Читать книгу Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka - Страница 10
ОглавлениеBERICHT 4
Montag, 3. Juli, 11: 24 Uhr
Ordnung ist das halbe Leben
Lydia wirkte angespannt. Nachdem sie noch einige Sachen in der Stadt erledigt hatte, fuhr sie mit der Straßenbahn zum wöchentlichen Klatsch und Tratsch in das Café Traxlmayr. Sie zappelte im Abteil hin und her und ihre Finger malträtierten den Haltegriff im Sekundentakt. Nicht etwa, dass es eine unruhige Fahrt gewesen wäre. Nein, die Ursache für ihre Nervosität lag vielmehr im Ablaufdatum ihres Fahrausweises begründet. Soeben hatte sie ihn aus der Handtasche geholt und festgestellt, dass dieser seine Gültigkeit bereits vor zwei Tagen verloren hatte.
Normalerweise achtete sie penibel genau auf solche Sachen. Sie wusste bis zu welchem Datum Erlagscheine einbezahlt werden mussten. Sie wusste punktgenau die Befristung der Rabattgutscheine vom Supermarkt. Ja, sie wusste sogar das Ablaufdatum der Milch im Kühlschrank. Aber an das Ablaufdatum des Fahrscheins hatte sie diesmal nicht gedacht.
Und so war sie momentan das, was man gemeinhin als Schwarzfahrerin bezeichnete. Und wenn man sie dabei auch noch erwischen würde, dann wäre sie überdies eine dumme Schwarzfahrerin. Und wie es mit dummen Schwarzfahrerinnen so war, hatten diese für ihren Verstoß zu bezahlen. Und zwar in zweierlei Hinsicht.
Einerseits in Form einer satten Geldstrafe von siebzig Euro, die beim Ertappen schlagend gemacht würden. Der finanzielle Aspekt jedoch war Lydia in dieser Situation völlig gleichgültig. Das drohende Bußgeld würde sie sofort berappen und es ungesehen in der Kategorie der Nebensächlichkeiten verbuchen. Geld war hier nicht das Problem für sie. Außerdem hätte sie es ohnedies von Edgars Konto abbuchen lassen.
Was ihr in diesem Moment weitaus mehr zu schaffen machte war der soziale Aspekt ihrer Handlung. Nicht auszudenken, würde sie wirklich gestellt werden. Dieses öffentliche Stigma, diese Scham. Alle Augenpaare wären auf sie gerichtet und jeder würde sie sofort als durchtriebene Betrügerin abqualifizieren. Man würde hinter vorgehaltener Hand über ihre Dreistigkeit reden. Mit dem Finger würde auf sie gezeigt werden. Als laboriere sie an einer ansteckenden Krankheit.
Gerade sie, eine gestandene Mutter von zwei Kindern, die ihr Leben lang nie mit dem Gesetz konfrontiert war. Sie, die noch nie in Verlegenheit geraten war, sich für irgendeine Straftat verantworten zu müssen. Sie war weder eine Diebin noch misshandelte sie ihre Kinder. Sie rauchte nicht an den Bahnsteigen. Sie gurtete sich immer an. Sie zahlte die Fernsehgebühren ordnungsgemäß und hatte noch nie gegen eine Hausmauer gepinkelt. Wie auch? Sie hatte noch nicht einmal den nötigen Rausch dazu.
Alles in allem also war Lydia das, was man eine sozialisierte Vollblutmutter nannte. Eine moralische Instanz, die innerhalb der Familie die Regeln aufstellte und genau zu wissen glaubte, was das Beste für jeden sei. Wenn sie die Order ausgab, die Schlafenszeit der Kinder sei sieben Uhr, dann war das so. Es hatte zu geschehen. Ansonsten: Regelverstoß!
Wenn sie der Meinung war, das Schlafzimmer gehöre mit der neuesten Trendfarbe ausgemalt, dann musste angerückt und gestrichen werden. Ansonsten: Regelverstoß!
Wenn sie die Auffassung vertrat, die Bettdecken müssten längs und nicht quer auf dem Bett liegen, dann war das Gesetz, das es zu befolgen galt. Ansonsten: Regelverstoß!
Und wenn sie die Anwandlung hatte, sie bügle fortan nur noch ihre Kleider, dann hatte Edgar das Bügeleisen selbst zu schwingen. Ansonsten: Knitterhemden!
