zu den wenigen Einwohnern Halsterbachs, die nicht in der Landwirtschaft tätig waren und entsprechend nicht auf dem Feld oder im Stall beschäftigt waren. Lediglich Jupp Schuster hätte zwar normalerweise um die Uhrzeit seine Kühe an die Melkmaschine angeschlossen, aber der Anruf von Rodder hatte ihn davon abgehalten.
Die kleine Abordnung des Dorfes bewegte sich nur zögerlich auf uns zu. Als sie bis auf wenige Schritte herangekommen waren, blieben alle sechs stehen und warfen der Leiche aus der Entfernung ängstliche Blicke zu, als ginge eine unsichtbare Gefahr von ihr aus.
Mit offenem Mund sah Schuster zuerst die Leiche und dann uns an. Schließlich fragte er mit zitternder Stimme: „Ist sie ... ist Melanie wirklich ...?“ Er konnte es nicht aussprechen.
Hannes nickte resigniert.
Doris Barweiler schluchzte laut auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Broich starrte mit versteinerter Miene zu der Leiche und rührte sich keinen Millimeter. Er wirkte völlig geistesabwesend. Schuster hingegen wollte zu Melanie gehen, doch Hannes hielt ihn an der Schulter fest. „Wir können nichts mehr für Melanie tun, sie ist tot. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass niemand zu nah an den Tatort gelangt, sonst könnten Spuren verwischt werden.“
Schuster starrte ihn an, als hätte er einen Außerirdischen vor sich. „Was?“
„Das macht man halt so. Wie im Fernsehen“, erklärte Hannes und warf mir dabei einen verstohlenen Blick zu. „Wir müssen jetzt auf die Polizei warten. Hast du sie schon angerufen?“
Der Bürgermeister nickte und schluckte schwer. Von seiner Stirn rannen Schweißtropfen.
Dorothe Dittscheid trat neben ihn. „Wer hat Melanie umgebracht?“, flüsterte sie, als hätte sie Angst, jemand könne ihre Worte hören.
Niemand antwortete. Sie standen stumm nebeneinander und starrten Angst voll auf die Leiche. Eines wurde allen in dem Moment bewusst: Die Idylle in Halsterbach, falls sie je existiert hatte, war ab heute vorbei.
Ich hatte mich ein paar Schritte abseits postiert, wie ein unbeteiligter Zuschauer. Und genau das war auch meine Absicht: Ich wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben und hatte mich eben mit einer unbedachten Äußerung schon zu weit vorgewagt. Mein jetziges Leben war mir wichtiger, ich wollte es weiter führen wie bisher – in Ruhe und vor allem ohne Leichen, von denen ich wahrlich schon genug gesehen hatte.
Niemand hier ahnte, dass ich zehn Jahre bei der Kriminalpolizei in Köln gewesen war, davon die Hälfte der Zeit im Kommissariat für Tötungsdelikte.
Meine Arbeit hatte mich damals fasziniert. Man bewegte sich oft im Grenzbereich der menschlichen Psyche. Doch das Inspizieren des Tatorts eines Leichenfunds bedeutete auch stets eine Wanderung auf einem schmalen Grat. Man durfte das Geschehene nicht zu nah an sich heranlassen. Ich hatte es deshalb aus Eigenschutz immer vermieden, in der Leiche einen Menschen zu sehen, aus dem vor kurzem das Leben gewichen war, sondern einen Fall, den ich aufzuklären hatte. Ein Stück tote Materie, deren Ableben möglicherweise gewaltsam vonstatten gegangen war. Mir kam nur die Aufgabe zu, die Umstände aufzuklären, wenn gegen das Gesetz verstoßen worden war. Es klappte nicht immer, manchmal konnte ich die Eindrücke nicht verdrängen und der Horror stürzte wie eine Welle über mir zusammen.
Unter meinen damaligen Kollegen wurde viel, manchmal zuviel Alkohol getrunken, auch wenn es offiziell niemand zugeben wollte. Ich bildete dabei keine Ausnahme, denn anders war es oft nicht zu ertragen gewesen. Es hatte keinen im Kommissariat gegeben, der nicht unter den psychischen Folgen unserer Arbeit gelitten hätte.
