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BERICHT 2

Montag, 3. Juli, 7: 32 Uhr

Mit einer neuen Frau im Haus, tauscht man nur den Teufel aus

Nachdem Edgar den Laptop zugeklappt hatte, erledigte er die letzten Handgriffe zuhause. Dann schloss er alles ab, stieg in den Aufzug und fuhr in die Tiefgarage hinunter. Als er im Auto am Weg zur Arbeit saß, wirkten Lydias Worte aus der Küche noch nach. Er fühlte, dass erneut ein Tag der Fremdbestimmung für ihn begonnen hatte. Wie so oft. Das Gedudel aus dem Radio tat das Übrige für seine Stimmung.

„Always look at the bright side of life“, schallte es durch das Auto.

Er drehte den Lautstärkeregler zurück. Wenigstens hielt der Verkehr sich an diesem Morgen in Grenzen. Nur ein paar vereinzelte Autos hier und da. Ansonsten kein gröberes Aufkommen. Es war vielerorts Betriebsurlaubszeit und das machte sich auch auf den Straßen bemerkbar.

Ursprünglich hätte auch er jetzt bereits seinen Urlaub antreten können. Doch zu Gunsten eines Kollegen hatte er sich bereit erklärt, für ihn einzuspringen und die nächsten paar Tage freiwillig den Journaldienst zu übernehmen. Er bog auf die Hauptstraße und drückte etwas auf das Gas. Immer noch waren fast keine Autos zu sehen. Freiwillige Dienste waren sonst ja nicht so seine Sache. Aber in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie diesen, konnte es nicht schaden hin und wieder seinen guten Willen zu heucheln. Nicht, dass es ihm so erging wie seinem Arbeitskollegen Mike, der auf der Abschussliste der Firma stand, weil er nicht einmal ordentlichen Kaffee für die Belegschaft brühen konnte.

Doch im Grunde genommen hatte er es relativ gut erwischt. Dienstzeiten von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags und an den Freitagen bis drei Uhr. Dabei fünf Wochen Urlaub im Jahr bei vierzehn Gehältern. Und nachdem er bereits seit mehr als zehn Jahren in diesem Unternehmen arbeitete, fiel er bereits in die dritte Lohnstufe der internen Bonuszahlungen. Somit also ein solider Rahmen. Wenn er sich überdies nicht ganz dämlich anstellte, dann würde nächstes Jahr sein Urlaubskontingent sogar auf sechs Wochen erhöht werden. Bezahlt, verstand sich. Alles in allem war seine Arbeitsstätte demnach so etwas wie eine Insel der Seligen im weiten Meer der vielen anderen unglücklichen Arbeitssklaven.

Zuhause durfte er das natürlich nicht zu laut herausposaunen. Hier musste der Eindruck geweckt werden, dass die Arbeit unmenschlich und kolossal anstrengend wäre. Hier hatte der Job als unglaubliche Belastung verkauft zu werden. Die Belohnung dafür war hin und wieder abendlich auf der Couch den Opferstatus genießen zu können und sich der Rolle des Lakaien entledigen zu können. Und wenn es ab und an auch noch einen frei erfundenen Stau bei der Heimfahrt gab, dann war ihm vielleicht sogar der gewünschte Fernsehkanal sicher. Ja, in der Art hatte er sich seine Vorteile und Freiräume zu schaffen. Mit inszenierten Geschichten und kleinen Lügen.

Er passierte den Bahnhof, wo nebst Zugverkehr auch das öffentliche Busnetz der Innenstadt zusammenlief. Schon als Kind wusste er, dass hier der Dreh - und Angelpunkt von Linz war. Wenn damals die angekündigte Verwandtschaft abzuholen war, dann war sie hier zu holen. So etwa, wenn Tante Birte und Onkel Detlev aus dem deutschen Bremerhaven per Zug zum unverhofften Besuch anreisten. Diese Stippvisiten der “Piefke - Bagage“, wie sein Vater sie abschätzig zu nennen pflegte, markierten dann den Punkt, an dem er verstimmt in das Auto stieg und sie hier in der großen Bahnhofshalle in Empfang nahm.