Doch jetzt befand gerade sie, die Hüterin des Regelwerks, sich selbst in einem Dilemma. Sie befand sich in der misslichen Lage selbst gegen eine Regel verstoßen zu haben. Zum Glück hatte sie nur noch drei Haltestellen zu überstehen. Und die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle war in dieser Linie ohnedies eher gering. Also würde sie die nächsten paar Minuten die Einstiege noch genau im Auge behalten. In der Hoffnung, dass zwischenzeitlich kein unliebsamer Fahrgast mit einer Marke das Abteil betreten würde. Dann würde sich am Ende alles in Wohlgefallen auflösen. Niemand würde ihren Übertritt bemerkt haben und sie konnte den ganzen unliebsamen Vorfall getrost zu den Akten legen.
Und für die nächsten beiden Haltestellen hatte es auch beinahe den Anschein, als würde sie ungeschoren davonkommen. Die einzig zugestiegenen Fahrgäste waren Passanten, Touristen oder betrunkene Schichtarbeiter auf dem Heimweg. Aber weit und breit keine Spur von einem Kontrollorgan. Es blieb ruhig. Zumindest vorerst noch. Doch dann kam alles ganz anders und offensichtliches Unbehagen setzte bei Lydia ein. Sie sah aus ihrem Augenwinkel heraus gerade noch zwei verdächtige Gestalten mit einem Hängetäschchen in das Abteil huschen. Sofort schrillten ihre Alarmsensoren auf.
„Jetzt haben wir den Salat“, schoss es ihr durch den Kopf.
Ihr Hals wurde länger und länger und ihre Blicke suchten über die anderen Fahrgäste hinweg fieberhaft im ganzen Abteil herum. Und da standen die beiden schon in einiger Distanz. In der rechten Hand ihre Marke und in der Linken das Scangerät. Sie wollten gerade einen Betrunkenen überprüfen, der lautstark gegen diese Kontrolle protestierte.
„Macht es Euch Spaß unschuldige Steuerzahler zu piesacken und zu provozieren?“, machte er sichtlich angeschlagen seiner Entrüstung Luft.
„Habt Ihr etwa Minderwertigkeitskomplexe, weil Ihr diesen Job macht? Oder reicht Euer Intelligenzquotient für einen anderen Beruf nicht aus?“
Sie lauschte angespannt mit und blickte immer wieder panisch aus dem Fenster. Doch die letzte Haltestelle lag noch ein Stück weit entfernt.
„So, hier habt Ihr das beschissene Ticket. Und jetzt lasst mich gefälligst in Ruhe, Ihr Penner!“
Er zog den Fahrausweis aus der Jackentasche und warf den beiden Kontrolleuren einen verächtlichen Blick zu.
„Noch so eine Beleidigung und Sie haben ein massives Problem“, meldete sich nun einer der beiden zu Wort, „und außerdem ist Ihr Fahrschein ungültig. Sie hätten bereits vor zwei Haltestellen aussteigen müssen. Ihr Ticket ist nur bis zur Goethekreuzung gelöst worden.“
Bei diesen Worten zückte der andere Kontrolleur auch schon seinen Scanner und begann zu tippen. Das war ihre Chance. Jetzt waren beide abgelenkt. Sie ging etwas in die Hocke und machte sich nach und nach immer kleiner. Bis sie auf Gürtelhöhe der Fahrgäste war. So mancher unter ihnen senkte den Blick und sah sie beinahe entwürdigend an. Ihr war, als könnten sie allesamt in fettgedruckten Lettern Schwarzfahrerin über ihrem Kopf lesen. Was für ein demütigendes Bild musste sie gerade abgeben. Doch was hätte sie tun sollen? Lauthals zugeben, dass sie keinen gültigen Fahrschein hatte? Undenkbar! Geduckt wie eine Eingeborene auf der Pirsch, drängte sie sich weiter zurück durch die Menge in Richtung Ausstieg. Immer wieder blieb sie mit ihrer Tasche dabei irgendwo hängen, dass diese unkontrolliert hin und her schwang. Dass sie noch immer halb geöffnet war, bemerkte sie gar nicht. Doch sie hätte in diesem Moment wahrscheinlich nicht einmal einen gelben Dinosaurier mit Nickelbrille direkt vor ihr bemerkt. Zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich verlangsamte sich das Tempo der Straßenbahn. Jetzt musste es schnell gehen. Sie drückte den Halteknopf. Die Straßenbahn blieb stehen. Die Türe öffnete sich und sie betrat endlich wieder sicheren Boden.