Vor allem der immense Druck, der auf uns lastete, hatte immer wieder zu Fehlern geführt, denn auch wir waren nur Menschen. Aber wir durften uns keine Fehler erlauben, denn wir waren die Kriminalpolizei. Man erwartete immer eine rasche und vollständige Aufklärung der Tat von uns – ganz besonders in Mordfällen.
Falls bei Ermittlungen der Polizei etwas schief lief, schrien die Politiker und Medien immer sofort empört auf und spielten die Moralapostel. Dann wurde verlangt, dass Köpfe rollten. Es musste ein Sündenbock geschlachtet werden.
Vielleicht gab es für den Täter eine Begnadigung vor Gericht, aber es gab niemals Gnade für die Polizei in der Öffentlichkeit. Polizisten hatten zu funktionieren und ihren Job zu erledigen. Möglichst schnell und effizient.
Auch ich hatte immer weiter funktioniert. Bis zu dem Tag, an dem ich einen gravierenden Fehler machte und den Glauben an meine Arbeit verlor. Und an mich selbst.
Bis nun der erste Streifenwagen am Fundort eintraf, hatten sich bereits rund dreißig weitere Dorfbewohner versammelt. Die Männer und Frauen standen still und reglos im gebührenden Abstand von Melanies Leiche entfernt. Niemand schien sich näher als zehn Schritte an die Tote heran zu trauen, als hielte sie ein unsichtbares Kraftfeld davon ab. Ich wahrte sogar eine noch größere Distanz, wenn auch aus anderen Gründen. Die Kriminalpolizei würde bald auftauchen, um die Ermittlungen aufzunehmen. Routinemäßig würden dann alle Anwesenden als mögliche Zeugen befragt werden. Ich hegte die leise Hoffnung, dass ich einer Befragung ausweichen konnte, wenn ich mich unauffällig im Hintergrund halten würde.
Die beiden Polizisten stiegen aus dem Streifenwagen, sahen die Leiche im Gras liegen und reagierten wie alle Menschen: Es traf sie wie ein Schock, obwohl sie eigentlich durch den Funkspruch darauf vorbereitet waren. Dann begannen sie vorschriftsmäßig das Gelände zu sichern und rot-weiße Flatterbänder zu spannen. Die Anwesenden wurden aufgefordert, hinter der großflächigen Absperrung zu bleiben, aber nicht wegzugehen, ehe nicht die Personalien festgestellt worden waren.
Wenige Minuten später rückte noch ein zweiter Streifenwagen an. Vom Fahrersitz federte ein junger Polizist dynamisch hoch. Er versuchte, mit breitem Brustkorb einen forschen Eindruck zu schinden. Beim Anblick der durchschnittenen Kehle war es damit schlagartig vorbei und ihm wurde schlecht, worauf ihn sein älterer Kollege verärgert vom Fundort verscheuchte.
Die Kripo in Euskirchen war direkt nach dem Eingang des Anrufs bei der Polizeidienststelle informiert worden. Sobald es um einen Leichenfund ging, passierte das automatisch, wie ich wusste. Zu meiner Überraschung trafen schon bald sechs Kriminaltechniker der Spurensicherung ein. Sie hatten die Strecke von Euskirchen bis hierher in Rekordzeit bewältigt.
Ein Glatzkopf mit randloser Brille ließ seine schlechte Laune am nächstbesten Streifenpolizisten aus. „Lehmann, Kripo Euskirchen. Habt ihr hier eine ganze Kuhherde durchgetrieben?“ knurrte er, während er in einen weißen Overall stieg, auf dessen Rücken der Schriftzug ‚Polizei’ zu lesen stand.
„Es waren schon eine Menge Leute hier, bevor wir eintrafen“, erklärte der Uniformierte schroff, der solche Sprüche offensichtlich überhaupt nicht mochte.
„Wohl als letzter zum Fundort gekommen, was?“
„Was kann ich dafür, dass wir erst so spät angerufen wurden?“
Der Streifenpolizist drehte sich beleidigt um und stapfte zu seinen Kollegen, die die anwesenden Dorfbewohner im Auge behielten.
Ein schwarzer Golf mit Euskirchener Kennzeichen näherte sich. Der Wagen hielt nur wenige Meter von mir entfernt. Zwei Männer stiegen aus. Der Kleinere der beiden, ein etwa Vierzigjähriger mit deutlichem Bauchansatz und buschigem Schnurrbart, warf einen prüfenden Blick in die Runde und winkte dann einen der Streifenpolizisten zu sich.