Doch auch wenn Onkel Adi aus Sandl sich mit dem Bus ankündigte, traf man sich hier. Der lustige Onkel Adi mit dem schmucken Oberlippenbärtchen und den schwarzen Springerstiefel. Und meistens im Schlepptau seine noch lustigere Tante Eva, die immer lauter lachte, je später der Abend wurde. Zu fortgeschrittener Stunde konnte sie sogar in einer Fremdsprache reden. So dachte er als Kind zumindest. In Wirklichkeit war sie nur zu betrunken, um noch einen halbwegs sinnvollen Satz herauszubringen. Das wusste er heute. Aber ganz gleich, wer mit Bus oder Bahn kam, hier war immer die Zusammenkunft.

Und exakt hier, an diesem Bahnhof, hatte auch er einige Jahre später viele seiner Stunden zugebracht und seine großen Lebensträume geschmiedet. Wie oft saß er in Zukunftsvisionen versunken an den Bahnsteigen und wartete zu, dass sein Zug ihn zu den Vorlesungen an der Universität brachte. Wie viele Male hatte er die Lautsprecherdurchsagen gehört, während er in der Wartehalle über seinen Skripten und Büchern brütete. Und für was? Für dieses Leben, das schon so gebraucht daherkam? So gelebt?

Eine Hupe riss ihn kurz aus den Gedanken. Ein Kleinwagen war mit einem Laster touchiert und blockierte die Gegenseite der Fahrbahn. Überall lagen Glassplitter und Blechteile. Eine Frau saß weinend am Straßenrand. Sie gestikulierte wild und war völlig aufgelöst. Scheinbar war es ihr Auto, das nun reif für die Schrottpresse dastand. Die Motorhaube war keine Motorhaube mehr, sondern glich vielmehr einer aufgerollten Sardinenbüchse. Das Blech faltete sich überall zusammen und aus dem Innenraum qualmte und nebelte es heraus. Doch zumindest schien der Frau nichts passiert zu sein, so energisch wie sie den Fahrer mit Schimpfwörtern aller Art bedachte. Edgar schüttelte nur den Kopf und reihte sich auf der Spur zum Gewerbepark ein.

Ursprünglich wäre ohnedies alles ganz anders gelaufen für ihn. Ursprünglich säße er heute nicht in einem grobgepolsterten Bürosessel, sondern in einem lederüberzogenen Chefsessel, in dem nur er bestimmen würde, wem eine sechste Woche Urlaub gebühren würde. Doch wie so vieles in seinem Leben war auch dies nur ein geplatzter Traum im Becken voller herber Enttäuschungen und Illusionen. Er sollte damals in die Jagd - und Sportgerätefirma seines Bruders Henrik einsteigen. Er hätte mit ihm gemeinsam den österreichischen Markt mit Jagdgewehren, Sportbögen oder Fischereibedarf bedienen sollen. Er hätte einen tollen Job. Doch er war es letztlich, der durch die Finger schaute und nichts vom Kuchen abbekam.

„Willkommen im Land der Versager“, ratterte es in seinen Windungen, „der einzige Einwohner hier bist du!“

Und das alles, weil ihm nebst vielen Stärken leider auch eine große Schwäche mit auf den Lebensweg gegeben worden war. Eine fast grenzenlose Toleranz gegenüber den Frauen dieses Planeten. Konnte er noch so rational, clever und durchdacht an gewisse Sachen herangehen, so gefühlsgeleitet und infantil war er, wenn es um das weibliche Geschlecht ging. Als würde sich ein lauwarmer Mister Hide aus dem sonst so kühlen Doktor Jekyll schälen, um sich selbst den Garaus zu machen.

So auch im Falle seiner letzten großen Liebe Yvonne, die das Band zwischen ihm und Henrik jäh zerschnitt als er erfuhr, dass sie ihn mit ihm betrog. Sie, die ihm immer vorgaukelte ihn innig zu lieben und zu unterstützen, wo es nur ging. Sie, die nur Augen für ihn hätte und nur allzu gerne mit einem Ring am Finger die Beziehung auf eine höhere Ebene gebracht hätte. Sie, die sogar Kinder von ihm haben wollte. Geradewegs sie zeichnete sich damals verantwortlich dafür, dass seine Welt in Trümmern lag. Trümmer, die auch die Beziehung zu seinem Bruder begruben. Wie sollte er ihm noch länger in die Augen sehen können? Einem Menschen, der allem Anschein nach dachte, Wasser sei dicker als Blut. Gar nicht. Und so trug es sich auch zu, dass er seit mehr als zwanzig Jahren schon keinen Kontakt mehr zu ihm hatte.