Alle Bürde fiel in diesem Moment ab von ihr. Sie war so froh, nicht erwischt worden zu sein. Es war ein Gefühl, als hätte eine höhere Macht schützend die Hand über sie gelegt. Als wäre ihr Absolution erteilt worden. Wie damals, als sie mit ihrer Tante im Auto bei der orangen Ampel doch noch stehen blieb, während der Fahrer hinter ihr sie überholte und prompt vom Gegenverkehr erfasst wurde. Hätte sie auf die Anweisungen von Birte gehört, dann wäre sie es gewesen, die mit kaputtem Auto und Schleudertrauma dagestanden wäre. Doch alles war gut. Auch dieses Mal.
Sie drehte sich um und sah erleichtert durch die Fenster in das Abteil. Immer noch waren die beiden Kontrolleure mit dem Betrunkenen beschäftigt.
„Armer Mensch, aber einen trifft es wohl immer!“, bemitleidete sie ihn, ehe die Straßenbahn wieder aus der Station bog und langsam weiterfuhr.
Als sie in der Nähe des Linzer Grabens im Traxlmayr eintraf waren alle bereits gesammelt anwesend. Carmen nippte schon andächtig an ihrem Weißwein, während ihre anderen beiden Freundinnen noch auf den Kaffee warteten.
Obschon, richtige Freundinnen waren sie allesamt eigentlich gar keine. Eher weitläufige Bekanntschaften. Wahre Freundschaft zeichnete für Lydia sich seit eh und je durch Vertrauen aus, durch gegenseitige Zuneigung und ernstgemeinte Hilfsbereitschaft. Allesamt Attribute, die Freundschaften für sie erst als solche definierten. Bei ihren Bekanntschaften hier hingegen traf weder das eine noch das andere zu. Man konnte ihnen nichts anvertrauen, ohne dass es am nächsten Tag nicht die ganze Welt wusste. Zuneigung bestand lediglich dann, wenn sie im Gegenzug etwas brauchten. Und Hilfsbereitschaft kam in ihrem Wortschatz gar nicht vor. Hilfe benötigten nur die Schwachen. Und Schwäche zu zeigen kam gar nicht in Frage. Demnach waren es eher Scheinfreundschaften und im strengsten Sinne nicht einmal das. Sie waren eine „Schar von dekadenten Geiern mit verlogenem Gewinnerlächeln“, wie Edgar sie zu nennen pflegte, die lediglich danach trachteten, sich über Oberflächlichkeiten und aufgesetztem Gehabe zu statuieren.
„Gott bewahre, wenn es dir einmal schlecht geht und du die Hilfe deiner sogenannten Freundinnen brauchst“, hatte er Lydia des Öfteren schon versucht, einzutrichtern, „dann wird sich zeigen bis zu welchem Grade dieses falsche Pack hinter dir steht und dich ehrlich unterstützt.“
Und im Grunde genommen hatte er auch Recht. Der Schein wurde gewahrt, am Sein hingegen gespart. Doch was sollte Lydia machen? Zuhause herumsitzen und ihre freie Zeit mit Däumchen drehen totschlagen? Ihr war sonnenklar, dass ihre wöchentlichen Zusammenkünfte nie über den Status eines bloßen Lückenfüllers hinausgehen könnten. Doch der Zweck heiligte die Mittel. Man wusste sonst nichts mit seiner Zeit alleine anzufangen. Also traf man sich eben hin und wieder, um gemeinsam einsam zu sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Doch zumindest traf man sich im Traxlmayr und nirgendwo anders in der Stadt. Lydia liebte diese Lokalität. Es war so etwas wie eine Rückzugsoase, in der man ganz gelöst vom Alltagsstress dem süßen Nichtstun nachhängen konnte. Mit seinen verspielten Stuckelementen und den überdimensionierten Kronleuchtern vermittelte das Traxlmayr dabei ein Stück weit verloren geglaubte Kaffeehauskultur in Linz. Über den großen Fenstern, die ein schönes Panorama auf die Linzer Promenade gewährten, hingen ausladende Stores, die den Innenraum in eine fast barock anmutende Atmosphäre tauchten. Die Stühle und Bänke waren allesamt mit edlem Gobelinstoff gesäumt. Sie muteten wie Sitzgelegenheiten aus den noblen Salons der Rokokozeit an. Und selbst der glänzende Fußboden spiegelte mit seiner dezenten Marmorierung die Stimmung längst vergangener Tage wieder. Ja, dieses Café verstand es stilistisch wie kein anderes die Besucher in alte Zeiten zurück zu versetzten. Es gab ihnen das Gefühl, als seien sie hier Besucher von Welt. Genau das Richtige also für Lydia und ihre Freundinnen.
