Читать книгу Die Breitseite des Lebens - Ingo Irka - Страница 6
ОглавлениеPROLOG
Konrad feilte immer noch herum an einer passenden Einleitung für seine Linzer Tagesberichte. Langsam, aber sicher war Eile geboten. Es war ja schließlich nicht so, dass es mit diesen ersten paar Zeilen schon wieder abgetan gewesen wäre. Auch das Schreiben der ganzen Berichte stand ihm noch bevor. Also hieß es, schleunigst in die Gänge zu kommen. Er musste beginnen, bevor der Verlag ihm Druck machen würde. Wenigstens war es diesmal ein dankbares Thema.
Dieses Mal würden seine Berichte sich um das Schicksal eines Familienvaters drehen. Ein Mann, der vorhatte, aus seinem unerfüllten Leben auszusteigen und es neu aufzustellen. Nur ein frommer Wunsch, wie sich alsbald herausstellen sollte. Denn die Realität hielt nach diesem missglückten Ausstieg etwas ganz anderes als Glück und Freude für ihn bereit. Was genau, das war noch Zukunftsmusik. Das würde sich nach und nach erst weisen. Für den Augenblick jedenfalls hieß es, überhaupt erst einmal etwas zu Papier zu bringen.
Er griff nach einem Stift und fing an: Wir alle sind Baumeister. Die Homo faber unseres eigenen Lebens. Jeder von uns. Ohne Ausnahme. Unser ganzes Dasein ist darauf ausgerichtet, etwas zu schaffen. Oder noch besser, etwas zu erschaffen. Wir halten unentwegt Ausschau nach dem richtigen Werkzeug, um die Baustelle, die sich “Leben“ nennt, zu bearbeiten und zu ebnen. Wir versuchen Stein für Stein präzise und unverrückbar zu setzen. Auf dass auf diesem sicheren Fundament das Lebenswerk eine gefestigte Ausprägung erfahre. Wie man sich bettet, so liegt man schließlich. Und wer möchte schon freiwillig mit dem Nagelbett eines Fakirs tauschen, wenn er doch auf einem weichen Satinkissen zu ruhen vermag.
So sind wir unentwegt auf der Suche nach dem besten Material mit dem wir unseren Traum vom eigenen Lebenswerk erfüllen wollen. Wir legen Grundbausteine aus Geld, Arbeit, Familie, Liebe und anderen Idealen. Wir verbinden sie mit Ordnung, Moral, Motivation oder Disziplin, kurz den Werkstoffen, die das Leben für uns bereithält. Jeden Morgen stehen wir auf und gehen all unseren Verpflichtungen nach. Wir fahren zur Arbeit, erledigen unseren Job, kochen mittags das Essen und kümmern uns am Nachmittag um den Nachwuchs. Und dann, wenn endlich der Abend Einzug gehalten hat, setzen wir getrost einen neuen Stein auf unser Gebäude. So lange, bis es hoch genug ist und unseren eigenen Ansprüchen genügt. Erst wenn die oberste Dachschindel befestigt ist und die goldenen Fähnchen aus den Fenstern wehen, dann ist das Bauwerk komplett. Dann ist die Baustelle einem stattlichen Haus gewichen in dem es sich gut leben lässt.
Wer jedoch denkt, dass damit schon der Abschluss gefunden wäre, der irrt. Das bloße Errichten seiner Welt ist nur die halbe Miete. Schließlich gehört sein Eigentum auch beschützt und verteidigt gegen allerlei Einflüsse von außen. Niemand kann ernsthaft wollen, dass jemand ungefragt in sein Leben eindringt und sich einfach seiner Habe bemächtigt.
Und was wäre wohl die beste Maßnahme, als einfach eine riesengroße Blase rund um diese unsere Welt zu stülpen. Wie eine Käseglocke, die jedem Befall von außen trotzt. Also wird alles eingepackt in diese Blase und versiegelt mit dem Wunsch nach Ruhe und Glückseligkeit. Garantierter Schutz auf allen Linien.
Wenngleich damit nun neue und weitaus dringlichere Fragen auftauchen: Wer schützt uns jetzt eigentlich vor uns selbst? Was, wenn der Feind nicht von außen zuschlägt, sondern sich vielmehr in den eigenen Reihen befindet? In einem selbst? Was, wenn mit der Zeit all die Ideale verblassen oder die Werkstoffe allesamt unauffindbar sind?
Dann beginnt am Haus der Verputz zu bröckeln und der harte Beton zerbröselt zu feinem Staub. Alles wird instabil, Verbindungen lösen sich und das gesamte Werk droht einzustürzen. Wollen wir dann überhaupt noch weiterhin darin wohnen? In einem Gebäude, das nicht mehr hält, was es einst versprochen hat? Wohl kaum. Nein, dann kommt die Zeit in der wir einfach ein Loch in die Blase schneiden und aussteigen aus dieser Welt. Wir zimmern uns unseren eigenen Ausgang.
Was wir dabei jedoch nicht bedenken ist, dass wir mit dem Loch gleichsam auch einen Einstieg geschaffen haben. Einen Einlass für all jene, die wir doch niemals hier haben wollten. Für all die ungebetenen Subjekte, die selbst auf der Suche sind nach einer besseren Welt als der ihren und sich wie ein Kuckuck ins gemachte Nest setzen wollen. Sie steigen ein in unsere Welt und beginnen unser Haus umzugestalten. Sie verändern alles nach ihrem eigenen Geschmack. Sie sind die neuen Baumeister, die unserem Haus ihren Stempel aufdrücken.
Und wenn wir dann nach einer Weile überdrüssig von der erfolglosen Ausschau nach neuen Idealen zurückkommen, folgt das böse Erwachen. Unsere Blase ist besetzt. Unser Haus, so wie wir es kannten, gibt es nicht mehr. Und obgleich wir alles unternehmen würden, um die Zeit zurückzudrehen oder die Wiederholungstaste zu drücken, ist es zu spät. Wir sind keine aktiven Besitzer unseres eigenen Lebens mehr. Nein, uns kommt fortan lediglich die Rolle des passiven Betrachters zu. Nur eine falsche Entscheidung hat dazu geführt, dass wir in der Blase statt unseres Lebenswerkes nur noch eine Ruine erblicken. Ein verfallenes Monument, das vielleicht niemals wieder in all seinem früheren Glanz erstrahlen wird.
Und wie viele solche Trümmerhaufen menschlicher Existenzen dabei so manche Blase auf unsrer Erde ausfüllen. Unzählige! Wie Mahnmäler erscheinen sie an jeder Ecke und bezeugen das unheilvolle Schicksal so manch armer Seele. Sie sind an allen Orten zu finden. Überall auf der Welt. Angefangen von den Megalopolen über die Großstädte bis hin zu den Dörfern und Siedlungen. Kein Fleckchen Erde ist sicher.
Nicht einmal das schöne kleine Linz an der Donau. Gerade hier, zwischen Postkartenidylle und dem Funkeln der Wasserkristalle, präsentierte sich bis vor kurzem sogar eine dieser Blasen, die düsterer und verfallener nicht sein könnte. Das Trümmerfeld eines Menschen, der mit einer unbedachten Handlung dem Verderben Tür und Tor geöffnet hatte. So weit, dass er nicht mehr wusste, wie er dieses Übel je wieder aus seiner Welt schaffen konnte. Ja, diese Blase war nicht nur düster und verfallen. Diese Blase drohte sogar zu zerplatzen.