Er lebte sein eigenes Leben. Ein Leben mit Lydia, zwei Töchtern, einer Eigentumswohnung am Römerberg und seinem Job als Bereichsleiter bei Stratham - Machines. In diesem Betrieb fühlte er sich auch wohl und seine Arbeitskollegen waren ihm über die Jahre hinweg direkt an das Herz gewachsen.

Allen voran Tristan, ein anderer Angestellter dieser Firma. Er hatte seine Sympathie damals im Handumdrehen gewonnen, als er erfuhr, dass auch ihn das Schicksal nicht gerade mit glückseligen Momenten überhäuft hatte. Auch er hatte eine unliebsame Trennung hinter sich. Und auch bei ihm spielte ein Mitglied der Familie dabei eine entscheidende Rolle. Nur, dass es in seinem Falle nicht der Bruder, sondern vielmehr sein Vater war. Sein eigener Vater war es, der ihm seine damalige Partnerin abspenstig machte und sie letzten Endes sogar vor den Traualtar führte. Ja, solch kühne und abstruse Späße mochte das Leben zeitweilig spielen. Im Gegensatz zu ihm hatte Tristan sich von diesem Spaß jedoch nie wieder erholt und schwor der Frauenwelt seitdem zur Gänze ab. „Lieber ohne Frau und nur halbwegs glücklich, als mit Frau und todunglücklich“, so seine Maxime.

Edgar bog rechts ab und fuhr auf das Firmengelände. „Sie haben Ihr Ziel erreicht“, tönte ihm die Stimme aus dem Navi entgegen. Wie automatisch steuerte er seinen Parkplatz an. Dann ging er über das halbleere Areal hin zum Hauptgebäude. Die Schotterkörner dort pressten sich in die Rillen seines Schuhabsatzes. Jeder Schritt wurde von einem Knacken begleitet. Doch plötzlich hörte es auf zu knacken. Edgar blieb stehen und sah auf seinen Absatz. Er war in Hundekacke getreten. „Na, das passt ja zum heutigen Tag wie die Faust aufs Auge“, murrte er angewidert. Dann putzte er in der Wiese notdürftig seinen Schuh ab und ging weiter zum Eingang, wo schon Tristan beim Kaffeeautomaten auf ihn wartete. Er hatte sich auch bereit erklärt für die nächsten paar Tage den Journaldienst zu übernehmen. Warum auch nicht? Er hatte Zeit im Übermaß und niemand wartete auf ihn zuhause. Da sah er den Zusatzdienst sogar eher als Aufbesserung seines Kontostandes, denn als Belastung an.

„Salve, du Sack“, überfiel er Edgar gleich mit einem verschmitzten Lächeln. „Und, hast du deine Urlaubsvorbereitungen schon abgeschlossen? Oder wisst ihr immer noch nicht wohin die Reise gehen soll?“

Er reichte ihm einen Pappbecher mit Cappuccino, als er plötzlich die Nase rümpfte.

„Sag mal, hier riecht es, als hätte sich jemand angekackt. Das ist ja ekelhaft. Riechst du das auch?“, sah er ihn fragend an.

Edgar schüttelte nur verschämt den Kopf, obgleich der Gestank auch ihm bereits aufgefallen war. Er griff nach dem Becher, bedankte sich und nippte kurz.

„Das Einzige, das ich rieche, ist der Ärger bei uns zuhause“, überging er seine Frage einfach. „Du weißt ja, dass wir vorgehabt hätten, nach Griechenland zu fliegen. Alle vier. Aber du kennst ja auch Lydia und ihre utopischen Forderungen. Alles muss inkludiert sein. Vom Essen bis zum Trinken. Von den Liegen bis zu den Schirmen.“

Er rollte verständnislos seine Augen.