„Hallo, mein kleiner Sonnenschein!“, wurde sie gleich in gewohnt überschwänglicher Manier von Marie begrüßt, während Kathy auf der Bank daneben ihr neues Smartphone in Augenschein nahm.
Es war ein Geschenk ihres Mannes zum Vierziger. Nicht etwa, dass es von Nöten gewesen wäre. Immerhin hatte sie bereits das Vorgängermodell zuhause. Doch Kathy liebte Geschenke und Kathy liebte Aktualität. Und da war es nur eine logische Konsequenz, dass Tom für Kathy auch tief in die Börse zu greifen hatte, um ihre Wünsche auch zu erfüllen. Fertig!
„Na, hast du dich von deinem Quälgeist zuhause lösen können, Lydia?“, fiel sie gleich ungeniert mit der Tür ins Haus und legte ihr Telefon beiseite.
„Darf ich mich vielleicht einmal setzen, bevor ich über die Männer und ihre Unzulänglichkeiten mit Euch sprechen muss?“, erwiderte Lydia leicht gereizt, ehe sie sich den Stuhl neben Carmen zurechtschob. „Und außerdem bin ich ohnedies noch ein bisschen durch den Wind.“
„Wieso, was ist los mit dir?“, wandte Carmen sich ihr zu, um zeitgleich dem Kellner ein Zeichen zu geben, dass ihr Weißwein zur Neige ging. „Hast du etwa wirklich Stress mit deinem Göttergatten gehabt?“
Lydia nahm Platz.
„Nein, Edgar war heute noch nicht das Problem. Wie auch, ich habe ihn heute Morgen nicht länger als ein paar Minuten zu Gesicht bekommen.“
Sie begann nebenbei die Getränkekarte durchzublättern.
„Ich wäre heute beinahe zur Schwarzfahrerin geworden. Das wirft mich etwas aus der Bahn. Zu meinem Glück ist aber alles gut ausgegangen. Eigentlich bin ich ja der Kontrolle entgangen, da die beiden Kontrolleure einen Besoffenen ohne gültigen Ausweis erwischt haben. Gott sei Dank! Aber es waren trotzdem bange Minuten für mich.“
„Oh, unsere ach so korrekte und unfehlbare Lydia hätte fast Bekanntschaft mit dem langen Arm des Gesetzes gehabt“, schaltete Marie sich süffisant in das Gespräch ein. „Aber das ist doch lächerlich. Wegen so einer Kleinigkeit bist du durch den Wind? Als ob auf das Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmittel gleich die Todesstrafe stehen würde.“
„Genau meine Rede. Wegen so einer Bagatelle brauchst du nicht gleich auszuflippen“, stieß Kathy in dasselbe Horn.
Sie klappte ihren Schminkspiegel auf und trug ordentlich Lippenstift und Rouge auf.
„Ihr beide habt leicht reden“, schlug Carmen sich übereifrig auf Lydias Seite, „Ihr habt ja auch keine Kinder, denen Ihr Rede und Antwort stehen müsst. Bei Lydia und mir sieht die Sache da schon etwas anders aus. Wie würden wir denn dastehen, wenn wir unsere Kinder einerseits zur Ehrlichkeit und Ordnung aufrufen und auf der anderen Seite selbst gegen diese Prinzipien verstoßen würden? Glaubwürdigkeit kann man sich nicht kaufen. Die muss man sich erarbeiten. Und mit einem kleinen Fehltritt hat man sie auch schon wieder verspielt. Und dann“, Carmen blickte Kathy belehrend an, „nützen nicht einmal ein neues Smartphone oder eine zentimeterdicke Schicht Make Up etwas, um die Wogen wieder zu glätten.“
„Was redest du da? Wenn ich mit meiner noblen Schminke auf den rosigen Wangen einem Kontrolleur unter die Augen treten würde, dann hätte ich wahrscheinlich Gratisfahrten auf Lebzeit und eine Telefonnummer mehr in der Tasche“, lachte Kathy laut auf. „In dieser Hinsicht sind doch alle Männer gleich. Optik vor Ordnung und Moral. Wisst Ihr noch? Letztes Jahr, als ich Euch von Italien erzählt habe? Als ich von zwei Beamten wegen meines defekten Rücklichts angehalten worden bin?“
Sie ließ ihren Blick fragend durch die Runde wandern.