Das selbstsichere Auftreten der beiden Männer ließ kein Zweifel darüber aufkommen, dass sie das Sagen hatten. Ich wusste nur zu genau, wie es war, am Tatort einzutreffen. Man hatte als leitender Beamter die Verantwortung, aber die Situation war noch völlig unbekannt. Also kaschierte man die eigene Nervosität durch ein betont abgebrühtes Verhalten.
Da ich zufällig nur ein paar Schritte entfernt stand, hörte ich das Gespräch zwischen den beiden Männern ungewollt mit.
„Kriminalhauptkommissar Robert Hellberg, Kripo Euskirchen“, leierte der Schnurrbärtige herunter, zückte kurz seinen Dienstausweis und ließ ihn eine Sekunde später wieder in der Hemdtasche verschwinden. Der Streifenpolizist hatte nicht einmal Zeit gehabt, den Namen zu lesen.
„Weiß man schon, wer die Tote ist?“, fragte Hellberg während er begann, sich routiniert einen weißen Overall überzustreifen.
Der Angesprochene zückte einen Notizblock und las abgehackt vor. „Mehrere Zeugen haben sie als Melanie Köhler identifiziert. Sie stammte aus dem nahe gelegenen Dorf Halsterbach.“
„Wer hat sie gefunden?“
Erstaunt sah der Streifenpolizist ihn an. „Keine Ahnung.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, doch da war Hellberg schon mit einem tadelnden Kopfschütteln an ihm vorbei gegangen.
Etwas hilflos blickte der Polizist seinem Kollegen von der Kripo hinterher. Ich vermutete, er hatte gehofft, nun seinen großen Auftritt zu haben, indem er haarklein alles erzählte, was er bereits über die Tote herausgefunden hatte. Nach dem ersten Zeugen am Tatort zu fragen, hatte er schlicht vergessen.
Stattdessen trat der zweite Neunankömmling auf ihn zu. „Kriminaloberkommissar Hans Zimmermann, ebenfalls vom KK Zentrale Kriminalitätsbekämpfung.“
Er trug, trotz der Hitze, eine schwarze Lederjacke, war dünn und gut einen Kopf größer als Hellberg. „Nehmen Sie bitte von allen Anwesenden die Personalien auf!“, wies Zimmermann den Streifenbeamten an. „Falls irgendjemand sachdienliche Hinweise machen kann, schicken sie ihn zu mir, alle anderen sollen nach Hause gehen.“
Der Polizist öffnete erneut den Mund, doch auch Zimmermann ging an ihm vorbei zum Absperrband. Die Laune des Streifenpolizisten war am Nullpunkt angelangt. Sein Unterkiefer mahlte und er ballte kurz die Fäuste, bevor er sich widerwillig an seine Aufgabe machte.
Hellberg begrüßte den Leiter der Spurensicherung, der auf dem Boden kniete. „Hallo, Manni, schon was Interessantes gefunden?“
Der Kriminaltechniker hatte über seine Glatze vorschriftsmäßig die Kapuze des Overalls gestülpt, auch wenn er natürlich keine Kopfhaare mehr verlieren konnte. Er war gerade dabei, die Hände der Toten in durchsichtige Plastikbeutel zu stecken, für den Fall, dass sich unter den Fingernägeln verräterisches Material für einen DNA-Abgleich befand.
Er sah nicht einmal zu Hellberg auf. „Ein blutiges Messer mit Fingerabdrücken und den Ausweis des Täters samt schriftlichem Geständnis.“
Hellberg schien nicht viel von schwarzem Humor zu halten, er verzog keine Miene. „Ihr habt also noch gar nichts!“, stellte er nüchtern fest.
Der Kriminaltechniker erhob sich und deutete genervt in die Runde. „Sieh dir das Chaos doch an! Bei so vielen Leuten, die hier schon durchgetrampelt sind, bezweifle ich, dass wir überhaupt etwas Verwertbares finden werden.“ Mit diesen Worten kniete er sich wieder hin und widmete sich den Schuhen der Toten. Er kratzte den Dreck aus den Sohlen und fing ihn in einem kleinen Beutel auf.