„Kreta, Heraklion oder Mykonos fallen vorneweg schon flach. Da wimmelt es ihr von zu vielen Touristen. Ein Pool und Meeresblick vom Hotelzimmer aus sind für sie Grundvoraussetzungen. Und außerdem dürfe es kein billiger Standardurlaub sein. Die Kosten könnten sich heuer ruhig einmal im oberen Segment bewegen. Für zwei Wochen, versteht sich.“

Seine Finger formten sich zu einer Pistole, die er sich an die Schläfe hielt und abdrückte.

„Da kann ich mir gleich die Kugel geben. Mit diesen Kriterien werde ich sicher nichts Entsprechendes finden. Also werden wir auch heuer unter dem Strich nicht umhin kommen, wieder einmal nach Kroatien zu fahren. Mir graut jetzt bereits davor, wenn ich nur an die Autofahrt und ihre Launen denke.“

„Tolle Voraussetzungen für harmonische vierzehn Tage also“, entgegnete ihm Tristan sarkastisch. „Warum bleibt ihr nicht einfach daheim und du verbringst deine freien Tage am Donausteig? Ist doch auch ganz in Ordnung. Es stimmt schon, hier hast du zwar keine Schönwettergarantie wie in Griechenland oder Kroatien. Dafür hast du eine Schönweibergarantie. Ein paar Brüste und knackige Ärsche für das Auge. Ein paar Bierchen in der Kantine. Und statt dem Meeresblick, eine nicht zu verachtende Aussicht auf unsere schöne Donau. Das kann sich doch auch alles sehen lassen, oder?“

„Wenn es nach mir gehen würde“, antwortete er, „dann würde ich die zwei Wochen sogar auf einem heruntergewirtschafteten Bauernhof mit dreiäugigen Kühen und Albinoschweinen im ukrainischen Hinterland verbringen. Hauptsache ich bin dabei alleine und höre und sehe nichts von Lydia.“

Edgar schnaufte angestrengt durch. Man konnte an seiner Miene regelrecht ablesen, dass die Situation zuhause ihn mehr als nur belastete. Die ewigen Sticheleien und der permanente Kleinkrieg mit Lydia nagten an ihm.

„Es ist einfach nur mühsam. Erst letzte Woche hat sie mir wieder vorgeworfen, ich würde ihr und den Kindern viel zu wenig Beachtung mehr schenken und mich auch nicht genug in den Haushalt einbringen. Ich würde mich mehr und mehr zu einem Egoisten entwickeln und das Hauptaugenmerk nur auf mein persönliches Wohlempfinden richten.“

In seiner Stimme schwang pure Resignation mit.

„Dabei bin ich es wohlgemerkt, der fast täglich den Chauffeur für Clara und Sophia spielt. Ich bin es, der das Abendessen macht. Und ich bin es auch, der wohl bald ein dickes Minus am Konto haben wird, weil alle Anschaffungen von meiner Karte abgebucht werden. Ich kann dir nur sagen, wenn das so weitergeht, dann…“ Er stoppte an dieser Stelle.

„Was ist dann?“, fragte Tristan neugierig nach, während er ein paar Schritte am Gang auf und ab ging und wie ein Hund den Boden beschnüffelte.

Immer noch roch es untrüglich nach Fäkalien.

„Willst du dich dann etwa scheiden lassen von deinem Hausdrachen? Du wärst doch der Letzte, der seine goldenen Handschellen gegen ein Singledasein eintauschen würde. Außerdem liegt der Sachverhalt in deinem Falle etwas anders als bei mir. Du hast nämlich Kinder, mein Freund. Ich kann am Abend meine Wohnungstüre mit ruhigem Gewissen aufsperren und bin froh darüber, dass mich lediglich das Echo der leeren Räume begrüßt. Du hingegen“, er stellte sich wieder neben ihn und schwenkte den Kaffeebecher in Edgars Richtung, „du würdest wahrscheinlich nicht einmal den Schlüssel im Schloss umdrehen, wenn du nicht wüsstest, dass deine zwei Töchter warten.“

„Na, da täusch dich mal nicht“, konterte Edgar, während er andächtig seinen Ehering auf dem Finger hin und her schob. „Vielleicht steuert mein Leben in der nächsten Zeit schon in eine andere Richtung.“

„Wie meinst du das? Hast du etwa ein neues Leben vererbt gekommen?“, lachte Tristan laut auf und verschüttete beinahe seinen Kaffee.