„Die liebe Kathy hat gar nichts bezahlen müssen. Und das nur, weil sie ein bisschen mit dem Hintern gewackelt hat, die Stimmlage ganz sexy eine Oktave höher geschraubt und ihren Unschuldsblick aufgesetzt hat. Ja, so leicht sind die Männer um den Finger zu wickeln.“
„Aber doch nicht alle Männer“, versuchte Carmen zu relativieren.
„Natürlich, alle Männer! Ohne Ausnahme!“
Kathy griff überlegen nach ihrer Kaffeetasse.
„Sogar dieser Psychologe Sigmund Freud sagt das und der muss es als Mann ja wissen.“
„Ach ja, ich vergaß. Unsere Kathy ist ja unter die Seelenklempner gegangen“, spöttelte Carmen in ihre Richtung und verdrehte die Augen dabei.
„Nein, dafür müsste ich schon so schlau sein wie du“, spielte Kathy zynisch die Kugel zurück. „Aber wenn du es genau wissen willst, ich habe unlängst eine Dokumentation über diesen Freud gesehen. Dabei hat er mehrmals betont, dass die Männer nichts anderes als berechenbare Triebwesen sind. Das Einzige, was ihnen pausenlos im Kopf herumschwirrt, sind sexuelle Gedanken und irgendwelche Bettphantasien. Und das annähernd alle paar Minuten. Sogar Eure eigenen Männer würden auf andere Frauen hereinfallen, wenn diese nur die richtigen Signale und Reize setzen würden. Ein wenig Augenblinzeln da. Etwas aufreizende Kleidung dort. Und fertig ist das Objekt der männlichen Begierde. Mein Tom ist der lebende Beweis dafür, glaubt mir.“
Auch Marie klinkte sich wieder ein:
„Na ja, so unrecht hat Kathy da gar nicht. Wenn man bedenkt, dass bei uns jede zweite Ehe wieder geschieden wird und der Auslöser dafür meistens Untreue und Seitensprünge aller Art sind. Also ich würde für meinen Georg die Hand auch nicht unbedingt ins Feuer legen. Wenn er die Möglichkeit bekommen würde mit einer anderen ins Bett zu springen, wer weiß? Das Geheimnis ist einfach, die Männer an der kurzen Leine und permanent auf Trab zu halten. Man muss die Freiräume ihrer Gedanken kontrollieren und mit eigenen Inhalten auffüllen. Dann kommen sie erst gar nicht auf irgendwelche dummen Ideen. Wie ein Kontrolleur in der Straßenbahn, der auch immer wieder seine Fahrgäste unter die Lupe nehmen muss. Sonst kämen sie noch auf blöde Gedanken und würden anfangen schwarzzufahren. Nicht wahr, Lydia?“
Marie blickte Lydia schelmisch an.
Doch Lydia reagierte nicht auf Maries Anspielung. Stattdessen kramte sie unsicher in ihrer Handtasche herum und begann sie nach und nach zu leeren. Eine Sonnenbrille kam zum Vorschein. Nagellack und Lippenstift waren da. Ein kleiner Schminkspiegel, Wimperntusche, Kaugummi. Alle Standardutensilien waren vorhanden. Doch wo waren nur ihr Portmonee und ihr Wohnungsschlüssel abgeblieben? Sie hatte sie in der Straßenbahn doch noch gehabt. Ein erster Schreck fuhr ihr in die Glieder.
„Das kann doch nicht sein“, stammelte sie leise vor sich hin, während sie ungläubig ihre ganze Tasche auf den Kopf stellte.
Doch außer etwas Zahnseide, einer Schmerztablette und ein paar Taschentüchern purzelte nichts mehr heraus. Keine Spur von Geldbörse oder Schlüssel.
„Alles in Ordnung bei dir, Lydia? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, fragte Carmen nach. „Wenn du deine Tampons nicht findest, dann kann ich dir ja aushelfen. Ich habe sicher noch einige dabei.“
Sie griff hektisch nach ihrer Tasche, als Lydia sie plötzlich am Arm packte.
„Carmen, ich kann meine Geldbörse nirgendwo finden!“
„Ist doch kein Malheur, dann bezahle ich eben deine Rechnung und du lädst mich dafür das nächste Mal ein“, versuchte Carmen sie zu beruhigen.