Seine Kollegen sammelten währenddessen alles, was sie auf der Lichtung und im angrenzenden Wald an möglichen Hinweisen finden konnten. Allerdings war es schwer zu entscheiden, was unter die Kategorie „Indizien“ fallen konnte. Deshalb wanderten Zigarettenstummel, Papierschnipsel, Plastikmüll, abgebrochene Zweige und sogar Dreck, der nicht zum übrigen Waldboden passte, in kleine Plastikbeutel. Aus Erfahrung wussten sie, dass das meiste nichts mit dem Mord zu tun haben würde, aber das konnte erst im Labor mit Sicherheit herausgefunden werden.
„Wo bleibt denn nur der Arzt?“, grummelte Hellberg ungehalten. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, waren auch schon Motorengeräusche zu vernehmen. Kurz darauf hielt ein silberner BMW hinter dem mittlerweile stattlichen Pulk von Zivilfahrzeugen und Polizeiwagen. Ein gebrechlich wirkender Mann mit schlohweißen Haaren stieg aus und ging gemächlich auf Hellberg zu.
„Doktor Schmidt, wie schön, dass sie es einrichten konnten!“, begrüßte er den Arzt.
Ich schätzte, dass Schmidt kurz vor dem Rentenalter stand und zu den Ärzten gehörte, die sich durch nichts mehr aus der Ruhe bringen ließen.
„Sie wissen doch: Anruf genügt und ich sprinte los!“, scherzte Schmidt mit heiserer Stimme, doch Hellberg war nicht zum Lachen zumute.
„Was haben wir denn?“, fragte der Arzt.
Hellberg wies in Richtung der Leiche. „Eine junge Frau mit durchschnittener Kehle.“
„Scheußlich!“, murmelte Schmidt nur, ehe er sich bedächtigen Schrittes auf den Weg machte, um sie zu untersuchen.
Es war Vorschrift, dass ein Arzt am Fundort den Tod eines Menschen feststellte. Erst dann war es amtlich, und die Leiche durfte weggeschafft und, falls notwendig, zur Obduktion freigegeben werden.
Hauptkommissar Hellberg ließ sein Augenmerk langsam über die Szene schweifen. Ich versuchte, seinem Blick zu folgen, und überlegte, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Am Rand der Lichtung stand ein verwitterter Hochsitz. Die Leiche der jungen Frau lag gut fünf Meter davon entfernt. Zu weit, als dass sie eventuell von dort oben hätte herabgestürzt sein können. Die klaffende Wunde am Hals ließ eigentlich keine Spekulationen über die Todesursache zu, aber man sollte nie ein Urteil abgeben, bevor die Rechtsmedizin den Leichnam obduziert hatte. Zu viele merkwürdige Überraschungen gab es bei gewaltsamen Todesursachen.
Hellberg streckte sich schließlich und verzog kurz das Gesicht. Offensichtlich litt er unter Rückenschmerzen. Typische Bürokrankheit, dachte ich. Dann ging er zu seinem Kollegen Zimmermann, der bereits mit der Vernehmung von Zeugen begonnen hatte und eifrig in sein Notizbuch schrieb. Ich wunderte mich, wie der hagere Mann es bei den schweißtreibenden Temperaturen in der Lederjacke aushielt.
„Wer hat den Leichenfund gemeldet?“, fragte Hellberg.
Zimmermann blätterte einige Seiten zurück. „Die männliche Person, die in der Zentrale angerufen hat, heißt Josef Schuster, wohnhaft Hauptstraße 5 in Halsterbach. Sein Anruf ging um acht Uhr elf ein. Er hat gemeldet, dass auf einer Lichtung neben einem Hochsitz bei Halsterbach eine Tote läge und gab deren Namen mit Melanie Köhler an. Auf die Frage des Kollegen in der Zentrale, hat er noch die Lage des Fundorts im Wald näher beschrieben.“
Zimmermann deutete auf einen untersetzten, rotgesichtigen Mann, der in vorderster Front der Gaffer stand. „Josef Schuster ist übrigens der Bürgermeister des Dorfes. Er selbst hatte die Leiche allerdings zu dem Zeitpunkt des Anrufs noch gar nicht gesehen gehabt, wie er mir eben erzählt hat.“
Hellberg zog die Augenbrauen hoch. Es war ungewöhnlich, dass nicht der Finder selber anrief. Ich hingegen kannte die Halsterbacher gut genug, um zu wissen, dass sie nie die Polizei anrufen würden, bevor sie nicht mit Jupp gesprochen hatten.