Dabei streckte er seine Hände in die Höhe, als wolle er ein Stoßgebet für seinen Kollegen in den Himmel schicken.

„Deine neue Richtung heißt höchstens Hinrichtung. Im Gefangenenlager, das sich Ehehafen nennt“, grinste er ihn an, „und das war es dann auch schon für dich.“

Edgar überlegte einen Moment lang. Sollte er es ihm erzählen? Sollte er ihm anvertrauen, was sich heute Morgen bei ihm zugetragen hatte? Dass er ganz offensichtlich vorhatte, seiner Frau die Treue zu brechen? Oder sollte er seinen Freund unbehelligt lassen und das kleine Geheimnis für sich behalten? Schließlich kannte er seine Lydia ja auch. Etwa von dem einen oder anderen Besuch bei ihnen zuhause oder von diversen Firmenfeiern. Ein unachtsames Wort von ihm und schon hätte sie ihn bei den sprichwörtlichen Eiern und würde so schnell nicht loslassen. Sie würde ihm drohen, vorerst mit den Kindern zu ihren Eltern nach Traun zu ziehen. Dann stünde unweigerlich die Auflösung des extra eingerichteten Familienkontos im Raum. Als nächsten Schritt würde sie ihre Verwandtschaft und den Freundeskreis gegen ihn mobilisieren. Und dann, wenn die Wellen von ihr hochgepeitscht waren, dann würde sie darauf reiten und ihn langsam unter sich begraben. Wieder und wieder. Bis er keine Kraft mehr hätte und irgendwann kläglich unter ihnen ersaufen würde. Die Wellen, die niemals brachen - seine letztliche Hinrichtung.

Und dennoch. Trotz dieser unliebsamen Möglichkeit, trotz des Unbehagens, das er beim Gedanken an all das verspürte, brach es mit einem Mal aus ihm heraus.

„Hör mir zu, wenn du mir hoch und heilig versprichst, dass du deine Klappe hältst, dann sage ich dir, was gerade so läuft bei mir.“

„Als ob dein Leben so interessant wäre, dass es sich lohnen würde, darüber mit anderen zu reden“, gab Tristan sich fast verärgert und öffnete den Eimer für den Plastikmüll. „Du kannst von Glück reden, dass du überhaupt jemanden hast dem du deinen Kram andrehen kannst. Und außerdem, mein Freund“, er zeigte auf den Mistkübel, „kannst du deine Schuhe gleich mit meinem Becher mitentsorgen. Du bist nämlich in Hundescheiße getreten. Daran besteht kein Zweifel. Der bestialische Gestank, der von deinen Sneakers ausgeht und die braunen Spuren hier am Fliesenboden bezeugen es.“

Er sah ihn angeekelt dabei an und hielt sich die Nase zu.

„Ja, ja“, wiegelte Edgar verlegen ab, ehe er ein Stück weit zurücktrat, „ich bin da draußen wahrscheinlich irgendwo hineingetreten. Ich werde es dann auch gleich abwaschen. Aber das ist momentan meine geringste Sorge.“

„Na, das glaube ich dir aufs Wort. Wer freiwillig mit Kacke an den Schuhen herumläuft, der hat wirklich ganz andere Probleme“, entgegnete Tristan zynisch. „Also, was gibt es?“

„Tristan, ich habe einfach genug“, hielt es ihn nun nicht mehr länger. „Ich habe heute Morgen beschlossen auf eine Kontaktanzeige in der Zeitung zu antworten. Und zwar mit dem festen Willen mich im Erfolgsfall sogar mit der Person zu treffen. Ich weiß zwar nicht, ob sie Interesse an mir hat. Mein Bauchgefühl sagt mir aber, dass sie sich bei mir melden wird.“

Die erste zentnerschwere Last fiel von seinen Schultern. Es war gesagt. Und mit jedem Wort fühlte er sich mehr und mehr erleichtert. Jetzt hielt ihn nichts mehr.