„Nein, nein. Du verstehst nicht! Ich habe sie unter Garantie in die Handtasche gepackt und jetzt ist sie weg. Und mein Schlüsselbund ist auch wie vom Erdboden verschwunden. Entweder sind mir die Sachen irgendwo herausgefallen, oder…“
Lydia stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.
„…oder man hat dir die Sachen herausgestohlen“, nahm Marie ihr die Worte aus dem Mund. „Du bist doch mit der Straßenbahn gefahren. Vielleicht hat man dich während der Fahrt hierher beklaut. Man hört doch am laufenden Band, dass in den öffentlichen Verkehrsmitteln irgendwelche Langfinger aus dem Osten ihr Unwesen treiben.“
„Ja, ja, willkommen im neuen Linz“, bekräftigte Kathy. „Seitdem die Bulgaren und Rumänen freien Zugang zu uns haben, kann man sich einfach nicht mehr sicher fühlen. Eine Bekannte von mir hat mir sogar erzählt, dass sie unlängst im Stadtpark von einem dieser kriminellen Subjekte angesprochen worden sei, ob sie nicht Drogen kaufen wolle und… “
„Das tut ja jetzt wohl nichts zur Sache“, unterbrach Carmen sie. „Erstens, geht es hier nicht um deine Bekannte. Zweitens, handelt es sich um eine Geldbörse und um einen Schlüsselbund und nicht um Drogen. Drittens, ist noch gar nicht klar, ob Lydia wirklich bestohlen worden ist oder ob sie die Sachen nicht einfach verloren hat. Und viertens“, Carmen stellte das leere Weißweinglas zurück auf den Tisch, „könnte es ja genauso gut ein Österreicher gewesen sein. Insofern kann man sagen, dass du, liebe Kathy, nicht nur oberflächlich bist, was dein Aussehen anbelangt, sondern auch in der Beurteilung anderer Menschen. Gerade mit solchen Vorurteilen schürst du nichts anderes als Ablehnung und Angst. Hat dir das dein Sigmund Freud auch gesagt?“
„Vollkommen egal, was dieser Freud sagen würde“, machte Lydia ihrem Ärger Luft. „Und auch völlig nebensächlich, ob Österreicher, Bulgare, Rumäne oder Mister X aus Entenhausen. Fakt ist, dass die Sachen weg sind. Punkt und Amen. Noch schlimmer hätte der Tag heute gar nicht beginnen können. Zuerst die Kontrolleure in der Straßenbahn und als Zugabe jetzt das. Ich darf gar nicht an die vielen Unannehmlichkeiten denken, die nun auf mich zukommen werden. Ich muss die Kreditkarte sperren lassen. Mein Führerschein ist weg. Die Schlösser bei uns zuhause gehören vielleicht ausgetauscht und was das Schlimmste ist“, sie schleuderte die Tasche wütend auf die Bank, „ich werde das Ganze auch noch Edgar beichten müssen.“
„Na, der wird sicher begeistert sein von dieser Aktion“, goss Marie gleich Öl ins Feuer. „Der wird sich freuen wie ein Tanzbär, dass er dir auch einmal eine Unzulänglichkeit vorwerfen kann.“
„Ja, mit Sicherheit. Er wird sich fühlen, als hätte er den Jackpot im Lotto gewonnen. Ich sehe ihn schon triumphierend vor mir, wenn er mir das alles unter die Nase reiben kann. „Aber das kann doch jedem passieren, sogar dir“, wird er sagen. Und das in einem selbstgefälligen Tonfall, dass ich ihm dabei die Augen auskratzen könnte. Und dann wird er seine Augenbraue hochziehen und mich doof anschauen. So herablassend und arrogant. Als hätte ich die ganze Welt verraten. Dabei hat er neulich die bereits dritte Radarstrafe innerhalb von nur einem halben Jahr ausgefasst. „Aber das steht hier nicht zur Debatte“, wird er sagen. Und als Sahnehäubchen werde ich dann noch zu hören bekommen, dass ich doch in Zukunft bitte besser auf unsere Sachen aufpassen solle. Zum Großteil würde ja auch sein hart erarbeitetes Geld darin stecken. Als stehe eine Absicht von mir dahinter, dass sie mir abhandengekommen sind. Ja, so wird es ablaufen.“
Lydia griff mit einem tiefen Seufzen nach ihrem Smartphone und wählte die Nummer des Kreditinstitutes.
„Genau in der Tonart.“