„Woher hatte er die Information?“, fragte Hellberg.
Erneut blätterte sein Kollege. „Der Name des Finders wurde von Schuster mit Helmut Rodder angegeben, wohnhaft Auf dem Acker 1 in Halsterbach.“
„Wurde dieser Rodder schon vernommen?“
„Von mir jedenfalls nicht. Er befindet sich nicht hier am Fundort.“
Hellberg sah nachdenklich zu der Menschenansammlung hinter den rot-weißen Flatterbändern. „Sobald wir hier fertig sind, fahren wir zu ihm“, sagte er schließlich. „Ist sonst irgendetwas Interessantes über die Tote bei der Vernehmung von der Meute da drüben heraus gekommen?“
Zimmermann vertiefte sich wieder in sein Notizbuch. „Melanie Köhler, zwanzig Jahre alt, stammte aus Halsterbach, studierte aber seit einem Jahr in Köln. Sie war letzten Freitag bei ihrer Mutter Franziska und ihrem Bruder Christian zu Besuch eingetroffen. Der Vater ist schon seit neun Jahren tot. Streit hat es in der Familie oder im Dorf mit Melanie Köhler angeblich nicht gegeben. Vor zwei Tagen, am Samstag, den elften August, wollte sie abends zurück nach Köln fahren, und wurde zu dem Zeitpunkt, nach dem bisherigen Erkenntnisstand, das letzte Mal in Halsterbach gesehen. Als vermisst wurde sie noch nicht gemeldet. Keiner der Anwesenden hat eine Ahnung, wer sie umgebracht haben könnte.“
„Die Zeugen wissen ja alle erstaunlich gut Bescheid.“
„Sie leben alle in dem selben Dorf“, zuckte Zimmermann die Achseln.
„Ist die Mutter oder der Bruder der Toten hier?“
Zimmermann schüttelte den Kopf.
„Merkwürdiges Verhalten“, meinte Hellberg. „Das halbe Dorf scheint hier zu sein, aber nicht die Familienangehörigen.“
„Möglicherweise hat sich noch niemand getraut, es ihnen zu sagen. Du überbringst ja schließlich auch nicht gerne Todesnachrichten.“
In dem Moment sah Hellberg zufällig zu mir und unsere Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil. Da ich als einziger immer noch neben den Autos nur wenige Schritte von ihm entfernt stand, vermutete er wohl richtig, dass ich die Unterhaltung mitgehört hatte. Dabei war es gar nicht meine Absicht gewesen, denn ich war nach wie vor fest entschlossen, mich aus der Sache raus zu halten.
Der Hauptkommissar musterte mich misstrauisch, dann drehte er sich um und ging zu seinen Kollegen von der Spurensicherung. Zimmermann hatte mich ebenfalls bemerkt und kam nun auf mich zu, um meine Personalien aufzunehmen. Ich gab sie ihm.
„Haben Sie irgendetwas Auffälliges gesehen oder gehört?“, fragte er anschließend.
Ich verneinte.
Er blickte mich strafend an. „Herr Junker, ein Herr ...“, er blätterte kurz in seinen Notizen, „Herr Overich hat mir eben erzählt, dass er nach dem Leichenfund durch Herrn Rodder mit Ihnen zusammen als erster am Fundort eingetroffen ist und sie beide sich der Leiche genähert haben.“
„Ja“, gab ich nur knapp zurück.
„Warum haben Sie das getan?“
„Um zu prüfen, ob sie noch lebt.“
„Haben Sie sie angefasst?“
„Nur den Puls gesucht.“
„Und?“
„Und, was?“
„Na, hatte sie noch einen Puls?“
„Dann würde sie jetzt nicht mehr hier, sondern im Krankenhaus liegen.“
Zimmermann erfror für einen Augenblick in der Bewegung. Ich dachte schon, dass er gleich über die Zurechtweisung explodieren würde, aber stattdessen steckte er den Stift ein und grummelte: „Sie hören noch von uns.“
Dann stapfte er schlecht gelaunt zurück zu den Dorfbewohnern.
Ich wollte hier weg und wartete deshalb nicht weiter auf Hannes, sondern begab mich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Merkwürdigerweise dachte ich während der ganzen Zeit weniger an Melanie, sondern viel mehr an Chris, ihren jüngeren Bruder. Wie würde er die Nachricht vom Tod seiner Schwester verkraften?