„Sie ist ein bisschen jünger als ich und wohnt ganz in der Nähe. Und glaub mir, sie sieht echt gut aus in diesem roten Kleid“, sprudelte es nur so aus ihm heraus. „Sie hat auch die gleichen Interessen. Ich habe ihre Annonce gelesen und ihr ohne zu Zögern geantwortet. Das bedeutet doch etwas, oder? Ich habe ihr zwar ein grundlegendes Detail verheimlicht, nämlich dass ich verheiratet bin, aber das tut eigentlich nichts zur Sache. Was zählt, ist, dass es mir beim Schreiben beinahe egal war, ob Lydia oder die Kinder es mitbekommen hätten.“

Tristans Mund stand weit offen. Ungläubig sah er Edgar an:

„Bist du irre, Mann? Was redest du da für einen Müll?“

„Das ist kein Müll, das ist das Resultat der letzten drei Jahre Ehe. Die waren Müll. Doch sogar auf einem Scheißhaufen können Blumen wachsen. Das sagst du doch selbst immer. Wieso also nicht auf meinem Haufen?“, rechtfertigte er sich energisch. „Es geht mit Lydia so einfach nicht mehr weiter. Ich bin sogar schon so weit auf die Kinder zu verzichten und zu einem dieser Weekend Daddys zu mutieren. Doch dass mir das mit dieser Anzeige nun passiert ist, das scheint wie höhere Gewalt. Vielleicht ist es meine Chance eine letzte Wende in meinem Leben hinzulegen und alles viel entspannter zu betrachten.“

„Sag mal, du redest ja, als wärst du mit dieser Annoncenperson bereits jahrelang zusammen und ihr stündet kurz vor der Hochzeit. Sie hat dir doch noch nicht einmal geantwortet, geschweige denn, dich um ein einziges Treffen gebeten, du Vollpfosten!“, hallte es durch den Gang.

Tristan konnte nicht glauben, was er da hörte. Dass die Gedanken seines Freundes so kurz griffen, hätte er nicht erwartet. Nicht von ihm.

„Du setzt eure langjährige Ehe aufs Spiel wegen einem Hirngespinst aus einer Zeitung? Wie kaputt muss man überhaupt sein, dass man sich in ein Foto verliebt? Du bist ja schon wie Christopher aus dem Verkauf. Der denkt auch, dass die Nutten am Pfarrplatz in ihn verliebt sind, nur weil die eine oder andere ihn bereits beim Vornamen anspricht. Kunststück, wenn man seit mehr als zwei Jahren seine Kohle dort verprasst. Und du“, Tristan visierte ihn scharf an, „du bist noch eine Spur dämlicher als dieser Typ. Du willst ja scheinbar ganz hochoffiziell mit Bomben und Granaten deine Ehe zerstören.“

„Wenn du deinen verdammten Mund hältst“, entgegnete Edgar forsch, „dann wird Lydia mit Sicherheit nichts erfahren. Ich habe nicht vor alles an die große Glocke zu hängen. Du bist der Einzige, den ich bei der ganzen Sache ins Vertrauen gezogen habe. Und wer weiß“, er biss sich etwas wegstehende Haut von den Lippen, „vielleicht schreibt sie ja wirklich gar nicht zurück. Dann wäre die Geschichte ohnedies vom Tisch und im Grunde genommen wäre nie etwas passiert. Also heißt es vorerst nur abzuwarten und die Klappe zu halten.“

Er warf seinem Kollegen einen mahnenden Blick zu. Dann trank er seinen Becher leer.

„Wie heißt sie denn eigentlich, deine große Zeitungsliebe?“, fragte Tristan noch spöttisch nach.

„Romana heißt sie. Romana mit dem roten Kleid.“

Tristan lachte höhnisch auf.

„Romana mit dem roten Kleid und Edgar, der Stinkstiefel. Na, wenn das sich nicht nach einem Traumpaar anhört, dann weiß ich auch nicht weiter.“

Er streckte seinen Daumen nach oben und erwiderte Edgars strengen Blick.

„Geh dir lieber deine Schuhe waschen, du billiger Casanova, bevor du dir den nächsten Scheiß eintrittst.“

Dann drehte er sich kopfschüttelnd um und ließ Edgar einfach stehen.

Die Breitseite des Lebens

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